Faktencheck Lohnkonvergenz: Wächst Europa zusammen?

23. Oktober 2018

Österreich hat mit 1.259 km von allen EU-15-Staaten die längste Grenze mit den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten. Eine positive Lohnentwicklung in diesen Nachbarstaaten ist daher massiv im Interesse der österreichischen ArbeitnehmerInnen, um den Pendel- und Migrationsdruck am Arbeitsmarkt zu mildern. Vor allem aber, um den Wohlstand und damit die Nachfrage bei unseren NachbarInnen zu erhöhen. Die AK forderte daher bereits 2004 von der EU Unterstützungsmaßnahmen für das Lohnwachstum in den Nachbarstaaten, da andernfalls selbst vier Jahre nach Ende der Übergangsfristen nur Slowenien mehr als 50 Prozent des österreichischen Lohnniveaus erreichen würde. Zeit für einen Faktencheck.

Unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lagen die Löhne in den Nachbarstaaten bei einem Zehntel des österreichischen Niveaus. Das entspricht ungefähr dem Unterschied zwischen einer Lehrlingsentschädigung und einem Abgeordnetengehalt. Selbst wenn man die geringeren Preise in den Nachbarstaaten berücksichtigt, also zu Kaufkraftparitäten vergleicht, kam man nur auf ein Lohnniveau von ungefähr einem Drittel von Österreich.

Ausgangslage 2004

Bis zum EU-Beitritt unserer Nachbarstaaten im Jahr 2004 hat sich die Situation deutlich gebessert. Die Löhne zu Wechselkursen waren ab 1990 pro Jahr mit etwa sechs Prozent in Slowenien bis zwölf Prozent in der Tschechischen Republik rasch gewachsen. Allerdings erreichten sie im Jahr 2004 etwa in der Slowakischen Republik mit 340 €/Monat immer erst 17 % des österreichischen Niveaus (damals 2.000 €/Monat) und in Tschechien 23 % (470 €/Monat).

Polen, das zwar nicht an Österreich grenzt, aber aufgrund seiner Größe dennoch etwas mehr ArbeitsmigrantInnen nach Österreich stellt als die Slowakische Republik, lag mit 22 % (430 €/Monat) dazwischen.

Slowenien, das 48 % (960 €/Monat) des österreichischen Lohnniveaus erreichte, war die positive Ausnahme. Rumänien und Bulgarien, die drei Jahre später der EU beitraten, lagen selbst 2007 mit 17 % (360 €/Monat) bzw. neun Prozent (190 €/Monat) des österreichischen Lohnniveaus noch deutlich darunter.

Lohnniveau und Freizügigkeit

Angesichts der Unterschiede war zu befürchten, dass eine Öffnung des heimischen Arbeitsmarktes diesen quantitativ und qualitativ stark unter Druck setzen würde. Die AK verwies deshalb auf die dringende Notwendigkeit von Übergangsfristen und von Maßnahmen, die den neuen Mitgliedstaaten ein rasches Wirtschafts- und auch Lohnwachstum ermöglichen. Die EU-Kommission trat hingegen für kurze bis gar keine Übergangsfristen ein und argumentierte immer mit den geringeren kaufkraftbereinigten Lohnunterschieden. Für den österreichischen Arbeitsmarkt ist jedoch nicht nur der erhebliche Lohnunterschied zu Kaufkraftparitäten relevant. Aufgrund der geografischen Nähe und der damit einhergehenden Option zu pendeln, ist für Österreich der nochmal doppelt so hohe Unterschied zu Wechselkursen von Bedeutung.

Arbeitskräfte, die ihren Lebensmittelpunkt nicht verlagern, kaufen nämlich nach wie vor im billigeren Heimatland ein und halten die Ausgaben am teuren Arbeitsort so gering wie möglich. Eine Strategie, die auch vielen WaldviertlerInnen oder BurgenländerInnen durchaus vertraut ist. Sie sind über Generationen hinweg am Sonntagabend mit heimischen Lebensmitteln beladen nach Wien gekommen, um die Stadt am Freitag zu Mittag mit Schmutzwäsche beladen schnellstens wieder zu verlassen.

Aus Ungarn oder der Slowakischen Republik ist zudem problemlos auch ein tägliches Pendeln ins Burgenland oder nach Wien möglich. Bratislava liegt mit 67 km ungefähr gleich weit von Wien entfernt wie St Pölten mit 66 km. Selbst aus Polen oder dem deutlich entfernteren Rumänien oder Bulgarien ist – wie sich nun anhand der tatsächlichen PendlerInnenzahlen zeigt – ein wöchentliches oder vierzehntägiges Pendeln möglich.

