Warum Österreich die Notstandshilfe unbedingt erhalten sollte – Teil II

04. Oktober 2018

Die Notstandshilfe sollte unbedingt erhalten bleiben, da die radikalen Hartz-Reformen nicht nur zu großen Nachteilen für die Betroffenen führten, sondern vor allem zur Polarisierung auch unter Arbeitslosen sowie zwischen Stamm- und Randbelegschaften. Darüber hinaus ist in Deutschland ein arbeitsmarktpolitischer Flickenteppich entstanden, der nicht in der Lage ist, die Herausforderungen am Arbeitsmarkt zu bewältigen.

1.            Soziale Ausgrenzung und Polarisierung sind eher gewachsen

Trotz hoher Arbeitsmotivation können viele auf dem Arbeitsmarkt nicht dauerhaft Fuß fassen und den Leistungsbezug längerfristig überwinden. Hartz-IV-BezieherInnen, die 2013 aus der Arbeitslosigkeit heraus eine neue Beschäftigung fanden, waren in den letzten fünf Jahren insgesamt mindestens fünfmal beschäftigt. Schlecht bezahlte Jobs bahnen nur sehr wenigen Hartz-IV-BezieherInnen den Weg in eine stabile Beschäftigung, von der sich ohne Stütze leben lässt. Je länger sich Arbeitskräfte im Umfeld prekärer Beschäftigung befinden, umso schwieriger ist es, den Kreislauf von instabilen Jobs, Arbeitslosigkeit und Hartz-IV-Bezug zu überwinden. Kommen Krankheit oder andere Vermittlungshemmnisse hinzu, erhöht sich die Schwelle zum Arbeitsmarkt immer weiter. Das wiederum kann resignative Tendenzen fördern. Die Polarisierung auch unter den FürsorgeempfängerInnen schreitet fort. Denn es gibt eine relativ große Gruppe, deren letzte Beschäftigung oder arbeitsmarktpolitische Förderung bereits mehrere Jahre zurückliegt. Nicht wenige Betroffene empfinden sich als abgeschrieben und überflüssig. Arbeitslosigkeit und Armut bedeuten nicht allein, zu wenig Geld zu haben, sondern gehen oft auch mit den Gefühlen von Ohnmacht und Ausgeschlossenheit einher.

2.            Viele können von ihrer Arbeit nicht leben

Trotz Erwerbstätigkeit bleiben in Deutschland viele Beschäftigte bedürftig. Nur in der Hälfte aller Fälle führt die Beschäftigung zu einem (vorübergehenden) Ende des Leistungsbezugs. In Deutschland gibt es aktuell fast 1,1 Mio. Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit aufstockende Hartz-IV-Leistungen erhalten; demgegenüber waren 1,55 Mio. arbeitslos. Von allen staatlichen HilfeempfängerInnen waren Ende 2017 mehr als ein Viertel erwerbstätig. Gut die Hälfte von ihnen geht einer sozialversicherten Beschäftigung nach (588.000) und fast ebenso viele waren geringfügig beschäftigt. In einigen Branchen gibt es sehr viele Arme trotz Arbeit. So sind sozialversicherte Beschäftigte in der Leiharbeit rund zehnmal so häufig auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen wie Beschäftigte in der Industrie. Im Gastgewerbe und bei Reinigungsberufen ist das Hartz-IV-Risiko für Beschäftigte noch höher. Der gesetzliche Mindestlohn hat die Zahl der sozialversicherten „AufstockerInnen“ nicht nachhaltig senken können, da er allein für größere Haushalte und bei steigenden Mietkosten das Existenzminimum nicht immer sicherstellen kann. Um das Existenzminimum für Beschäftigte mit sozialversichertem Job sicherstellen zu können, mussten 2017 5,1 Mrd. Euro an Steuergeldern aufgewandt werden, rund 30 Prozent mehr als noch 2007. Der Staat subventioniert so insbesondere schlecht bezahlte Arbeit in einigen Branchen.

