AK-Wohlstandsbericht 2021: Herausforderungen trotz Wirtschaftsaufschwung

06. Oktober 2021

Zwar ist die Pandemie noch nicht überwunden, dennoch erleben wir nach dem Aufheben zahlreicher Bekämpfungsmaßnahmen einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung. Aber lässt sich daraus allein ableiten, dass sich auch Wohlstand und Wohlergehen in Österreich positiv entwickeln? Und von welchen Faktoren hängt das ab? Dem geht der mittlerweile vierte AK-Wohlstandsbericht nach.

Differenzierte Wohlstandsmessung

Mit dem AK-Wohlstandsbericht leisten wir seit 2018 einen regelmäßigen Beitrag zur Analyse der Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in Österreich. Anhand des modifizierten „magischen Vielecks“ wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik mit fünf übergeordneten Zielen – „fair verteilter materieller Wohlstand“, „Vollbeschäftigung und gute Arbeit“, „hohe Lebensqualität“, „intakte Umwelt“ sowie „ökonomische Stabilität“ – analysieren wir den gesellschaftlichen Fortschritt. Jedem der fünf Ziele werden sechs Indikatoren zugeordnet, sodass insgesamt die (erwartete) Entwicklung von 30 Indikatoren im Zeitraum 2017 bis 2022 betrachtet wird. Aus der interessenpolitischen Bewertung dieser Trends leiten wir Empfehlungen für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen ab.

Als Kompass für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen dienen dabei nicht zuletzt die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen. Denn gerade im Lichte der international akkordierten SDGs muss die Förderung von Wohlstand und Wohlergehen in Österreich wie auch in der EU auf der politischen Agenda ganz nach oben rücken. Mit dem European Green Deal und dem „EU Recovery Plan“ wurden auf EU-Ebene Schritte in die richtige Richtung gesetzt, und auch in Österreich sind Fortschritte in der Verankerung der SDGs zu verzeichnen. Diese müssen jedoch über Berichte und Debatten in Expert:innenkreisen hinausgehen und Niederschlag in kohärenten politischen Maßnahmen finden.

Fortschritte gegenüber dem Vorjahr, Vorkrisenniveau wird aber noch nicht erreicht

Die Veröffentlichung des vierten AK-Wohlstandsberichts fällt in die Phase eines starken wirtschaftlichen Aufschwungs nach Aufhebung vieler Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Dennoch ist der krisenbedingte Rückschritt von Wohlstand und Wohlergehen in zentralen Dimensionen auch im aktuellen Bericht noch deutlich zu sehen. Zwar fällt die Bewertung bereits etwas positiver aus als im vergangenen Jahr, das Vorkrisenniveau wird aber noch nicht wieder erreicht. Das verdeutlicht, wie wichtig es ist, auch auf Indikatoren abseits klassischer Wirtschaftsdaten wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu schauen. Wichtige Aspekte für ein gutes Leben, wie Gesundheit, Bildung, Gleichstellung, gerechte Verteilung, Mitbestimmung oder ökologische Nachhaltigkeit, werden darin nämlich nicht direkt abgebildet. Und ein BIP-Wachstum bedeutet nicht automatisch, dass der Aufschwung bei allen ankommt.

Zehn der 30 Teilziele des Wohlstandsberichts werden in diesem Jahr positiv bewertet (im Vorjahr acht). Der kurzfristige Ausblick auf 2021/22 ist jedochnur bei fünf Teilzielen positiv. Im Gegensatz zum Vorjahr sehen wir zumindest bei zwei der fünf Ziele des „magischen Vielecks“ einen leichten Fortschritt:

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Die Werte für die fünf Ziele ergeben sich dabei aus dem Durchschnitt der Bewertung der Zielerreichung der jeweils sechs Indikatoren (jeweils von -2 bis +2) – diese wurden addiert und die Summe durch sechs geteilt.

Leichte Fortschritte in den Bereichen „Lebensqualität“ und „intakte Umwelt“

Nachdem das Ziel „Hohe Lebensqualität“ im Vorjahr nur neutral bewertet wurde, ist die Einschätzung dieses Jahr wieder leicht positiv. Während jedoch die Indikatoren Lebenszufriedenheit und physische Sicherheit stabil positive Werte zeigen, erfassen die aktuellen Daten für die beiden wichtigen Faktoren Armutsgefährdung und Überbelastung durch Wohnkosten noch nicht die Auswirkungen der COVID-19-Krise. Bei der Reduktion von Armut und Ausgrenzung sind die Aussichten aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie unsicher. Klar ist, dass der Sozialstaat ausgebaut und weiterentwickelt werden muss, um weiterhin sozial ausgleichend wirken zu können.

Auch für das Ziel „Intakte Umwelt“ ergibt sich in diesem Jahr ein leicht positiver Wert. Die Verbesserung ist auf die gute Position des öffentlichen Verkehrs in Österreich zurückzuführen. In der Energie- und Klimapolitik insgesamt besteht hingegen weiterhin großer Handlungsbedarf – auch vor dem Hintergrund der nachgeschärften EU-Ziele für 2030 („Fit for 55“). Die Folgen der Krise bewirkten zwar kurzfristig eine Reduktion von Energieverbrauch und CO2-Emissionen, für das laufende Jahr ist aber wieder mit deutlichen Steigerungen zu rechnen. Beim notwendigen Umbau von Produktion, Energieversorgung und Mobilität ist im Kern auf soziale Gerechtigkeit zu achten.

