Im Abseits der Arbeitsgesellschaft: Entmutigte Frauen in der „stillen Reserve“

16. Oktober 2023

Arbeitslosigkeit wird in Österreich systematisch unterschätzt. Rund ein Viertel aller Arbeitslosen scheinen in keiner Arbeitslosenstatistik auf. Eine aktuelle SORA-Studie hat sich genauer angeschaut, warum Frauen in der sogenannten „stillen Reserve“ keine Arbeit suchen, obwohl sie erwerbstätig sein wollen. Sie belegt anschaulich, dass die Gründe dafür nicht bei den arbeitslosen Frauen liegen, sondern in der Verfasstheit des Arbeitsmarktes, der diese Frauen an den Rand drängt.

Natürlich will ich wieder arbeiten“, antwortet Inga (die Namen der Interviewten sind geändert), lacht auf und deutet mit dem Finger auf sich: „Ich bin ja nach Österreich gekommen, um zu arbeiten!“ Ein paar Sekunden später sinkt sie zurück in ihr Sofa, hebt die Schultern und ergänzt leise: „Aber dieses Mal hoffentlich gute Arbeit? Da, wo die Menschen nett sind auch?

Inga ist eine von zwölf Frauen, die wir letztes Jahr für eine Studie im Auftrag der Arbeiterkammer Wien besucht und interviewt haben. Sie ist 43 Jahre alt, wohnt mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in einem Wiener Außenbezirk und ist seit zwei Jahren arbeitslos. Bis dahin hat Inga als Masseurin gearbeitet, die Kündigung im ersten Lockdown 2020 war ein Schock für sie. Viel mehr aber machte Inga der Gedanke zu schaffen, sich wieder beim AMS melden zu müssen. Ingas Mann sagt ihr jetzt: „Bleib bei den Kindern zu Hause. Geht sich aus.“ Inga ist erleichtert. Auch wenn sie eigentlich gerne wieder einen neuen Job hätte, meldet sie sich nicht als arbeitssuchend.

Damit gehört Inga zum Zeitpunkt unseres Interviews nicht mehr zu jenen 296.353 Arbeitslosen, von denen der Arbeitsminister spricht. Denn Inga wird in der offiziellen Arbeitslosenstatistik gar nicht mitgezählt. Vielmehr zählt Inga zu jener Gruppe, die man im Englischen „discouraged workers“ und auf Deutsch „stille Reserve“ nennt. Es sind Menschen, die zwar grundsätzlich arbeitsfähig sind, jedoch nicht aktiv am Arbeitsmarkt teilnehmen können. Der Begriff verweist auf Marx‘ „industrielle Reservearmee“, also jene disponiblen Arbeitslosen, die auf der Kehrseite des kapitalistischen Akkumulationsprozesses stehen; im Abseits, wo sie gezwungenermaßen als Konkurrenz zur Arbeiterschaft herhalten müssen und den Unternehmen gleichzeitig als Reserve dienen, auf die schnell und billig zurückgegriffen werden kann. Genau wie „offiziell“ Arbeitslose gehen auch Menschen in der „stillen Reserve“ keiner Erwerbsarbeit nach, könnten innerhalb von zwei Wochen einen Job aufnehmen und wünschen sich einen neuen Job. Der einzige Unterschied: Menschen in der „stillen Reserve“ haben sich in den letzten Wochen für keinen Job beworben. Der Begriff der „stillen Reserve“ erweist sich aber als gleich doppelt falsch: Weder sind diese Menschen eine „Reserve“ – sie wurden von Wirtschaft und Arbeitsmarktpolitik bislang weitestgehend ignoriert – noch sind sie „still“. Man müsste ihnen nur zuhören.

