Europa 2030: nachhaltiges Wohlergehen für alle?

29. Januar 2019

Wohlergehen, Gleichheit, Nachhaltigkeit, Wohlstand und Fortschritt sind Ziele, die in der EU „nur“ in den Europäischen Verträgen an oberster Stelle stehen, nicht jedoch auf der politischen Agenda. Letztere wird (wie auch auf nationaler Ebene) immer noch von Fiskalregeln, Strukturanpassungen und Abschottung dominiert. Mit dem Schwung der 2015 beschlossenen UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung versuchen derzeit mehrere Initiativen, diesen Fokus zu korrigieren. Eine davon ist die internationale „Unabhängige Kommission für Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt“, die einen umfassenden Vorschlag zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und nachhaltiger Entwicklung in der EU vorgelegt hat.

Die EU ist seit einem Jahrzehnt mit verschiedenen Krisen konfrontiert, die sich gegenseitig verstärken und aufschaukeln. Auch die Demokratien sind im Laufe der Zeit zunehmend zerbrechlich geworden. Vor allem die soziale Krise ist weit davon entfernt, gelöst zu sein: Die Arbeitslosenrate in der EU geht zwar schrittweise zurück, es bestehen jedoch weiterhin deutliche Unterschiede zwischen den Ländern. Besonders vulnerablen sozialen Gruppen fällt es schwer, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Darüber hinaus lebt fast ein Viertel der Kinder und jungen Menschen in Armut oder ist von sozialer Ausgrenzung bedroht, und mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Europa glaubt, dass die jüngeren Generationen ein schlechteres Leben haben werden als sie selbst.

Rund zehn Jahre nach der Krise ist es daher mehr als an der Zeit, Maßnahmen zu setzen, um Armut und soziale Ausgrenzung zu bekämpfen, gute Arbeitsplätze und gute Entlohnung für alle sicherzustellen, die umfassende Gleichstellung der Geschlechter zu verwirklichen, echte soziale Mobilität zu ermöglichen und zur Verringerung der Ungleichheiten beizutragen. Außerdem sind viel stärkere Anstrengungen notwendig, um den Klimawandel einzudämmen und die Nachhaltigkeit des europäischen Wohlstandsmodells zu sichern. Es braucht also eine gesamtheitliche nachhaltige Weiterentwicklung.

Obwohl man sich 2015 mit dem Beschluss der 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung in den Vereinten Nationen dazu allgemein bekannt hat, ist bislang wenig weitergegangen. Neben dem Zusammenspiel von Gewerkschaften und anderen fortschrittlichen Organisationen der Zivilgesellschaft sowie sozialen Bewegungen wird es wesentlich von den kommenden EU-Wahlen im Frühjahr bzw. der neuen EU-Kommission abhängen, ob in der nächsten Legislaturperiode bis 2024 die Weichen für nachhaltigen Wohlstand in der Zukunft gestellt werden.

Nachhaltiges Wohlergehen für alle!

In ihrem ersten Bericht legt die Unabhängige Kommission für Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt – in der wir, neben renommierten WissenschafterInnen (wie der Sozialepidemiologin Kate Pickett oder dem Ökonomen Enrico Giovannini), PolitikerInnen und VertreterInnen der Zivilgesellschaft, auch mitwirkten – 110 Vorschläge vor, um zu einem sozialeren Europa und steigendem Wohlergehen für alle zu gelangen. Diese gliedern sich grob in fünf Bereiche: mehr direkte Beteiligungsmöglichkeiten der Menschen, eine Umgestaltung der Wirtschaft, mehr soziale Gerechtigkeit, Schritte hin zu einem sozial-ökologischen Fortschritt sowie die Ermöglichung dieses Wandels durch grundlegendere Änderungen der Arbeitsweise und der Entscheidungsprozesse in der EU.

Ein soziales Europa ohne Armut

Die Bekämpfung der Armut sehen wir als wichtige Grundlage für sozialen Fortschritt. Hierfür wird im Bericht beispielsweise eine europäische Kindergarantie angeregt, um die schädlichen und langfristigen Auswirkungen von Kinderarmut zu verringern. Jedes armutsgefährdete Kind soll Zugang zu kostenloser und qualitativ hochwertiger Ernährung und Gesundheitsvorsorge, Kinderbetreuung und Bildungsmöglichkeiten bekommen sowie in einer anständigen Wohnung bzw. Haus (Stichwort: Überbelegung, schlechte Isolierung) aufwachsen können. Hierfür ist allerdings auch eine weitreichende europäische Strategie für erschwinglichen sozialen und öffentlichen Wohnraum für alle und eine Eindämmung der Spekulation mit Boden, Bauland und Wohnraum nötig.

