Im kräftigen Wirtschaftsaufschwung niemanden zurücklassen! Zur neuen WIFO-Prognose

24. Juni 2021

Das WIFO setzt die Konjunkturprognose für 2021 kräftig nach oben (BIP real +4 Prozent). Die Zahl der registrierten Arbeitslosen soll gegenüber 2020 um 58.000 zurückgehen. Trotzdem werden 2021 noch immer 50.000 Menschen mehr arbeitslos sein als vor der Pandemie. Im Aufschwung darf jetzt niemand zurückgelassen werden. Dazu sind massive Investitionen in sozialen Zusammenhalt und wirtschaftlichen Strukturwandel notwendig. Denn das Hauptproblem für die Menschen bleibt Arbeitslosigkeit, nicht Inflation.

Industrieaufschwung viel stärker als erwartet

Besonders kräftig ist der Konjunkturaufschwung in der Industrie. Bereits im März 2021 hat der Produktionsindex den Höchststand vor der Krise wieder überschritten und lag um 16 Prozent über dem Wert vor Beginn des letzten Aufschwungs 2015. In Deutschland hingegen hat die Industrieproduktion bislang weder das Niveau vor der COVID-Krise noch jenes von 2015 erreicht. WIFO-Konjunkturtest und Bank Austria Einkaufsmanager-Index belegen: Der Aufschwung setzt sich weiter fort, und in der heimischen Industrie herrscht bereits wieder Hochkonjunktur. Das WIFO erwartet für 2021 sogar einen realen Anstieg der Wertschöpfung in der Herstellung von Waren um +9,2 Prozent, das wären bereits wieder +2 Prozent gegenüber 2019.

Der kräftige Industrieaufschwung schlägt sich auch in der Beschäftigung nieder: Das WIFO erwartet für den Jahresdurchschnitt 2021 einen Anstieg der Industriebeschäftigung um 0,6 Prozent und der geleisteten Arbeitsstunden um 5,7 Prozent (2020: -1,4 Prozent bzw. -6,4 Prozent). Die Unternehmen produzieren und investieren am Standort viel, ihre Ertragslage ist hervorragend, in manchen Branchen und Regionen suchen sie dringend Beschäftigte. Diese gute Gelegenheit muss für eine intensive Qualifizierung und Vermittlung von Arbeitslosen auf die offenen Stellen in der Industrie, die sofortige Übernahme von Leiharbeitskräften, für bessere Arbeitsbedingungen und kürzere Arbeitszeiten, für eine volle Teilhabe der Beschäftigten an der guten Konjunktur und gute Abschlüsse in der Herbstlohnrunde genutzt werden.

Wichtige Rolle der Bauwirtschaft bei der Bekämpfung der Klimakrise

Auch in der Bauwirtschaft zeigen die Konjunkturzeichen bereits längere Zeit nach oben. Heuer werden die Wertschöpfung der Bauunternehmen und die Bauinvestitionen real um gut 3 Prozent steigen (2020: -2,1 Prozent bzw. -3,1 Prozent). Das Nachholen verschobener Bauprojekte, die Investitionstätigkeit des Bundes, aber auch die wieder kräftig anziehenden Investitionen der Unternehmen kommen auch dem Bau zugute. Innovative und anpassungsfähige Bauunternehmen spielen eine wichtige Rolle in der Umsetzung der dringend notwendigen Klimainvestitionen in öffentlichen Verkehr, Radwege, nachhaltige Energie oder Gebäudesanierung. Sichert ihnen die Wirtschaftspolitik die stetige Ausweitung öffentlicher Investitionen zu und sorgt damit für Planbarkeit, dann bauen diese Unternehmen zusätzliche Kapazitäten auch in Bezug auf qualifiziertes Personal auf.

Mehr öffentliche und private Investitionen für eine Beschleunigung des Strukturwandels

Vor allem der Bund hat seine Investitionen in den letzten Jahren stetig ausgeweitet, dem Klimaministerium kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Die Umstellung des Güterverkehrs auf die Schiene oder der notwendige Umbau der Energiesysteme zeigen den weiter vorhandenen enormen Ausbaubedarf. Hingegen lagen die Investitionen von Städten und Gemeinden 2020 nominell um 120 Mio. Euro niedriger als im Jahr zuvor. Das ist den engen Finanzierungsspielräumen der Kommunen infolge sinkender Ertragsanteile am Steueraufkommen geschuldet. Dabei wäre auch in den Städten der Bedarf enorm: Der dringende Ausbau von Fuß- und Radwegen, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, die thermische Sanierung, die Schaffung von Grünräumen und öffentlichen Plätzen: Wir brauchen einen Klimainvestitionsfonds des Bundes für die Kommunen.

