Sozialstaat – das Vermögen der Arbeitnehmer/-innen

04. Januar 2019

Zu teuer, leistungsfeindlich und generell „von gestern“ – so lauten die Vorwürfe an den Sozialstaat. Die aktuelle Kritik am Sozialstaat ist aber vor allem eine Strategie, die Verteilung zulasten der Arbeitnehmer/-innen zu verändern. Die Finanzierung der sozialen Sicherheit wird nach und nach ausgehöhlt, und Arbeitnehmer/-innen sollen verstärkt privat für ihre soziale Sicherheit vorsorgen.

Sozialstaat als Produkt historischer Kämpfe

Das Gedenkjahr 2018 sollte auch ein Anlass sein, sich an die Geschichte des österreichischen Sozialstaats zu erinnern (Broschüre “Unser Sozialstaat – gestern und heute”). 1868 wurden die ersten Arbeiter-Krankenkassen gegründet, 1888 das Krankenversicherungsgesetz erlassen, und 1918 wurde Ferdinand Hanusch Mitglied der Nationalversammlung und leitete einen umfangreichen sozialpolitischen Reformprozess in Österreich ein. Viele sozialpolitischen Errungenschaften sind das Ergebnis von langen sozialen Auseinandersetzungen. Heute sind sie bedroht.

Sozialstaat als beste Versicherung

Der österreichische Sozialstaat ist im internationalen Vergleich (noch) gut ausgebaut. Ein wesentliches Element ist die starke Orientierung am Erwerbsstatus. Sehr viele sozialstaatliche Leistungen knüpfen an der beruflichen Position an, so werden zum Beispiel das Arbeitslosengeld oder die Alterspension nur dann gewährt, wenn zuvor für eine bestimmte Zeit Versicherungsbeiträge gezahlt wurden, und auch die Höhe hängt vom vorherigen Erwerbseinkommen ab. Daneben gibt es allerdings auch noch Leistungen, die universell, also unabhängig vom beruflichen Status, gewährt werden – die Familienbeihilfe ist ein Beispiel dafür. In Österreich gilt eine Pflichtversicherung. Das bedeutet, dass jede/jeder automatisch bei der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses sozialversichert ist. Auch die Sozialversicherungsbeiträge werden „automatisch“ an die jeweiligen Träger abgeführt. Ein weiteres entscheidendes Merkmal ist die Selbstverwaltung. Diese soll garantieren, dass die Versicherten selbst und gemeinschaftlich über die Verwendung ihrer Beiträge bestimmen können. Aktuell werden jedoch durch die Neuorganisation der Sozialversicherung die Arbeitnehmer/-innen in der Selbstverwaltung entmachtet.

Über den Sozialstaat wird versucht, fast alle „großen“ Lebensrisiken abzusichern, also jene, die uns beinahe alle einmal betreffen werden. Er garantiert in Zeiten von Arbeitslosigkeit und Krankheit, im Alter oder bei drohender sozialer Ausgrenzung Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe. Aber auch in anderen herausfordernden Lebenslagen, wie bei der Geburt von Kindern oder der Suche nach geeignetem Wohnraum, bietet der Sozialstaat Unterstützung. Der Sozialstaat ist somit unser öffentliches Vermögen.

Wie groß ist der Sozialstaat?

In Österreich ist die Sozialquote, der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt – diese Kennzahl wird oft als Maß für die Größe des Sozialstaats gesehen –, seit Mitte der 1990er-Jahre relativ stabil bei rund 30 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 markierte einen leichten Anstieg: In einer wirtschaftlichen Krise steigen die Sozialausgaben an, da mehr Mittel z. B. für Arbeitslose benötigt werden. Zugleich werden dadurch die Einkommen der privaten Haushalte gestützt, die Sozialausgaben wirken in diesem Fall als automatische Stabilisierung der Nachfrage.