3.            Benachteiligte werden arbeitsmarktpolitisch weniger gefördert

Trotz des höheren Unterstützungsbedarfs werden Hartz-IV-BezieherInnen seltener gefördert als im Versicherungssystem. Insbesondere nach 2010 wurden hier die Fördermittel für Langzeitarbeitslose fast halbiert. Einige Korrekturen in jüngster Zeit haben nichts daran geändert, dass auch Mitte 2018 in der Arbeitslosenversicherung noch deutlich mehr Arbeitslose gefördert wurden als im letzten Netz der sozialen Sicherung. Zugleich kommt kurzfristigen Maßnahmen – wie den sogenannten Ein-Euro-Jobs – eine große Bedeutung zu, die die Eingliederung nicht nachhaltig verbessern können. Die Unterstützung und Förderung von Menschen mit Behinderung ist im Fürsorgesystem heute eher noch schlechter als früher für die BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe. Bei der beruflichen Weiterbildung werden selbst dann, wenn die Vermittler nach einem Profiling einen „konkreten Förderbedarf“ feststellen, in der Arbeitslosenversicherung im Schnitt etwa 1,5-mal mehr Mittel eingesetzt als beim Hartz-IV-System.

4.            Arbeitsmarktpolitischer Flickenteppich droht

Bei einer Abschaffung der Notstandshilfe entstehen neue Schnittstellen, die mit Reibungsverlusten und Nachteilen für Erwerbslose verbunden sind. In Deutschland wurden zwar die unterschiedlichen Regelungen zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe beseitigt, doch der Graben zwischen Versicherungs- und Fürsorgesystem deutlich vergrößert. Die häufig wechselnde Lebenssituation von Arbeitslosen oder NiedriglohnempfängerInnen – aber auch von im Haushalt lebenden Personen – kann schnell dazu führen, dass die Unterstützung durch die Versicherung bzw. das letzte soziale Netz ständig wechselt. Die Leistungsgewährung wird so komplizierter und personalintensiver. Die Vielzahl neuer Schnittstellen und bürokratischer Regelungen geht in Deutschland mit Effizienzverlusten einher. Wie problematisch die Auswirkungen dieses neu geschaffenen organisatorischen Flickenteppichs sind, zeigt exemplarisch die Ausbildungsvermittlung junger Menschen. So können die Kinder von erwerbstätigen Armen zwar die Berufsberatung der Arbeitslosenversicherung aufsuchen, bei der konkreten Vermittlung einer Ausbildungsstelle werden sie vom Gesetz aber auf das Fürsorgesystem verwiesen, während die Kinder reicher Eltern durchgängig von der Versicherung betreut werden, selbst wenn diese keine Arbeitslosenbeiträge entrichten.

5.            Negative Rückwirkung auf Beschäftigte

Eine Abschaffung der Notstandshilfe entfaltet ihre abschreckende Wirkung auch in der Mitte der Arbeitswelt. Denn für Beschäftigte wird es zur Bedrohung, bei Verlust des Arbeitsplatzes schnell von staatlicher Fürsorge leben, eigene Rücklagen aufbrauchen und jeden Job annehmen zu müssen. Hartz IV und der Abbau von Schutzstandards für Arbeit zeigen die reale Gefahr eines sozialen Abstiegs. Diese Abschreckungseffekte sind mit Ursache dafür, dass freiwillige Arbeitsplatzwechsel tendenziell abnehmen und Kernbelegschaften eher länger an einem Arbeitsplatz bleiben und vor Arbeitsplatzwechsel zurückschrecken. Berufliche Aufstiegschancen verringern sich und dadurch auch die Eintrittschancen für bisher benachteiligte Arbeitslose, die nicht mehr nachrücken können. Bei Beschäftigten wie der Bevölkerung insgesamt ist die Angst weitverbreitet, auf Hartz IV angewiesen zu sein.

6.            Gewerkschaftliche Verhandlungsmacht wird geschwächt

Traditionelle Risiken der Unternehmen – z. B. bei Produktionsschwankungen – werden mehr und mehr auf ArbeitnehmerInnengruppen bzw. das soziale Sicherungssystem verlagert. NiedriglöhnerInnen und prekär Beschäftigte tun sich sehr schwer bezüglich einer gewerkschaftlichen Organisierung und nehmen schlechte Arbeits- und Entlohnungsbedingungen – mangels Alternativen – schnell klaglos in Kauf; sie wollen sich die Chance nicht verbauen, irgendwann auf bessere Stellen im Betrieb wechseln zu können. Manchmal sind sie sogar übereifrig und können so die „Preise“ für die Kernbelegschaften gefährden. Prekarisierung und Hartz IV disziplinieren nicht nur, sondern spalten auch. Dies kann zur ständigen Mahnung auch für Festangestellte werden, nicht auf die Einhaltung oder gar Verbesserung arbeitsrechtlicher Schutzregelungen zu bestehen oder sich für bessere Entlohnung zu engagieren. Das deutlich niedrigere Einkommens- und Schutzniveau von Teilen der Belegschaft schüchtert ein und erschwert gewerkschaftliches Handeln. Mit dem steigenden Lohngefälle zwischen gewerkschaftlich gut und schlecht organisierten Branchen steigt das unternehmerische Interesse an einer Flucht aus den Branchentarifverträgen und an betrieblichen Outsourcingstrategien, soweit Betriebsteile in Niedriglohnbranchen verlagert werden können. Vormals stabile Entlohnungsstrukturen und Schutzmechanismen wie tarifliche oder arbeitsrechtliche Bestimmungen, Arbeitszeitregeln werden schleichend ausgehöhlt. Geschwächt wurden ebenso die Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Arbeitsmarktpolitik; so haben die selbstverwalteten Kontrollgremien der Bundesagentur für Arbeit nicht einmal ein Informationsrecht zur Praxis des Hartz-IV-Systems, weder zur Anwendung von Sanktionen noch zum Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Mittel.