Öffentliche Investitionen ziehen auch private Investitionen nach sich. Eine Studie des DIW hat jüngst für Deutschland gezeigt, dass eine Milliarde Euro zusätzlicher öffentlicher Investitionen einen Anstieg privater Investitionen um 1,5 Mrd. Euro auslöst. Das WIFO erwartet für heuer eine Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen um real 12,5 Prozent (2020: -12 Prozent) und der Bauinvestitionen um 3,5 Prozent (-3,1 Prozent). Damit erreichen die Investitionen bereits annähernd das Vorkrisenniveau oder übertreffen es sogar.

Problembranche Tourismus: Qualität der Arbeitsplätze upgraden!

Die Wertschöpfung in Beherbergung und Gastronomie wird im Jahresdurchschnitt 2021 trotz Öffnungen real um 2 Prozent zurückgehen und damit um etwa 38 Prozent unter dem Niveau von 2019 liegen. Die mediale Berichterstattung verfolgend, könnte man den Eindruck gewinnen, die österreichische Wirtschaft wäre primär auf Tourismus ausgerichtet. Doch in der Realität machten selbst im Rekordjahr 2019 Beherbergung und Gastronomie mit 16 Mrd. Euro nur ein Viertel der Wertschöpfung der Herstellung von Waren aus (67 Mrd. Euro), der breiter definierte Tourismus nur etwa ein Drittel.

Im Mai lag die Zahl der Arbeitslosen in Beherbergung und Gastronomie zwar nur noch um 5.600 höher als zwei Jahre zuvor. Doch die Zahl der Beschäftigten lag um 27.600 unter diesem Niveau. Schon wird wieder über einen Arbeitskräftemangel geklagt. Doch dieser ist hausgemacht. Viele Arbeitskräfte wurden im ersten Lockdown im März 2020 über Nacht vor die Tür gesetzt und auch im zweiten Lockdown im Winter nicht in Kurzarbeit genommen, in vielen Betrieben sind die Arbeitsbedingungen schlecht und das Lohnniveau miserabel. Besonders schlecht behandelte ausländische Arbeitskräfte sind gar nicht mehr in die Tourismusgebiete zurückgekehrt. Auch im Inland suchen sich viele Jobs mit besseren Arbeitsbedingungen, die sich auch mit Familie vereinbaren lassen.

Es gibt auch viele gute Betriebe, die erkannt haben: Qualitätstourismus ist nicht mit Billigarbeitskräften und schlechten Arbeitsbedingungen machbar. Die Tourismusbranche muss sich dringend neue Konzepte überlegen, die auf Ganzjahresbeschäftigung, adäquate Personalwohnungen, Kinderbetreuung, Stärkung der Rechte der ArbeitnehmerInnen, bessere Arbeitsbedingungen und deutlich höhere Löhne abzielen. Sonst wird sie die Fachkräfte, die sie braucht, nicht finden. Völlig zu Recht.

Strukturwandel am Arbeitsmarkt unterstützen

Gelingt es den Betrieben in Beherbergung und Gastronomie nicht, Qualitätsjobs anzubieten, so werden sie für die Arbeitskräfte immer weniger attraktiv. Ihre Abwanderung in Richtung zukunftsträchtiger Branchen in Pflege und Gesundheit, Bildung und Qualifizierung, Klima und Industrie zu unterstützen, ist eine wichtige Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik. Die Zahl der beim AMS gemeldeten offenen Stellen hat im Mai mit 97.000 einen Höchstwert erreicht. Ziel muss es sein, die offenen Stellen mit guter Qualität von Arbeitsbedingungen und Löhnen direkt mit Personen aus dem Pool der Arbeitslosen zu besetzen. Dafür muss die Vermittlung deutlich intensiver werden, was eine weitere Aufstockung des Personals beim AMS notwendig macht.

Gerade im Aufschwung ist es entscheidend, in der Vermittlung keine Engpässe entstehen zu lassen. Gleichzeitig müssen die Schulungsmaßnahmen ausgeweitet werden, vor allem jene, die auf längere Qualifizierungsmaßnahmen für Zukunftsjobs in Pflege und Gesundheit, Bildung und Klima, Industrie und Technik abzielen. Zuletzt waren 75.000 Menschen in AMS-Schulungen – so viele wie zuletzt Anfang 2018. Höherwertige und erfolgreiche Schulungsmaßnahmen werden mehr kosten, als bislang veranschlagt. Eine moderne, gut ausgestattete Arbeitsmarktpolitik ist eines der entscheidenden Instrumente des Strukturwandels.

