Die Corona-Krise und Engpässe in globalen Lieferketten haben eine Debatte um die Versorgungssicherheit von kritischen Gütern ausgelöst. Industriepolitische Maßnahmen zur Förderung von Reshoring-Prozessen sollten dabei eine wichtigere Rolle einnehmen.
Die Versorgungssicherheit von medizinischen und pharmazeutischen Produkten
Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen des internationalen Handels im ersten Quartal 2020 – durch Exportrestriktionen, Lockdowns usw. – haben die Anfälligkeit globaler Lieferketten für globale Krisen gezeigt. Insbesondere im Fall von kritischen Gütern, das sind zum Beispiel für die Gesundheit von PatientInnen relevante Produkte, stellt die mangelnde Resilienz globaler Produktionsnetzwerke (GPNs) und die damit gefährdete Versorgungssicherheit ein bedeutsames gesellschaftliches Problem dar.
Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Versorgungssicherheit von medizinischen und pharmazeutischen Produkten in der EU und in Österreich waren in Abhängigkeit von den sektor- und produktspezifischen GPNs höchst unterschiedlich. Auch die zuvor gut funktionierenden Lieferketten von medizinischen Produkten mit Relevanz zur Pandemiebekämpfung, wie zum Beispiel medizinische Handschuhe, Gesichtsmasken und Beatmungsgeräte, waren vor allem am Anfang der Pandemie von Engpässen geprägt. Diese wurden durch die hohe Nachfrage und Handelsbeschränkungen verursacht und hatten negative Auswirkungen auf die globale Versorgung (siehe z. B. hier und hier), auch in der EU und den USA.
Im Gegensatz dazu waren durch die Pandemie ausgelöste Engpässe für pharmazeutische Produkte in der EU sehr begrenzt. Die kurzzeitig eingeführten Exportrestriktionen durch Indien für eine Reihe von kritischen Medikamenten und Zwischenprodukten sowie Produktionsausfälle durch Lockdowns in China zeigten aber einmal mehr die geringe Resilienz der pharmazeutischen GPNs. Die Corona-Krise bewirkte vor allem, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für die sich bereits seit Jahren zuspitzenden Lieferengpässe für verschiedene pharmazeutische Produkte in der EU erhöht wurde.
Laut einem Report des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) des Europäischen Parlaments stieg die Anzahl der Engpässe von pharmazeutischen Produkten in der EU zwischen den Jahren 2000 und 2018 um das 20-Fache. Zudem zeigt eine sich in Veröffentlichung befindliche Studie der OECD, dass die Anzahl der Engpässe in 14 OECD-Ländern zwischen 2017 und 2019 um 60 Prozent gestiegen ist. Auch die Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) weist einen dramatischen Anstieg an Vertriebseinschränkungen im letzten Jahrzehnt aus (Abbildung 1). Bei diesen Untersuchungen zeigte sich, dass viele verschiedene Produkte und Produktgruppen betroffen waren, insbesondere Medikamente für Krebsbehandlungen, Herzerkrankungen, Störungen des Nervensystems, Bluthochdruck sowie Antibiotika und Impfstoffe. Daher sind auch die Ursachen für die Engpässe vielschichtig und umfassen Produktions- und Qualitätsprobleme, einen plötzlichen Nachfrageanstieg, Parallelimporte und anderes. Erst in jüngster Zeit wird auch von EU-Institutionen (z. B. im Europäischen Parlament und in der neuen Pharmaceutical Strategy der Europäischen Kommission) die Zunahme der Engpässe in Verbindung mit den Globalisierungs- und Auslagerungsprozessen der pharmazeutischen Industrie in den letzten Jahrzehnten diskutiert.