„Die Europäische Union ist in keinem guten Zustand“, stellte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits vor mehr als einem Jahr besorgt fest. Und bis heute behält er recht damit. Nicht nur wegen des britischen EU-Ausstiegs-Referendums. Europa ist vor allem in sozialpolitischer Hinsicht in einem katastrophalen Zustand. So ist rund ein Viertel der EU-Bevölkerung von Armut bedroht. Die Realeinkommen sind in vielen EU-Ländern gesunken und die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor sehr hoch. Aus diesem Blickwinkel ist es nicht verwunderlich, dass die Stimmung der Leute in vielen EU Staaten sehr schlecht ist. Aber wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?
Im Jahr 2007 war die Welt für die Europäische Union noch in Ordnung. Ein Wirtschaftswachstum von mehr als 3 Prozent, eine Arbeitslosenrate von nur rund 7 Prozent. Die Verschuldung der EU-Staaten betrug im Schnitt nicht einmal 58 Prozent. Mit dem Überschwappen der Finanzkrise von den USA auf die Europäische Union endete jedoch die heile-Welt-Stimmung in der EU abrupt. Der Finanzsektor musste de facto über Nacht mit milliardenschweren Hilfszahlungen gerettet werden. Alleine zwischen 2008 und 2011 leisteten die öffentlichen EU-Haushalte 1.600 Milliarden Euro an Hilfszahlungen, um ein Kollabieren europäischer Banken zu verhindern. Zusätzlich belastet wurden die öffentlichen Budgets durch stark ansteigende Arbeitslosenzahlen, die zu Einnahmenausfällen bei gleichzeitig steigenden Ausgaben für Sozialleistungen führten.
Keine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik
BeobachterInnen, die damals davon ausgingen, dass es mit der Krise nun zu einer Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik kommt, wurden schon bald eines besseren belehrt. Nach einer kurzen Schrecksekunde gingen neoliberale AgitatorInnen zu einer Gegenoffensive über: Nicht die Banken seien schuld an der Krise. Verantwortlich seien die Staaten und ihre BewohnerInnen, die über ihre Verhältnisse gelebt hätten. So informierte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Bevölkerung bereits im Mai 2010, dass „Deutschland seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse gelebt hätte“. Massive Sparmaßnahmen müssten nun ergriffen werden, beispielsweise im Rentenbereich und bei den Arbeitslosen. Dass Deutschland in Wirklichkeit seit vielen Jahren weit unter seinen Möglichkeiten lebt und massive Leistungsbilanzüberschüsse erzielt, erwähnte sie mit keinem Wort. Denn tatsächlich ging es darum, die hohen öffentlichen Ausgaben für die Bankenrettung wieder hereinzubekommen. In der Folge setzte Merkel ähnliche Sparmaßnahmen auch für die Eurozonen-Staaten durch.
Eine verarmte und verbitterte Bevölkerung als Ergebnis neoliberaler Politik
Etliche Länder in Europa kamen mit der auf EU-Ebene ausgerufenen Sparpolitik endgültig unter die Räder. Unter dem Druck, der nun entstanden war, konnten neoliberale PolitikerInnen ihre Phantasien in bittere Realität umsetzen: Reallöhne und Mindestlöhne wurden in vielen Ländern drastisch gesenkt, Kollektivverträge außer Kraft gesetzt, öffentliche Bedienstete in großem Stil entlassen. Zudem wurde das Rentenalter erhöht, der Zugang zu Frühpension erschwert, Sozialsysteme ausgehöhlt und öffentliche Dienstleistungen privatisiert.
Wenig Gegenwehr anderer traditioneller Parteien
Selbst Parteien und PolitikerInnen, die nicht für eine neoliberale Politik stehen, fügten sich bei der konkreten Umsetzung der Sparmaßnahmen rasch. An Griechenland wurde ein Exempel statuiert. Ziel war es, allen Ländern zu zeigen, was passiert, wenn man sich gegen die auf EU-Ebene beschlossenen Sparvorgaben wehrt: Als sich die neu in die Regierung gewählte Partei Syriza gegen die Sparkonzepte der Troika wehrte, wurden ihnen kurzerhand alle Mittel gekappt. Dem griechischen Premier Tsipras blieb nichts anderes übrig als nachzugeben und die vorgegebenen Sparprogramme umzusetzen. Andere Regierungen wehren sich gar nicht erst. So setzt die sozialdemokratische Regierung in Frankreich derzeit ein Arbeitsmarktreformprogramm durch. Die Bevölkerung reagiert empört, es kommt immer wieder zu Massenprotesten und Streiks. Ähnliche Reaktionen auf die Sparprogramme der Regierungen waren in vielen EU-Ländern zu beobachten.
Strikter Sparkurs auch in Großbritannien
Auch in Großbritannien wurde in den letzten Jahren ein strikter Sparkurs gefahren. Gerade erst im März war der britische Sozialminister Duncan Smith zurückgetreten, nachdem Einsparungen bei Invaliditätspensionen öffentlich wurden. Besserverdienende hingegen sollten entlastet werden.
Die nackten Zahlen werfen ein klares Bild auf die Entwicklung Großbritanniens: Zwar hat sich die Beschäftigungsquote in UK positiv entwickelt und liegt per 2015 bei 76,9 %. Ein Großteil dieser Rekordbeschäftigungszahlen rührt von einer starken Zunahme der Selbständigen her. Gerade bei den Selbständigen jedoch ist ein dramatischer Rückgang des Jahreseinkommens zu beobachten. im Vergleich zu 2008 ein Minus von 22 %. Seit 2008 ist auch die Anzahl der Personen, die von Armut bedroht ist, um mehr als 1,1 Millionen Menschen gestiegen. In Summe hat Großbritannien mehr als 15 Millionen Personen (EUweit mehr als 122 Millionen), die von Armut bedroht sind.