Die 2010 vom Europäischen Rat beschlossene Europa 2020-Strategie hätte das Potenzial, den politischen Rahmen für eine stärkere Ausrichtung der Wirtschaft auf Nachhaltigkeit, Vollbeschäftigung und Armutsbekämpfung zu bilden. Aber die Strategie ist nicht auf Kurs, wie die EU-Kommission Anfang März 2014 in einer sehr ernüchternden Bestandsaufnahme eingestanden hat. Wichtige Kernziele wie das Beschäftigungs- oder das Armutsbekämpfungsziel werden nicht erreicht. Es braucht daher ein Umdenken: Löhne sind nicht primär als Kostenfaktor, sondern als Kernelement der Wirtschafts- und Sozialpolitik neu zu bewerten; und es braucht neben schönen Worten vor allem auch öffentliche Finanzanstrengungen zur Erreichung der Ziele.
Die Europa 2020-Strategie ist eine auf zehn Jahre angelegte Wirtschaftsstrategie der Europäischen Union, die die Grundlagen für eine andere Art von Wachstum schaffen soll – ein Wachstum, das intelligenter, nachhaltiger und integrativer ist. Ihre fünf Kernziele in den Bereichen Beschäftigung, Forschung und Entwicklung, Bildung, Energie und Klimawandel und Armutsbekämpfung stehen für dieses Europa der Bürger, das in vielen Reden beschworen wird.Derzeit läuft eine öffentliche Konsultation, danach will die Kommission im Jänner 2015 Vorschläge für die künftige Ausgestaltung der Strategie vorlegen. Eine Konsultation macht Sinn, allerdings sind die Defizite der Strategie offensichtlich und sollten angesichts der sozialen Krise schon jetzt behoben werden.
Was ist falsch an der Strategie?
Die Kernziele der Strategie weisen grundsätzlich in die richtige Richtung, aber bei der konkreten Ausgestaltung zur Erreichung der Ziele kommen zu einem guten Teil neoliberale Ideen zum Tragen, in deren Fokus eine angebotsseitige Betrachtung mit starker Betonung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit steht. Erfolgreich kann die Strategie aber nur sein, wenn die Nachfrageseite endlich in den Fokus europäischer Politikgestaltung rückt. Die Förderung der Binnennachfrage ist der Schlüssel zur Erreichung der Ziele. Das erfordert eine Korrektur der Verteilungsschieflage – etwa durch höhere Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen auf der einen und Entlastung der unteren und mittleren Einkommen auf der anderen Seite. Der Privatkonsum kann durch eine an der Produktivität und Zielinflation orientierte Lohnpolitik, die die Bedeutung der Löhne als zentralen Nachfragefaktor anerkennt, stabilisiert und ausgeweitet werden. Und es erfordert eine massive Ausweitung der privaten wie öffentlichen Investitionen in Europa als wichtiges Element der Binnennachfrage.
Golden Rule für Europa 2020
Am raschesten umsetzbar wäre die Ausweitung der Investitionen. Gerade in Zeiten einer schweren Wirtschaftskrise sind öffentliche Investitionen die wirksamste Waffe zur Belebung der Konjunktur. Sie können auch helfen ein Abrutschen des gesamten Euroraums in eine Deflation zu verhindern. Jeder Euro, den der Staat zusätzlich investiert, steigert die Wirtschaftsleistung um 1,30 bis 1,80 Euro.
Stattdessen reduziert die europaweite Sparpolitik das Wachstumspotential und erhöht damit gleichzeitig die Schuldenquoten. Dieser Zusammenhang, muss endlich in den Fokus der EU-Krisenpolitik rücken. Gerade die Kernziele der Europa-2020-Strategie bieten genügend Raum für sinnvolle öffentliche Investitionen. Wichtig sind vor allem auch Investitionen in die soziale Infrastruktur (Bildung, Kinderbetreuung, Pflege etc.). Modellrechnungen der AK zeigen, dass ein investiver Sozialstaat neben beträchtlichen Beschäftigungseffekten auch deutliche Mehreinnahmen für die öffentliche Hand ermöglicht.