Statistisch annähern kann man sich dieser Gruppe mit den Daten der Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria. Demnach zählten 2020 im Schnitt rund 117.000, 2021 und 2022 rund 84.000 Menschen zur „stillen Reserve“. Hätte man diese Menschen in die offizielle Arbeitslosenstatistik miteinbezogen, hätte sich die Arbeitslosenquote zwischen 2020 und 2022 im Schnitt um 2,4 Prozentpunkte und in manchen Quartalen sogar um mehr als 4 Prozentpunkte erhöht. Frauen stellten zu fast allen Zeitpunkten die Mehrheit. Unter Müttern und unter Frauen mit Migrationshintergrund hat sich die Problematik seit 2020 verfestigt.

Die Statistik Austria hat im Frühjahr 2023 ihre Definition der „stillen Reserve“ – jener von Eurostat folgend – geändert. Die neue Definition erfasst nun auch jene arbeitslosen Menschen, die eine Arbeit suchen, aber nicht kurzfristig zur Verfügung stehen können (stille Reserve, nicht verfügbar). Damit kommen weitere 72.400 arbeitslose Menschen im Jahr 2022 hinzu, denen die Arbeitsmarktpolitik ebenfalls – insbesondere vor dem Hintergrund offenkundiger Barrieren für eine Arbeitsaufnahme – mehr Aufmerksamkeit schenken sollte als bisher.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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So wie Inga haben die meisten Interviewpartnerinnen im Verlauf des ersten Jahres der Corona-Pandemie ihren Job verloren. Von den zwölf interviewten Frauen haben nur vier von sich aus ihren Job aufgegeben, zwei davon mussten aus Krankheitsgründen aufhören. Fast alle Frauen waren vor der Arbeitslosigkeit im Dienstleistungssektor beschäftigt, manchmal in zwei oder drei Jobs gleichzeitig. „Also, das waren manchmal schon schwierige, sehr, sehr anstrengende Jobs, hart, ja“, erinnert sich Inga.Putzen war das schwerste. Und der Chef immer unzufrieden, immer sollte ich schneller und noch mehr. (…) Ich habe gearbeitet und ich habe allen geholfen, wenn sie Hilfe gebraucht haben, aber wenn ich Hilfe gebraucht hatte, war fast niemand da.“ Die Erwerbsbiografien der früheren Kassiererinnen, Kellnerinnen, Friseurinnen, Pflegerinnen, Flugbegleiterinnen, Rezeptionistinnen, Lehrerinnen, Qualitätsmanagerinnen und Logistikerinnen sind geprägt von unregelmäßigen Arbeitszeiten, emotional und körperlich belastenden Arbeitsbedingungen, Niedriglohn, Konflikten mit Vorgesetzten, nicht vorhandenen Mitsprachemöglichkeiten, Abwertungserfahrungen, Ausgrenzung, Diskriminierung und sexuellen Übergriffen. Aus einer Studie zur „stillen Reserve“ wurde somit auch eine Studie über die Arbeitsrealitäten von Frauen in Österreich heutzutage, insbesondere im niedrig entlohnten Segment des Dienstleistungssektors. Diese negativen Erfahrungen in der Arbeitswelt sind aber entscheidend zum Verständnis der Motive dieser Frauen, vorerst nicht nach neuer Erwerbsarbeit zu suchen, auch wenn sie sich für irgendwann wieder neue Arbeit wünschen.

Dieser Arbeitswunsch äußert sich unterschiedlich, und genauso unterschiedlich erleben die interviewten Frauen ihre Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit erhöht den finanziellen Druck. Arbeitslosigkeit berührt aber auch das Selbstwertgefühl negativ, wie im Fall von Teréz, die die Arbeitssuche zwar bald wieder aufnehmen möchte, sich aber aufgrund ihres Alters kaum Chancen ausrechnet: „Und ich habe irgendwie die Panik, dass ich nie mehr wirklich dazugehören werde.“ In anderen Fällen stellt die Arbeitslosigkeit eine notwendige Auszeit dar, insbesondere bei Erkrankungen. Andere Frauen wiederum widmen ihre Arbeitslosigkeit um, indem sie andere Tätigkeiten übernehmen. Sie empfinden sich mit der Zeit nicht mehr als arbeitslos, sondern als jemand, die nun den kranken Vater pflegt oder sich Vollzeit um die Kinder kümmert. Wann diese Frauen wieder nach einem neuen Job suchen werden, ist am unklarsten.