Die Situation heute

Zu Wechselkursen weisen die Tschechische Republik, Ungarn, die Slowakei und Slowenien noch immer deutlich niedrigere Monatsdurchschnittslöhne im Vergleich zu Österreich auf. Daraus ergibt sich ein starker Anreiz zum Pendeln oder zur Teilmigration.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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2004 zeigte die AK dies an folgender Szenario-Rechnung auf:

Relation der Löhne zu Wechselkursen

2004*201120152020
Tschechien22 %34 %41 %51 %
Ungarn21 %34 %43 %55 %
Slowakei13 %24 %29 %36 %
Slowenien43 %66 %76 %89 %
Quelle: AK-Presseaussendung vom 13.8.2004, *2004 war ursprünglichen nicht enthalten und wurde nun auf Basis aktueller WIIW Daten ergänzt.

 

Vergleicht man dieses Szenario mit der tatsächlichen Entwicklung, muss man sagen, dass es zu optimistisch war und sich die Befürchtung, dass bis 2020 – Slowenien ausgenommen – keine 50 Prozent erreicht werden, leider bewahrheitet hat.

Relation der Löhne zu Wechselkursen

2004201120152017
Tschechien23 %36 %33 %36 %
Ungarn25 %28 %27 %31 %
Slowakei17 %29 %30 %31 %
Slowenien48 %56 %52 %53 %
Quelle: WiiW. *Aufgrund von Datenrevisionen und dem Verfügbarwerden einheitlicher europäischer Statistiken haben sich auch die Daten für 2004 leicht geändert.

Reale Aufwertung als Voraussetzung für nominelle Lohnkonvergenz

Damit sich die Nachbarstaaten hinsichtlich ihrer Lohn- und Preisniveaus an Österreich annähern, sind nicht nur höhere Lohnsteigerungen in diesen Ländern notwendig, sondern auch eine reale Aufwertung, in diesem Fall eine Annäherung von Wechselkursen und der Kaufkraftparitäten. Im Detail wird dieser Prozess in der Studie von 2004 dargestellt.

Diese kann sowohl über eine höhere Inflation erfolgen oder – sofern es noch eigene Währungen gibt – über eine Aufwertung der Währungen. Dabei ist entscheidend, wie sich die relativen Inflationsraten im Vergleich zu den Wechselkursänderungen verhalten. Bei niedriger Inflation kann eine reale Aufwertung stattfinden, wenn die Wechselkurse ausreichend stark aufgewertet werden. Bei hoher Inflation kommt es zu einer realen Aufwertung, wenn die Abwertung der Währung geringer ist als die Inflationsdifferenz.

Die Studie aus dem Jahr 2004 hat auch gezeigt, dass von 1996 bis 2003 höhere Preissteigerungen bei gleichbleibendem oder sogar fallendem Wechselkurs in allen Nachbarländern – mit Ausnahme der Tschechischen Republik – ein wesentlicher Anpassungsmechanismus waren. Die Tschechische Republik wertete sowohl nominell durch eine Erhöhung des Wechselkurses als auch real durch höhere Preissteigerungen auf.

Ein Trend, der sich bis 2008 in ähnlicher Weise fortgesetzt hat. Seit 2006 hat neben der Tschechischen Republik auch die Slowakei bis zur Euro-Einführung mit 1.1.2009 nominell aufgewertet.

Allerdings endet die Tendenz zur realen Aufwertung mit der Krise 2008. Die Annäherung der Wechselkurse an die Kaufkraftparitäten ist danach praktisch zum Stillstand gekommen.

In Ungarn und Polen gab es sogar reale Abwertungen.

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Dieser Stillstand in der realen Aufwertung ist problematisch. Vor 2008 hat die reale Aufwertung zwischen einem Drittel und der Hälfte zur Annäherung der Löhne zu Wechselkursen an das österreichische Niveau beigetragen.

Eine Fortschreibung des realen Wechselkurses für die Zukunft ist schwierig. Aktuell ist jedoch weder mit nominellen Aufwertungen der Währung noch großen Inflationsdifferenzialen zu rechnen. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Aspekt der Entwicklung in Slowenien: Hier ging nach der Euro-Einführung im Jahr 2007 die reale Aufwertung weiter und endete erst mit der Krise.

Lohnkonvergenz auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben?

Schreibt man in sehr optimistischer Weise einfach die Wachstumsraten der Löhne zu Wechselkursen aus dem Zeitraum 1997–2017 fort, so könnte man auf eine Angleichung an das österreichische Niveau etwa 2040 hoffen. Schreibt man die Entwicklung nach der großen Rezession (also 2010–2017) fort, so würden einige Länder nie, andere erst im nächsten Jahrhundert das österreichische Niveau erreichen.

Will man sich nicht damit abfinden, dass ein Lohngefälle von 1:3 unmittelbar angrenzend an Österreich dauerhaft etabliert bleibt, so muss man auch an die aktuelle Regierung und die EU-Kommission die Forderung stellen, deutlich mehr für eine dynamische Lohnentwicklung in unseren osteuropäischen Nachbarstaaten zu tun. Ein reiches Zentrum in Mitteleuropa und eine arme Peripherie rundherum sind keine nachhaltige Lösung.