Die Finanzierung des Sozialstaats steht aktuell wieder im Mittelpunkt der politischen Diskussion, in der Debatte um die Höhe der „Abgabenquote“, des Verhältnisses aller Steuern und Abgaben zum BIP. In Österreich lag sie im Jahr 2017 bei 42,5 Prozent. Damit befinden wir uns im internationalen Vergleich im europäischen Spitzenfeld – was die Höhe der Abgabenquote betrifft, aber eben auch was zum Beispiel die Höhe des BIP pro Kopf betrifft. Und insbesondere bedeutet eine hohe Abgabenquote ein hohes Niveau sozialer Absicherung. Neue wissenschaftliche Befunde zeigen außerdem, dass sich hohe Abgabenquoten nicht negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken, sondern vielmehr die Struktur des Steuersystems entscheidend ist.

Abgabenquote und Sozialstaat: ein enger Zusammenhang

Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Abgabenquote und der sozialstaatlichen Entwicklung. Im Zuge des erfolgreichen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zum Ausbau des Sozialstaates in Verbindung mit einer steigenden Abgabenquote – am stärksten in den 1970er-Jahren bis Mitte der 1980er-Jahre. Zur Jahrtausendwende sank die Abgabenquote – auch wegen der Kürzungspolitik der damaligen schwarz-blauen Bundesregierung.

Entwicklung der österreichischen Abgabenquote © A&W Blog
© A&W Blog

Druck auf ArbeitnehmerInnen steigt

Eine pauschale und undifferenzierte Senkung der Abgabenquote hätte jedenfalls negative Konsequenzen für den Sozialstaat und Leistungskürzungen zur Folge. Damit würde der Druck auf die Arbeitnehmer/-innen steigen, aus eigener Tasche für die soziale Sicherheit vorsorgen zu müssen. Wenn es etwa im öffentlichen Pensionssystem zu weiteren Einschnitten kommt, steigt die Notwendigkeit, sich selbst um eine private Altersvorsorge zu kümmern, die viel teurer und überdies den Turbulenzen auf dem Finanzmarkt ausgesetzt ist. Eine niedrigere Abgabenquote bedeutet also keineswegs eine geringere „Belastung“, sondern lediglich eine Verlagerung der Finanzierung und der Risiken ins Private. Darunter leiden vor allem Arbeitnehmer/-innen mit niedrigen Einkommen und Vermögen, da es ihre ökonomische Situation nicht zulässt, langfristig individuell vorzusorgen.

Fair finanzieren statt zerstören

Der Sozialstaat braucht in Zukunft eine solide und faire Finanzierungsbasis. In vielen Bereichen muss weiter investiert werden, um Österreichs Zukunft sozial zu gestalten. Besonders drängende Bereiche sind etwa das Bildungssystem, die öffentliche Kinderbetreuung und das Pflegesystem. Sozialstaatlichkeit muss Humanität pflegen, Generationengerechtigkeit schaffen und den Zusammenhalt fördern. Sie muss die wirtschaftliche und gesellschaftliche Spaltung in Gewinner und Verlierer eindämmen und das „Wir-Gefühl“ stärken. Für Ausgrenzung und Angstmache darf kein Platz sein, und Menschenrechte dürfen nicht zu einer Frage der Finanzierbarkeit werden. Kürzungen in der Finanzierung des Sozialstaats verunmöglichen Zukunftsinvestitionen, führen zu Leistungskürzungen und letztlich zur Spaltung der Gesellschaft und gefährden den sozialen Frieden. Ein gut funktionierendes System, welches in harten sozialen Auseinandersetzungen von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erkämpft wurde und heute das Vermögen aller Bürger/-innen ist, darf nicht leichtsinnig geopfert werden.

Umschichtungen im Steuersystem sind die notwendige Voraussetzung für eine faire und solide Finanzbasis in der Zukunft. Die Beiträge von Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen müssen weiter gesenkt werden, und im Gegenzug müssen höhere Beiträge von Millionärinnen bzw. Millionären (z. B. in Form einer Millionärssteuer) und Unternehmen (z. B. durch Heranziehung aller Wertschöpfungselemente – nicht nur der Lohnsumme – zur gerechteren Finanzierung sozialer Sicherheit) eingefordert werden. Dies würde internationalen Empfehlungen und wissenschaftlichen Befunden entsprechen und Österreich wieder dem steuerpolitischen Trend der führenden Industrienationen näherbringen.