Die Geschichten der interviewten Frauen stellen keine Einzelfälle dar. Ihre Gemeinsamkeit entwächst aus ihren Erfahrungen in der Arbeitswelt. Keine andere Erwerbsklasse erlebt so viele erzwungene Jobwechsel wie die neue „Service Class“, die zu drei Vierteln aus Frauen besteht. Laut Arbeitsklima-Index (2023, Eigenauswertung) war die Hälfte aller Dienstleistungsarbeiterinnen schon einmal arbeitslos; 60 Prozent kommen mit dem Einkommen nur schwer, 15 Prozent gar nicht aus – drei von vier arbeiten aber in Vollzeit. Der Anteil an geringfügigen oder befristeten Beschäftigungsverhältnissen liegt laut Arbeitskräfteerhebung doppelt bis dreimal so hoch wie in anderen Erwerbsklassen. Ein Drittel arbeitet auf Abruf oder zu unregelmäßigen Arbeitszeiten abends oder am Wochenende. Die meisten Beschäftigten in der neuen „Service Class“ sehen keine Aufstiegs- oder Entwicklungsmöglichkeiten in ihren Berufen. Mehr als jede zehnte Frau in diesem unteren Dienstleistungssektor erlebte in den letzten drei Jahren sexuelle Belästigung in der Arbeit.

Es sind auch jene Berufe, die gemeint sind, wenn es heißt: Frauen sollen in Zukunft mehr Stunden und mehr Jahre arbeiten. Man muss diesen politischen Forderungen Ingas Zweifel nach 23 Jahren Erwerbsarbeit entgegenhalten: „Aber dieses Mal hoffentlich gute Arbeit?“. Vor dem Hintergrund der in Summe 894 Minuten Interviews mit diesen entmutigten Frauen sind Statements, die von „Anreizen“ sprechen und gleichzeitig die zentrale Stellschraube – den österreichischen Arbeitsmarkt und seine Arbeitsbedingungen – außer Acht lassen, umso mehr zu skandalisieren. Höhere Löhne, gesunderhaltende Arbeitsbedingungen, planbare Arbeitszeiten, Mitsprachemöglichkeiten und Entwicklungsperspektiven sowie ein verbesserter Schutz vor Diskriminierung und sexuellen Übergriffen wären die eigentlichen Anreize, die sich entmutigte Frauen im Abseits der Arbeitsgesellschaft verdient hätten.

Was ist daher zu tun?

  • Anhebung des kollektivvertraglichen Mindestlohns in allen Branchen auf 2.000 Euro brutto pro Monat.
  • AMS und Politik müssen einen Fokus auf die Gruppe der entmutigten Frauen legen und sie gezielt ansprechen und fördern. Es braucht Beratungs- und Qualifizierungsangebote des AMS ohne Druck auf Vermittlung in den nächsten prekären Job. Vermittlungshemmnisse müssen beseitigt werden.
  • Ausbau der Kinderbetreuung und Kinderbildung – es braucht eine Milliarde Euro mehr pro Jahr für mehr Plätze, längere Öffnungszeiten sowie einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten Geburtstag des Kindes.
  • Verbesserung der Arbeitsbedingungen, denn alle Beschäftigten verdienen einen respektvollen Umgang. Die Betriebe sind aufgefordert, Maßnahmen für bessere, gesunde und altersgerechte Jobs zu ergreifen, die ein würdevolles, existenzsicherndes und gesundes Arbeiten bis zur Pension ermöglichen.

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