Neoliberale Politik versagt in der Krise
Die COVID-19-Pandemie verdeutlicht neuerlich die Grenzen und Widersprüche neoliberaler Politik. Damit wird sie immer mehr zum Hemmschuh für ein zukunftsfähiges Wirtschaften post Corona. Darauf deutet nicht zuletzt die Krise globaler Governance-Mechanismen hin, wie zuletzt das De-facto-Scheitern des Klimagipfels von Glasgow, der drastische Bedeutungsverlust der Welthandelsorganisation WTO und – vielleicht am wichtigsten – die sich verschärfende systemische Rivalität zwischen den USA und China. Gerade die Renaissance der Geopolitik droht die dringend gebotene internationale Zusammenarbeit mit machtstrategischen Überlegungen zu blockieren.
Vor diesem Hintergrund brechen zunehmend die Grundlagen für die wirtschaftspolitische Dogmatik der letzten drei Jahrzehnte weg. Das Modell der sogenannten „Hyperglobalisierung“ ist gerade auch in der Finanzkrise 2007/08 und der COVID-19-Krise selbst zum Krisenfall geworden. Diese war vornehmlich darauf ausgerichtet, über die Schaffung einheitlicher internationaler Rahmenbedingungen (level playing field) die weltwirtschaftliche Integration zu befördern. Auf dieser Basis verfolgten Unternehmen international ausgerichtete Expansionsstrategien entlang globaler Wertschöpfungsketten. Die räumliche Fragmentierung von Fertigungsprozessen in Kombination mit der Minimierung von Zulieferern und Lagerhaltung durch Just-in-time-Produktion und die Beschleunigung von Logistik und Transport stehen paradigmatisch für dieses Produktionsmodell. COVID-19 hat zuletzt deutlich gezeigt, dass regionale Cluster und eine geringe Anzahl von Zulieferern sowie globale Just-in-time-Produktionsmodelle störungsanfällig sind. In der Krise kommt es zu Produktions- und Lieferunterbrechungen. Logistik und Transport stocken.
Trotz liberaler internationaler Handelsregeln haben gerade Industrie- und Schwellenländer Exportbeschränkungen für kritische Güter eingeführt und Unternehmen dazu angehalten, prioritär den einheimischen Bedarf zu decken. Im Krisenfall ist eben jeder Regierung das Hemd näher als die Hose. Soll heißen, die nationale (Versorgungs-)Sicherheit hat oberste Priorität. Auch wenn verschiedene Untersuchungen für die Europäische Union und Österreich zeigen, dass diese Lieferunterbrechungen bzw. Importabhängigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Gütern betreffen – je nach Untersuchung geht es um mehrere hundert Güter –, so handelt es sich dabei zweifelsohne um für die Versorgungssicherheit kritische Güter, vor allem im Bereich der medizinischen und pharmazeutischen Versorgung. Dazu gehören Masken und medizinische Schutzausrüstung (z. B. Handschuhe), aber auch Medikamente wie Antibiotika.
Häufigkeit von Versorgungskrisen wird steigen
Dazu kommt, dass die Häufigkeit von Krisenereignissen in Zukunft steigen wird. Die rezente Forschung geht davon aus, dass die Häufigkeit von Krisen und extremen Ereignissen im Zuge des Klimawandels, des Auftretens von Pandemien und politischer Ereignisse aller Voraussicht nach zunehmen wird. Ebenso wissen wir aufgrund historischer Erfahrungen, dass diese extremen Ereignisse, wenn sie eine bestimmte Größenordnung erreichen, massive volkswirtschaftliche Kosten verursachen und zu schweren gesellschaftlichen Verwerfungen führen können. Zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Infrastruktur und zur Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, wie etwa kritischen medizinischen bzw. pharmazeutischen Produkten, müssen die dafür verantwortlichen Versorgungssysteme über Puffer und Redundanzen (Doppelgleisigkeiten) verfügen, die im Krisenfall kurzfristig eingesetzt werden können. Deren Unterhalt verursacht Kosten – sowohl Investitions- als auch laufende Kosten –, die dem vorherrschenden kurzfristig orientierten Effizienzbegriff der letzten Jahrzehnte zuwiderlaufen. Auch wenn daher wirtschaftspolitische Ziele wie die Gewährleistung der Versorgungssicherheit im Krisenfall zu zusätzlichen Kosten für eine Volkswirtschaft führen, erweist sich deren Nutzen während der Krise. Dann nämlich wird ein gesellschaftlich definiertes Mindestmaß an Versorgung gewährleistet, wodurch hohe volkswirtschaftliche und soziale Schäden vermieden werden können. Eine vorausschauende Wirtschaftspolitik wird daher die heute anfallenden Kosten als Investition in die Zukunft in Kauf nehmen. Angesichts eines dramatischen Vertrauensverlusts demokratischer Politik trägt eine glaubhaft auf die Erhöhung der Versorgungssicherheit ausgerichtete Wirtschaftspolitik dazu bei, das Vertrauen der Bürger:innen in die Politik wieder zu stärken. Klar ist, dass vor dem Hintergrund der Diskussion um die strategische Autonomie der EU und auch der zunehmenden Bedeutung nachhaltiger Produktions- und Konsumptionsmodelle im Kontext des European Green Deals das Ziel der Versorgungssicherheit in der europäischen Wirtschaftspolitik an Bedeutung gewinnen wird. Eine Neubestimmung der wirtschaftlichen Rolle des Staates und von öffentlicher Versorgung ist mithin notwendig.
Versorgungssicherheit braucht geeigneten Instrumentenkasten
Wirtschaftspolitische Ziele wie Versorgungssicherheit und Resilienz von Wertschöpfungsketten erfordern auch neue Instrumente. Die europäische wie österreichische Wirtschaftspolitik wird in diesem Zusammenhang auf den im letzten unserer vier Forschungsberichte beschriebenen wirtschaftspolitischen Instrumentenkasten zurückgreifen müssen, um ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen. Diese reichen von unternehmerischen Sorgfaltspflichten und regulatorischen Auflagen zur Förderung der Resilienz von Lieferketten über Lagerhaltungspflichten bis zu Maßnahmen zur Stärkung lokaler Produktionskapazitäten und staatlichen Unternehmensbeteiligungen. Dabei ist klar, dass die anzuwendenden Politiken auf die spezifischen Bedingungen und Eigenheiten in den betreffenden Sektoren bzw. Produktgruppen sowie Regionen und Wertschöpfungsketten Bedacht nehmen müssen. Dementsprechend werden unterschiedliche Instrumente und Maßnahmen sowie eine Kombination aus nationalstaatlichen und europäischen Lösungen zum Einsatz kommen.