„Fair verteilter materieller Wohlstand“ und „Ökonomische Stabilität“ schneiden neutral ab

Der Wohlstand in Österreich ist – auch im internationalen Vergleich – hoch. Dass das Ziel „Fair verteilter materieller Wohlstand“ nicht besser abschneidet, resultiert insbesondere aus der anhaltend hohen Vermögenskonzentration, der großen Lücke zwischen Frauen- und Männereinkommen und der unveränderten Ungleichheit bei der Einkommensverteilung. Die Budgetpolitik wird wesentlich bestimmen, in welche Richtung sich dieser Zielbereich künftig entwickelt.

Die neutrale Bewertung der Entwicklungen im Ziel „Ökonomische Stabilität“ muss angesichts der ökonomischen Folgen der COVID-19-Pandemie als ein guter Wert gesehen werden. Ohne Stabilisierungsmaßnahmen wäre die Finanzmarktstabilität neuerlich massiv gefährdet gewesen, auch war mit einer nachhaltigen Investitionsschwäche zu rechnen. Der Punktestand spiegelt jedoch auch die mittelfristigen Erfolge der wirtschaftspolitischen Anstrengungen nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise wider. Österreich schneidet zudem bei fast allen Indikatoren besser ab als die Eurozone, nur die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit werden hierzulande massiv vernachlässigt.

Herausforderungen beim Ziel „Vollbeschäftigung und gute Arbeit“

Das Ziel „Vollbeschäftigung und gute Arbeit“ schneidet zwar besser ab als im Vorjahr, wird aber immer noch negativ bewertet. COVID-19 ist hier weiterhin der prägende Faktor. Zwar ergibt sich im Vergleich zum Vorjahr ein etwas optimistischeres Bild, der Ausblick bleibt aber brüchig, ein Teil der hohen Arbeitslosigkeit hat sich bereits verfestigt. Auch viele strukturelle Probleme sind nach wie vor ungelöst, ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitssuchende, Frauen, Menschen mit Behinderung sowie Niedrigqualifizierte können weiterhin nur sehr schwer am Arbeitsmarkt Fuß fassen. Inwieweit die Krisenfolgen am Arbeitsmarkt abgefangen werden können, hängt davon ab, ob mit einer Arbeits- und Beschäftigungsoffensive erfolgreich gegengesteuert wird.

Schlussfolgerungen: nachhaltigere Verankerung der Wohlstandsorientierung erforderlich

Im Wohlstandsbericht 2021 haben wir erneut einen vertiefenden Blick auf die Institutionen und Prozesse („Governance“) in Österreich geworfen und festgestellt, dass diese noch stärker auf das übergeordnete Ziel der nachhaltigen Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen auszurichten sind. Dazu machen wir konkrete Vorschläge:

  1. Um den wirtschaftspolitischen Steuerungsprozess in Österreich zu verbessern, sollte dieser vom Budgetprozess losgelöst und – wie zuletzt auf europäischer Ebene – um die soziale und ökologische Dimension erweitert werden. Analog zum Europäischen Semester sollte jeweils im Frühjahr eine „Entwicklungsstrategie“ der Bundesregierung diesen Prozess einleiten.
  2. Grundlage für diese jährliche Entwicklungsstrategie wäre ein Expert:innenbericht, der die laufende Entwicklung darstellt und einschätzt, die Zielerreichung misst bzw. Abweichungen analysiert und daraus Empfehlungen ableitet. Das Indikatorenset sollte dabei in breitem Konsens und unter Berücksichtigung bestehender Berichte entwickelt werden.
  3. Zur Erstellung des Jahresberichts und von Sondergutachten, aber auch als „Protagonist:innen“ in der öffentlichen Debatte ist ein Beirat für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen einzurichten. Dabei sind zwei Modelle denkbar: entweder ein „Rat der Räte“, der sich aus bestehenden Räten (Fiskalrat, Wissenschaftsrat, Alterssicherungskommission, Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, …) zusammensetzt und auf Kohärenz achtet; oder ein neues Gremium, dessen Mitglieder von Sozialpartnern, Forschung und Zivilgesellschaft nominiert werden und auf dessen Befunde sich die anderen Räte beziehen müssen.

Konkrete Maßnahmen für eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik

Um bis 2030 die Ziele einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik zu erreichen, sind aktuell besonders gefordert:

  • Fokus auf Verteilungsgerechtigkeit: Die öffentlichen Haushalte haben im vergangenen Jahr Rekorddefizite verzeichnet, nachdem der Staat die Hauptlast der Krise geschultert hat. Diese werden mittelfristig im Aufschwung zwar von selbst wieder verschwinden, aber nicht zur Gänze. Keinesfalls dürfen die Folgekosten der Krise bei den 99 Prozent der Gesellschaft verbleiben und den Verteilungskonflikt weiter verschärfen. Stattdessen können progressive Abgaben auf Vermögen und Erbschaften, Spitzeneinkommen und Dividenden das demokratiepolitische, soziale und wirtschaftliche Risiko der enormen Vermögenskonzentration entschärfen. Zudem sind die potenziellen Einnahmen in Milliardenhöhe notwendig, um soziale Leistungen im Bereich Gesundheit, Pflege, Bildung und Armutsbekämpfung nachhaltig zu finanzieren und qualitativ auszubauen.

Dieser Beitrag basiert auf dem ausführlicheren AK-Wohlstandsbericht 2021.

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