Dieser Weg ist Europa jedoch aufgrund der restriktiven EU-Fiskalregeln versperrt. Mit dramatischen Auswirkungen: 2013 lagen die öffentlichen Investitionen der Euro-Staaten erstmals niedriger als die Abschreibungen. Europas Staaten zehren also von der Substanz und vergeben damit die beste Chance, aus der Krise herauszuwachsen.
Wie kommen wir aus dieser Sackgasse der EU-Fiskalregeln heraus?
Der wichtigste Schritt wäre, die Economic Governance auf die Europa-2020-Strategie auszurichten, da eine Strategie ohne bzw. sogar mit einer gegenläufigen Steuerung nicht funktionieren kann. Mittelfristig muss die wirtschaftspolitische Steuerung in der EU daher neu adjustiert werden.Diese Notwendigkeit wird von der Kommission in ihrer Bestandsaufnahme völlig ausgeklammert. Die zuletzt in Gang gekommene Debatte über eine Reform des Stabilitätspakts muss engagiert und zielorientiert geführt werden, wobei die Flexibilität im Stabilitätspakt möglichst umfassend ausgenützt und erweitert werden sollte. Auch im Rahmen der neuen Haushaltsvorschriften des Stabilitäts- und Wachstumspakts haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, durch einnahmenseitige Maßnahmen Mehrausgaben für öffentliche Investitionen zu finanzieren. Damit ist direkt die Verteilungsfrage angesprochen. Eine koordinierte Vorgangsweise bei Steuern auf Vermögen, Spitzeneinkommen, Kapitalerträge und Unternehmensgewinne, die rasche Einführung der geplanten Finanztransaktionssteuer sowie wirksame Maßnahmen gegen Steuerdumping, Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und aggressive Steuerplanung verschaffen den Mitgliedstaaten notwendige finanzielle Ressourcen für eine massive Ausweitung der öffentlichen Investitionen.
Darüber hinaus muss die sogenannte „Goldene Regel der Finanzpolitik“ („Golden Rule“) ermöglicht werden, d.h. die Neuverschuldung für wertschaffende öffentliche Investitionen darf von den Fiskalregeln nicht verhindert werden. Da sinnvolle Investitionen den zukünftigen Wohlstand stärker steigern als die zusätzlichen – derzeit besonders niedrigen – Zinskosten ihn einschränken, ist eine Fremdfinanzierung dieser Investitionen auch unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit angemessen. Die Kernziele der Europa2020-Strategie bieten dazu einen wertvollen Orientierungsrahmen.
Diese Maßnahme hätte unmittelbare positive Auswirkungen bis hinunter zu den Kommunen. Ohne Ausnahme für Investitionen ergibt sich für die weiterhin wachsenden europäischen Ballungsräume ein spezielles Problem: Sie müssen für Millionen neuer BürgerInnen ein hohes Niveau öffentlicher Infrastruktur sicherstellen, dürfen diese allerdings gemäß Fiskalregeln nicht von diesen mitfinanzieren lassen (ginge nur durch Kreditaufnahme, die dann auch von den zukünftigen BürgerInnen finanziert werden). Wollen sie weder das Niveau öffentlicher Leistungen senken noch ihre derzeitige Bevölkerung übergebührlich belasten, und wird der Aufwand nicht sonst wie ausgeglichen (EU-Investitionshilfen, aufgabenorientierter Finanzausgleich), bleibt als schlechte Alternative nur die teure Auslagerung der Finanzierung über Leasing- bzw. PPP-Modelle zugunsten privater FinanzinvestorInnen.
Wenn die Europa-2020-Strategie ein Erfolg werden soll, muss jetzt gehandelt werden. Millionen arbeitslose und arme EuropäerInnen erwarten mit Recht, dass die Staats- und Regierungschefs ihre selbstgesteckten Ziele ernst nehmen. Hier geht es auch um die Glaubwürdigkeit europäischer Politik.