Vorsicht bei Ländervergleichen – insbesondere bei Staatsausgaben!

25. Oktober 2017

Der Nationalrat ist gewählt, aber die politischen Debatten über Aufgaben und Finanzierung des österreichischen Sozialstaats werden nicht abreißen. Um populistischen Angriffen auf den Sozialstaat entgegenzuwirken, ist eine faktenbasierte Analyse der Staatsausgabenstrukturen unumgänglich. Ein Anhaltspunkt hierfür ist der europäische Vergleich. Das Heranziehen simpler quantitativer Vergleich der Staatsausgaben erweist sich jedoch im Detail als unzureichend. Denn Ausgabenunterschiede Österreichs zu vergleichbaren Ländern wie Deutschland und Belgien sind mehr auf strukturelle Besonderheiten in der öffentlichen Leistungserbringung, auf Divergenzen in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sowie auf statistische Zurechnungsprobleme zurückzuführen als auf tatsächliche Leistungs- und/oder Effizienzunterschiede.

Österreichs Staatsausgaben im europäischen Vergleich

Von zehn öffentlich ausgegebenen Euro werden in Österreich zusammengenommen fast sieben Euro für Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung aufgewendet. Dieser Wert erweist sich im Vergleich mit anderen EU-Ländern als typisch für einen entwickelten Sozialstaat. Während die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten und Eurozonen-Kernländer wie Deutschland, Österreich und Frankreich nach oben vom EU-Durchschnitt abweichen, sind die Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales in den neuen EU-Mitgliedsländern Bulgarien und Rumänien relativ gering; aber auch die südeuropäischen Euroländer weisen in der Regel sowohl unterdurchschnittliche staatliche Ausgabenquoten (in % des BIP) als auch unterdurchschnittliche Ausgabenanteile für Bildung, Gesundheit und Soziales (in % der Gesamtausgaben) aus.

Vertiefte Ländervergleiche von staatlichen Ausgabenstrukturen sind wenig aussagekräftig, wenn sie hochproduktive Ökonomien bzw. entwickelte Sozialstaaten (z. B. Österreich) mit Ländern vergleichen, in denen generell weniger Mittel zur Verfügung stehen und öffentliche Leistungen damit eine geringere Rolle bei der Absicherung der Bevölkerung vor gesundheitlichen und sozialen Risiken spielen können (z. B. baltische oder südeuropäische Länder). In meiner soeben veröffentlichten Studie der österreichischen Staatsausgaben konzentriere ich mich deshalb im Detail auf einen Vergleich mit Belgien und Deutschland: Diese Länder teilen nicht nur eine gemeinsame Währung (den Euro), sondern sind anhand von wirtschaftlichem Entwicklungsniveau, historisch gewachsenen sozialpartnerschaftlichen Institutionen und Produktionsstrukturen sinnvoll miteinander vergleichbar.

Staatsausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales: Österreich, Belgien und Deutschland im Ländervergleich

Vorausgeschickt sei, dass private und öffentliche Ausgabenkomponenten in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales integriert betrachtet werden sollten, da staatliche Ausgaben oftmals eine Entlastung privater Haushalte darstellen – die Haushalten bis in die Mitte der Einkommensverteilung hinein besonders zugutekommen. Nachfolgend werde ich mich – anders als in der Studie – dennoch auf einen Vergleich der öffentlichen Bildungs-, Gesundheits- und Sozialausgaben von Österreich, Belgien und Deutschland beschränken.

Auf den ersten Blick zeigt sich ein größerer Unterschied etwa bei den Bildungsausgaben, die in Belgien mit 6,4 % des BIP relativ hoch, in Deutschland (4,2 % des BIP) hingegen relativ niedrig sind. Die Ausgabenentwicklung im Bildungsbereich ist allerdings maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die junge Bevölkerung in Belgien in den letzten fünfzehn Jahren kräftig gewachsen, in Deutschland hingegen markant geschrumpft ist. Die Bevölkerungsentwicklung übt in Belgien klar Aufwärtsdruck, in Deutschland hingegen Abwärtsdruck auf die Bildungsausgaben aus. Sowohl beim Niveau als auch bei der Dynamik der Bildungsausgaben liegt Österreich zwischen diesen beiden Ländern.