Zusätzlich sind politische Maßnahmen und Strategien erforderlich, um den Trend zur zunehmenden sozialen Fragilität und Prekarität immer breiterer Bevölkerungskreise – einschließlich großer Teile unserer Mittelschichten – umzukehren. Dazu gehört unter anderem ein europäisches Recht auf Beschäftigung, das nach dem Vorbild der Europäischen Jugendgarantie – einer Zusage der EU-Mitgliedstaaten, dass junge Menschen bis 25 Jahre innerhalb von vier Monaten ein Beschäftigungsangebot, einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz oder eine Fortbildung bekommen, nachdem sie sich arbeitslos gemeldet haben – gestaltet werden könnte. Des Weiteren wird ein europäischer Plan für gerechte Entlohnung und angemessene Mindesteinkommen sowie die (Wieder-)Einführung von in stärkerem Maße sozial gestaffelten, progressiven Steuersystemen gefordert. Dazu gehören angesichts der hohen Vermögenskonzentration europaweit koordinierte höhere Erbschafts- und Vermögenssteuern.

Die europäische Säule sozialer Rechte darf keine reine „Symbolpolitik“ bleiben, sondern muss umfassend in die europäischen Rechtsvorschriften eingearbeitet werden. Ein viel stärkerer Ausbau der Rechte von ArbeitnehmerInnen ist angesichts neuer Arbeitsformen und prekärer Arbeitsverträge unbedingt notwendig.

Ein generelles Umdenken ist nötig und muss die Prozesse leiten

Manche der 110 Vorschläge der Unabhängigen Kommission lassen sich wohl leichter, anderer schwerer umsetzen. Allerdings geht es gerade nicht um ein „Rosinenpicken“, sondern um ein möglichst ganzheitliches Bild.

Hierfür ist aber auch ein generelles Umdenken auf politischer Ebene gefragt. Zur Durchsetzung wirklich nachhaltiger Gleichheit bedarf es daher tiefgreifender Reformen des bestehenden EU-Governance-Rahmens (Stichwort: Europäisches Semester, EU-Haushaltspolitik). Damit Nachhaltigkeit und Wohlergehen nicht nur in den Europäischen Verträgen verankert ist, sondern tonangebend für die laufenden politischen Entscheidungen wird, ist ein neuer Steuerungsprozess notwendig. Aufbauend auf den bestehenden Elementen macht dieser eine kohärente Ausrichtung auf nachhaltiges Wohlergehen möglich:

Zyklus für nachhaltige Entwicklung © A&W Blog
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Quelle: Independent Commission on Sustainable Equality (2018).
  • Anstelle des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspaktes soll ein „nachhaltiger Entwicklungspakt“ treten, der – ähnlich dem magischen Vieleck wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik – verbindliche ökonomische, ökologische und soziale Ziele enthält. Neben bisherigen Größen, wie öffentliche Defizite und Schulden, sollen sowohl auf nationalstaatlicher wie auf europäischer Ebene auch öffentliche Investitionen und Vermögen, Leistungsbilanzen, Haushaltseinkommen, Gender Pay Gap, Arbeitslosigkeit oder Treibhausgasemissionen berücksichtigt werden.
  • Ein nachhaltiges Indikatorenset soll nicht nur das Monitoring des nachhaltigen Entwicklungspaktes sicherstellen, sondern auch weitere Indikatoren zur Messung von nachhaltigem Wohlergehen
  • Eine dreijährige rollierende Rahmenstrategie soll mittelfristige Prioritäten berücksichtigen und mit dem EU-Budget abgestimmt sein.
  • Das europäische Semester soll zur Feinsteuerung der Rahmenstrategie umgebaut werden – mit einem aufgewerteten Europäischen Parlament als mit dem Rat gleichberechtigte Entscheidungsinstanz sowie stärkerer Einbindung der Sozialpartner und anderer Stakeholder.
  • Beratend soll ein Regulierungsausschuss das EU-Recht auf Kompatibilität prüfen und ein „Wohlergehen-ExpertInnenrat“ (funktional ähnlich dem heutigen Fiskalrat) den Prozess begleiten.

Fazit: Nachhaltige Entwicklung als gesamteuropäische Aufgabe

Nachhaltiges Wohlergehen für alle in der EU wird sich nur dann realisieren lassen, wenn progressive gesellschaftliche Kräfte diese Vision vorantreiben. Der Beschluss der UN-Agenda 2030 war zwar ein Meilenstein für nachhaltige Entwicklung, allerdings muss weiter daran gearbeitet werden, will man die Vision auch verwirklichen. Der nun vorliegende Bericht der Unabhängigen Kommission für Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt enthält dafür viele Ideen und Inspirationen.

Die 10 prioritären Veränderungen für ein nachhaltiges Wohlergehen für alle © A&W Blog
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