Niemanden zurücklassen: Jobgarantie für Langzeitarbeitslose

Selbst wenn viele offene Stellen bestehen und trotz Ausbaus der Qualifizierungspolitik werden Arbeitslose, die bereits lange nicht mehr in Beschäftigung waren, vom Aufschwung ohne zusätzliche Unterstützung kaum profitieren. Die Zahl der Langzeitbeschäftigungslosen lag im Mai mit 144.850 um 46.000 höher als zwei Jahre zuvor. Je länger Arbeitslosigkeit dauert, desto größer die Gefahr von gesundheitlichen Einschränkungen und Armutsgefährdung und desto geringer die Chancen auf Rückkehr in Beschäftigung. Eine gemeinnützige Jobgarantie für Langzeitarbeitslose wäre die dringend benötigte Hilfe für besonders benachteiligte soziale Gruppen.

Arbeitsminister Martin Kocher hat die Aktion Sprungbrett entwickelt, die für 50.000 Langzeitarbeitslose geförderte Beschäftigung bringen soll. Die Konzentration der Förderung auf Langzeitarbeitslose, die bereits deutlich mehr als ein Jahr ohne Beschäftigung sind oder unter Beeinträchtigungen leiden, ist genauso sinnvoll wie die Förderung von Beschäftigung in gemeinnützigen Einrichtungen. Für den Erfolg der Maßnahme sind jedoch sowohl deutlich mehr Mittel als die für 2021 und 2022 budgetierten 300 Mio. Euro als auch die Einbeziehung des Sektors der kommunalen Daseinsvorsorge notwendig. Jobs für Langzeitarbeitslose sind ein probates Mittel gegen die hohe Armutsgefährdung, ein Arbeitslosengeld von 70 Prozent und bessere Sozialhilfe bleiben zur Absicherung dringend notwendig.

Das Hauptproblem der Menschen bleibt Arbeitslosigkeit, nicht Inflation

Die Zahl der registrierten Arbeitslosen liegt im Jahresdurchschnitt 2021 laut WIFO-Prognose mit 351.000 um 50.000 über dem Niveau von 2019. Dazu kommen 73.000 Arbeitslose in Schulungsmaßnahmen (+16.000). Die Arbeitslosenquote beträgt 8,5 Prozent der unselbstständigen Erwerbspersonen und wird auch 2022 mit 8 Prozent noch deutlich über dem Vorkrisenniveau sein (2019: 7,4 Prozent). Nimmt man den Wert für Vollbeschäftigung bei 2 Prozent Arbeitslosenquote an, wie das in den 1970er- und 1980er-Jahren üblich war, so zeigt sich, wie weit wir davon entfernt sind.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Konservative sehen zwei andere besonders drängende wirtschaftspolitische Probleme: erstens die angeblich drohende Inflation. Gemeinhin wird Preisstabilität bei 2 Prozent Anstieg der Verbraucherpreise verortet. Heuer liegt die Inflationsrate laut WIFO bei 2,2 Prozent. In den letzten fünf Jahren lag sie im Durchschnitt bei 1,8 Prozent. Zwar steigen aufgrund des Nachholbedarfs in vielen Branchen, vorübergehender Lieferengpässe und steigender Vorleistungspreise bei manchen Gütern und Dienstleistungen die Preise flott, doch generell zeichnet sich keine nennenswerte Inflationsgefahr ab.

Als zweites wichtiges wirtschaftspolitisches Problem nennen Konservative Arbeitskräfteknappheit. In manchen boomenden Industrie- und Dienstleistungsbranchen herrscht tatsächlich ein unmittelbarer Mangel an qualifizierten Fachkräften. Bei Unternehmen, die in der Vergangenheit auf betriebliche Aus- und Weiterbildung und gute Arbeitsbedingungen gesetzt haben, ist dies weniger stark der Fall. Auch in einigen Branchen mit schlechten Arbeitsbedingungen und Löhnen scheinen derzeit Arbeitsplätze schwierig zu besetzen zu sein. Das wäre bei insgesamt wachsender Beschäftigung allerdings eine erfreuliche Entwicklung.

Wir brauchen keinen Arbeitsmarkt, auf dem sechs, sieben oder acht Arbeitslose um einen schlecht bezahlten Job konkurrieren. Emanzipatorische Politik will einen Arbeitsmarkt, auf dem Unternehmen mithilfe guter Arbeitsbedingungen und attraktiver Löhne um die Arbeitskräfte konkurrieren. Manche nennen das Arbeitskräftemangel und halten es für ein Problem, wir nennen es Vollbeschäftigung und wissen: Es ist das Ziel.

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