2022 braucht es eine fortschrittliche, zukunftsweisende Arbeitsmarktpolitik

01. Februar 2022

Die Arbeitslosenversicherung soll 2022 reformiert werden. Reformen sollten Probleme lösen. Die Ansätze von Arbeitsminister Kocher tun dies nicht, verbreiten lediglich Angst und Verunsicherung. Stattdessen braucht es eine fortschrittliche Arbeitsmarktpolitik, die Armut beseitigt, Sprungbrett und Sicherheitsnetz zugleich ist, Menschen Mut macht, sich auf Veränderungsprozesse und soziale Klimapolitik einzulassen. Letztendlich muss sie die Machtverhältnisse wieder umkehren, damit Arbeitnehmer*innen bzw. Arbeitssuchende emanzipatorisch die Freiheit haben, sich zwischen guten und schlechten Jobs zu entscheiden.

Konservative Arbeitsmarktpolitik: Druck auf Arbeitssuchende, Förderung der Unternehmen

Von der Arbeitslosenversicherungsreform von Arbeitsminister Kocher ist bis jetzt durchgesickert, dass das Arbeitslosengeld zukünftig degressiver gestaltet, die Zuverdienstmöglichkeiten bei der Arbeitslosigkeit eingeschränkt und mehr sanktioniert werden soll. Gleichzeitig sollen die Lohnnebenkosten – z. B. durch die Senkung der Arbeitgeberbeiträge zum Insolvenzentgeltfonds (IEF) – gesenkt werden. Diese Überschriften lassen vermuten, dass es bei der Reform nicht um die Lösung der tatsächlichen Probleme am Arbeitsmarkt geht, sondern vielmehr darum, Arbeitssuchenden Angst einzujagen, damit sie jeden Job um jeden Preis annehmen. Die Konsequenz wäre eine Ausweitung des Niedriglohnsektors wie bei Hartz IV in Deutschland.

Arbeitsmarktteilhabe für alle

Erwerbsarbeit ist zentral für die Teilhabe an sozialen Aktivitäten und grundlegend für das menschliche Wohlbefinden (siehe Marie Jahoda). Arbeitslosigkeit hat hingegen weitreichende negative Auswirkungen. In Österreich liegt die Arbeitslosenquote seit den 1990er Jahren über 5 Prozent und erreichte im Jahr 2020 den bisherigen Höhepunkt bei 9,9 Prozent. 2021 ging sie zurück auf 8 Prozent. Zum zentralen Problem ist die Langzeitarbeitslosigkeit geworden. Im Jahr 2021 waren durchschnittlich 131.642 Personen langzeitbeschäftigungslos.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Eine fortschrittliche Arbeitsmarktpolitik muss sich daher zum Ziel setzen, Arbeitsmarktteilhaben für möglichst alle Menschen – auch für benachteiligte Bevölkerungsgruppen – zu ermöglichen. Diese Zielsetzung der Vollbeschäftigung kann nur im Einklang mit wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Maßnahmen gelingen. Unmittelbar braucht es ein sozial-ökologisches Beschäftigungsprogramm. Dies sollte nicht nur Arbeitsplätze schaffen, sondern vor allem auch die enormen Bedarfe im Gesundheitsbereich, in der Pflege, in der Kinderbetreuung, in der Kreislaufwirtschaft und im öffentlichen Verkehr decken.

Für die Gruppe der Langzeitarbeitslosen braucht es einen Paradigmenwechsel. Weg von den Subventionen für Unternehmen (hohe Mitnahmeeffekte) und dem Sanktionsregime für Arbeitssuchende hin zu einer gemeinwohlorientierten Jobgarantie. Dabei überlässt der Staat das Schicksal der Menschen nicht dem Markt, sondern schafft selbst ein Sicherheitsnetz an guten Arbeitsplätzen, die den Bedürfnissen der Langzeitarbeitslosen entsprechen und die großen sozialen und ökologischen Herausforderungen adressieren. Positive Ergebnisse von Ansätzen einer Jobgarantie zeigen sich z. B. im Pilotprojekt Gramatneusiedl.

Lebensstandard sichern, Armut vermeiden

Die Arbeitslosenversicherung ist eine zentrale sozialstaatliche Leistung und soll den sozialen Status der Versicherten auch bei Arbeitslosigkeit erhalten. In Österreich ist die Nettoersatzrate mit rund 55 Prozent des Erwerbseinkommens relativ niedrig. Insbesondere bei längerer Arbeitslosigkeitsdauer führt die geringe Ersatzleistung mit der bereits jetzt degressiven Gestaltung (nach dem Arbeitslosengeld folgt die niedrigere Notstandshilfe) häufig in Armut. Rund jede*r zweite Langzeitarbeitslose ist armutsgefährdet. Das Arbeitslosengeld muss daher angehoben werden auf mindestens 70 Prozent Nettoersatzrate. In der Folge wäre damit auch die Notstandshilfe höher.

