Arbeitslosigkeit wird in Österreich systematisch unterschätzt. Rund ein Viertel aller Arbeitslosen scheinen in keiner Arbeitslosenstatistik auf. Eine aktuelle SORA-Studie hat sich genauer angeschaut, warum Frauen in der sogenannten „stillen Reserve“ keine Arbeit suchen, obwohl sie erwerbstätig sein wollen. Sie belegt anschaulich, dass die Gründe dafür nicht bei den arbeitslosen Frauen liegen, sondern in der Verfasstheit des Arbeitsmarktes, der diese Frauen an den Rand drängt.
„Natürlich will ich wieder arbeiten“, antwortet Inga (die Namen der Interviewten sind geändert), lacht auf und deutet mit dem Finger auf sich: „Ich bin ja nach Österreich gekommen, um zu arbeiten!“ Ein paar Sekunden später sinkt sie zurück in ihr Sofa, hebt die Schultern und ergänzt leise: „Aber dieses Mal hoffentlich gute Arbeit? Da, wo die Menschen nett sind auch?“
Inga ist eine von zwölf Frauen, die wir letztes Jahr für eine Studie im Auftrag der Arbeiterkammer Wien besucht und interviewt haben. Sie ist 43 Jahre alt, wohnt mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in einem Wiener Außenbezirk und ist seit zwei Jahren arbeitslos. Bis dahin hat Inga als Masseurin gearbeitet, die Kündigung im ersten Lockdown 2020 war ein Schock für sie. Viel mehr aber machte Inga der Gedanke zu schaffen, sich wieder beim AMS melden zu müssen. Ingas Mann sagt ihr jetzt: „Bleib bei den Kindern zu Hause. Geht sich aus.“ Inga ist erleichtert. Auch wenn sie eigentlich gerne wieder einen neuen Job hätte, meldet sie sich nicht als arbeitssuchend.
Damit gehört Inga zum Zeitpunkt unseres Interviews nicht mehr zu jenen 296.353 Arbeitslosen, von denen der Arbeitsminister spricht. Denn Inga wird in der offiziellen Arbeitslosenstatistik gar nicht mitgezählt. Vielmehr zählt Inga zu jener Gruppe, die man im Englischen „discouraged workers“ und auf Deutsch „stille Reserve“ nennt. Es sind Menschen, die zwar grundsätzlich arbeitsfähig sind, jedoch nicht aktiv am Arbeitsmarkt teilnehmen können. Der Begriff verweist auf Marx‘ „industrielle Reservearmee“, also jene disponiblen Arbeitslosen, die auf der Kehrseite des kapitalistischen Akkumulationsprozesses stehen; im Abseits, wo sie gezwungenermaßen als Konkurrenz zur Arbeiterschaft herhalten müssen und den Unternehmen gleichzeitig als Reserve dienen, auf die schnell und billig zurückgegriffen werden kann. Genau wie „offiziell“ Arbeitslose gehen auch Menschen in der „stillen Reserve“ keiner Erwerbsarbeit nach, könnten innerhalb von zwei Wochen einen Job aufnehmen und wünschen sich einen neuen Job. Der einzige Unterschied: Menschen in der „stillen Reserve“ haben sich in den letzten Wochen für keinen Job beworben. Der Begriff der „stillen Reserve“ erweist sich aber als gleich doppelt falsch: Weder sind diese Menschen eine „Reserve“ – sie wurden von Wirtschaft und Arbeitsmarktpolitik bislang weitestgehend ignoriert – noch sind sie „still“. Man müsste ihnen nur zuhören.
Statistisch annähern kann man sich dieser Gruppe mit den Daten der Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria. Demnach zählten 2020 im Schnitt rund 117.000, 2021 und 2022 rund 84.000 Menschen zur „stillen Reserve“. Hätte man diese Menschen in die offizielle Arbeitslosenstatistik miteinbezogen, hätte sich die Arbeitslosenquote zwischen 2020 und 2022 im Schnitt um 2,4 Prozentpunkte und in manchen Quartalen sogar um mehr als 4 Prozentpunkte erhöht. Frauen stellten zu fast allen Zeitpunkten die Mehrheit. Unter Müttern und unter Frauen mit Migrationshintergrund hat sich die Problematik seit 2020 verfestigt.
Die Statistik Austria hat im Frühjahr 2023 ihre Definition der „stillen Reserve“ – jener von Eurostat folgend – geändert. Die neue Definition erfasst nun auch jene arbeitslosen Menschen, die eine Arbeit suchen, aber nicht kurzfristig zur Verfügung stehen können (stille Reserve, nicht verfügbar). Damit kommen weitere 72.400 arbeitslose Menschen im Jahr 2022 hinzu, denen die Arbeitsmarktpolitik ebenfalls – insbesondere vor dem Hintergrund offenkundiger Barrieren für eine Arbeitsaufnahme – mehr Aufmerksamkeit schenken sollte als bisher.