7.            Gerechtigkeitsempfinden für viele verletzt

Trotz einiger zwischenzeitlicher Korrekturen ebbt die Kritik auch 14 Jahre nach Errichtung des neuen Fürsorgesystems nicht ab. In der Tat widerspricht es weitverbreiteten Wertvorstellungen, dass nicht nur bei sehr kurzer Arbeitslosigkeit die Unterstützung an den vorherigen Lohn gekoppelt sein sollte. Bei Arbeitslosigkeit ist die Gegenleistung für langjährig gezahlte Beiträge ohnehin viel ungünstiger als bei der Rente. So befürworten denn auch gut zwei Drittel der Bevölkerung, dass die Unterstützung auch bei längerer Arbeitslosigkeit an den vorherigen Lohn gekoppelt sein sollte. Bei Abschaffung der Arbeitslosen-(Notstands-)Hilfe wird die Entkopplung aber forciert, denn die Betroffenen erhalten nur noch Leistungen, wenn sie bedürftig sind. Vormalige Erwerbsarbeit und Beitragszahlung spielen – nach kurzem Arbeitslosengeldbezug – keinerlei Rolle mehr.

Fazit

Begleitet wurde die Hartz-IV-Einführung von einer Diskussion über Leistungsmissbrauch und der Kritik an unterschiedlichen Regelungen von Sozial- und Arbeitslosenhilfe. Darin wurde eine unsinnige Dopplung staatlicher Regelungen gesehen, die eine schnelle Integration erschwere. Die scheinbare Privilegierung von Menschen mit langer Erwerbsbiografie wurde so zum zentralen ökonomischen und sozialen Hindernis erklärt. Der eingeleitete Systemwechsel geht weit über die Einkommenseinbußen für die Betroffenen hinaus. Er verändert die Spielregeln auf dem Arbeitsmarkt und fördert die Ausbreitung von Niedriglohn und prekärer Beschäftigung. Verschärft wird ebenso die Trennung in Arbeitslose erster und zweiter Klasse. Von einer sozialen und arbeitsmarktpolitischen Gleichbehandlung der Arbeitslosen kann nicht gesprochen werden. Dies zeigt sich sowohl beim Druck zur Änderung des individuellen Verhaltens und zur Annahme ungünstiger Jobs als auch bei den Chancen auf berufliche Eingliederung und Arbeitsförderung. Hartz IV ist zwar nicht alleinige Ursache für die steigende Ungleichheit und Spaltungstendenzen zwischen Stamm- und Randbelegschaften sowie der Gesellschaft insgesamt, sie wurden so aber befördert.

Das Konzept ist aber auch deshalb nicht zukunftsfähig, weil die Qualifizierung von Menschen mit geringer Qualifikation und längerer Arbeitslosigkeit vielfach vernachlässigt wird. Viel zu oft werden berufliche Abstiegsprozesse gefördert statt Weiterbildung und beruflicher Aufstieg. Zukunftsweisend wäre die entgegengesetzte Richtung. Sowohl gesellschaftspolitisch als auch volkswirtschaftlich ist es viel sinnvoller, Menschen dabei wirksam zu unterstützen, sich sozial zu stabilisieren und ihre Fähigkeiten zu entfalten, statt staatliches Geld in angstmachende Strukturen zu investieren.

Sechs weitere Gründe auf Basis der deutschen Erfahrungen zu Hartz IV (Teil I) wurden am 28. September hier am Blog veröffentlicht.

Zum Weiterlesen:

O. Nüchter, A. Schmid (2012): Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik. Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung für Arbeitsuchende in Deutschland, in: Bothfeld, Sesselmeier, Bogedan (Hrsg.): Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft, Wiesbaden, S. 172.