Im Bereich der staatlichen Gesundheitsleistungen zeigen sich in Österreich höhere Ausgaben für Krankenhäuser als in Deutschland und Belgien. In diesem Zusammenhang ist jedoch nicht nur darauf hinzuweisen, dass in Österreich die staatlichen Ausgaben im ambulanten Bereich relativ niedrig und auch die privaten Gesundheitsausgaben im Drei-Ländervergleich am geringsten sind. Die Analyse zeigt darüber hinaus, dass Österreich seine Krankenhäuser in stärkerem Maße staatlich betreibt als Deutschland, was zwangsläufig zu Unterschieden in den Gesundheitsausgabenquoten führen muss. Tiefergehende Effizienzanalysen der Gesundheitsausgaben müssen derartige zentrale Fakten im Ausgabenstrukturvergleich berücksichtigen.

Betrachtet man die staatlichen Ausgaben für soziale Sicherung, liegt Österreich mit Ausgaben von 21,7 % des BIP über Belgien (20,2 %) und Deutschland (19,0 % des BIP). Die Studie verweist jedoch auf zahlreiche Besonderheiten in der Struktur der Sozialsysteme, die im Hinblick auf direkte quantitative Ländervergleiche zur Vorsicht mahnen.

Beispiel Familienleistungen: In Österreich ist die Familienbeihilfe als direkte Transferzahlung organisiert, was aus statistischer Sicht gegenüber Deutschland zu einer höheren Abgabenquote und höheren Staatsausgaben führt, weil die Leistungen in Deutschland als Steuervorteile konstruiert sind. Auch in puncto Alterssicherung existieren zwischen Deutschland und Österreich erhebliche Unterschiede in der Systemgestaltung. Zum einen ist das Pensionsniveau in Österreich höher und die Absicherung gegenüber Altersarmutsrisiken besser als in Deutschland, das seit Anfang der 2000er-Jahre verstärkt auf private Pensionsvorsorge setzt. Zum anderen ist die Beschäftigungsquote der 50- bis 64-Jährigen in Deutschland noch stärker angestiegen als in Österreich durch die Pensionsreformen. Die deutsch-österreichischen Systemdifferenzen bringen mit sich, dass ältere Menschen in Österreich statistisch als PensionistInnen die Pensionsausgaben erhöhen, während in Deutschland ältere Langzeitarbeitslose verstärkt die staatliche Ausgabenkategorie „Krankheit und Erwerbsunfähigkeit“ belasten.

Die unterschiedliche Entwicklung des Arbeitskräfteangebots ist aber auch darüber hinaus von zentraler Bedeutung. In Deutschland ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter seit 2008 geschrumpft, in Österreich hingegen markant gestiegen. Obwohl die Beschäftigung im Vergleich Deutschlands und Österreichs ähnlich stark gewachsen ist, führen diese Unterschiede im Arbeitskräfteangebot maßgeblich dazu, dass in Deutschland die Arbeitslosenquote in den letzten Jahren gesunken, in Österreich hingegen weiter angestiegen ist. In einem abgabenfinanzierten System – wie es in beiden Ländern vorherrscht – hat jedoch die Entwicklung der Arbeitslosen- und Beschäftigungsquote mittel- und langfristig entscheidenden Einfluss auf die Einnahmen- und Ausgabenstrukturen. Dieser Zusammenhang wird in öffentlichen Auseinandersetzungen, die sich in simplen quantitativen Staatsausgabenvergleichen erschöpfen, regelmäßig vernachlässigt.

Förderungen, Verwaltungsausgaben, Verkehrsinvestitionen: Einschränkungen der Ländervergleichbarkeit

Auch hinsichtlich anderer staatlicher Ausgabenkomponenten zeigt sich, dass Differenzen in den Ausgabenstrukturen Deutschlands, Österreichs und Belgiens bei genauerer Betrachtung zu einem großen Teil auf statistische Besonderheiten statt auf inhaltliche Unterschiede zurückzuführen sind. So sind die auf den ersten Blick bestehenden Ausgabenunterschiede für allgemeine öffentliche Verwaltung fast ausschließlich durch divergierende Zinskosten bei der Bedienung der Staatsschulden zu erklären; denn die Zinsen werden gemäß sogenannter COFOG-Klassifizierung kontraintuitiv als Verwaltungsausgaben geführt.

Ein anderes Beispiel ist die Vergleichbarkeit der staatlichen Investitionen für Verkehr. Da öffentliche Verkehrsunternehmen gemäß bestimmter Kriterien volkswirtschaftlich entweder dem Sektor Staat oder dem nichtfinanziellen Unternehmenssektor zugerechnet werden, kann ein Vergleich der Staatssektoren irreführend sein. Das betrifft auch den Vergleich von Österreich, Belgien und Deutschland, da die Zurechnung der Verkehrsunternehmen auf Privat- und Staatssektor im Ländervergleich nicht einheitlich ist.

Damit zusammenhängend schränken strukturelle nationale Besonderheiten die Datenvergleichbarkeit zwischen den Ländern auch bei den Förderungen ein. So weist Belgien mit Förderungsausgaben in der Höhe von 4,7 % des BIP deutlich höhere Werte aus als Österreich (2,7 % des BIP) und Deutschland (1,9 % des BIP). Dies ist jedoch auf ein besonderes System an Lohnsubventionen für belgische Unternehmen zurückzuführen – eine strukturelle Besonderheit in der Organisation des belgischen Systems, die einen Großteil der Eurostat-Datenunterschiede bei den Förderungen zwischen den drei Ländern erklärt.

Schlussfolgerungen

Aus den angesprochenen Einschränkungen der Vergleichbarkeit von Ausgabenstrukturen zwischen Österreich, Belgien und Deutschland lässt sich allgemein schlussfolgern: Einspar- oder Steigerungspotenziale bei den staatlichen Ausgaben in Land A können nicht einfach durch einen Datenvergleich mit den Ländern B und C argumentiert werden, wenn dabei nicht gleichzeitig auch auf nationale Besonderheiten in der Aufgabenerbringung, relevante gesellschaftliche und wirtschaftliche Unterschiede und statistische Zurechnungsprobleme eingegangen wird. Zum Zwecke eines Vergleichs der Effizienz und Effektivität von staatlichen Ausgaben bedarf es vielmehr eingehender Evaluierungen von wirtschafts- und sozialpolitischen Zielen und den gesetzten Maßnahmen des jeweiligen Landes.

Durch die Möglichkeit des Ländervergleichs liefern die Daten zu staatlichen Ausgabenstrukturen wichtige Anhaltspunkte hinsichtlich struktureller Unterschiede und Ähnlichkeiten von Staatsausgaben. Der internationale Vergleich von Staatsausgabenstrukturen muss jedoch mehr sein als ein oberflächlicher Input-Vergleich; das gilt insbesondere für die Bereiche Bildung, Gesundheit und Soziales, die zusammengenommen fast 70 % der Staatsausgaben ausmachen. Institutionelle und gesellschaftliche Faktoren sowie statistische Besonderheiten werden jedoch in der Auseinandersetzung mit Budgetthemen regelmäßig vernachlässigt, während die öffentliche Debatte zunehmend auf die Etablierung starrer staatlicher Ausgabengrenzen verengt wird.

Steigende Einkommens- und Vermögensungleichheiten und fragile Finanzmärkte machen umso dringlicher eine Budgetpolitik erforderlich, die gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge berücksichtigt. Wann immer eine inhaltlich fundierte Auseinandersetzung mit ausgabenrelevanten Themen ausbleibt, besteht die akute Gefahr, dass falsche wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen gezogen werden – das zeigt sich bspw. regelmäßig in den Debatten über Pensionen und andere Sozialleistungen.

Dieser Beitrag basiert auf der soeben veröffentlichten ausführlicheren Studie: Heimberger, Philipp (2017): Österreichs Staatsausgabenstrukturen im europäischen Vergleich, wiiw Forschungsbericht.