Der Familienzuschlag muss von derzeit 0,97 Cent auf mindestens 2 Euro erhöht werden. Das letzte Mal wurde dieser im Jahr 2001 angepasst. Wichtig ist darüber hinaus die Verlängerung der Bezugsdauer (derzeit zwischen 20 und 52 Wochen, in Sonderfällen auch 78 Wochen), was ebenfalls armutsvermeidend wirkt.

Das hätte mehrere positive Effekte. Erstens würden Einkommensungleichheit und Armut deutlich reduziert. Zweitens würde die Kaufkraft gestärkt. Dies führt zu mehr Aufträgen für die Betriebe und somit zu mehr Jobs. Durch den Konsumanstieg würden rund 6.000 bis 10.000 Arbeitsplätze geschaffen. Die Arbeitslosenversicherung würde dadurch noch stärker als „automatischer Stabilisator“ wirken. Letztendlich stärkt das verbesserte Sicherheitsnetz die Verhandlungsmacht von Arbeitssuchenden und Arbeitnehmer*innen insgesamt. Wenn Arbeitslosigkeit den Schrecken von Armut und Existenznöten verliert, werden Beschäftigte und Arbeitsuchende eher in die Lage versetzt, passende Jobs zu finden und sich um- oder neu zu orientieren. Menschen würden dadurch davor bewahrt, zur Sicherung ihres Lebensunterhalts unfaire Arbeits- und Lohnbedingungen akzeptieren zu müssen.

Gesundheit erhalten

Gesundheitliche Probleme sind arbeitsmarktpolitisch ein Teufelskreis. Insbesondere durch die gestiegene Arbeitslosigkeitsdauer hat sich der Gesundheitszustand vieler Arbeitssuchenden verschlechtert. Laut einer Sonderauswertung des Arbeitsklima-Index sind 5 Prozent der Erwerbstätigen von Depressivität sehr stark belastet, bei den Arbeitslosen sind es 11 Prozent. Bei Langzeitarbeitslosen erhöht sich die Belastung auf 17 Prozent. Die Arbeitsmarktpolitik sollte sich daher zum Ziel setzen, die Lebenssituation von Arbeitslosen allgemein zu verbessern. Das inkludiert, die Gesundheit von Arbeitssuchenden zu erhalten, die negativen Folgen von Arbeitslosigkeit zu lindern und eng mit der Gesundheits- sowie Sozialpolitik zusammenzuarbeiten. Derzeit ist dies im Arbeitsmarktservicegesetz nicht ausreichend vorgesehen. Hier wird ausschließlich auf die Vermittlung von Arbeitssuchenden und auf deren Höherqualifizierung abgezielt. Auch das Ansinnen von Arbeitsminister Kocher, mehr oder rigoroser das Arbeitslosengeld zu sanktionieren, verdeutlicht dieses Manko. Denn erst kürzlich hat eine richtungsweisende Studie aus Großbritannien gezeigt, dass mehr Sanktionen zu einem schlechteren Gesundheitszustand von Arbeitslosen führen und dies wiederum den öffentlichen Haushalt budgetär stark belastet (Rebound-Effekt).

Klimasoziale Arbeitsmarktpolitik vorantreiben

Der permanente Strukturwandel, Automatisierung und die Digitalisierung werden auch weiterhin zu großen Veränderungen unseres Wirtschaftssystems führen. Der Klimawandel wird zusätzliche Anpassungsprozesse in enormem Ausmaß und Tempo erfordern. Diese Anpassungsprozesse müssen sozial und proaktiv gestaltet werden, was eine Kernaufgabe der Arbeitsmarktpolitik ist.

Der (Arbeits-)Marktmechanismus kann zukünftige Qualifikationsbedarfe nicht vorhersehen, sondern reagiert nur ex post. Es braucht daher eine aktive arbeitsmarktpolitische Steuerung von zukunftsorientierten Qualifikationen. Dabei muss sich die Arbeitsmarktpolitik der Zielsetzung verschreiben, die Chancengleichheit von Arbeitnehmer*innen bzw. die Aufwärtsmobilität durch Bildung zu erhöhen. Die Arbeitsmarktpolitik muss hier als Sprungbrett fungieren. Damit dies gelingt, braucht es ein ausreichendes Budget für aktive Arbeitsmarktpolitik und einen universellen Rechtsanspruch auf Fördermaßnahmen durch das AMS. Einkommensverluste bei Weiterbildungen müssen durch ein Qualifizierungsgeld so minimiert werden, dass Weiterbildungen für alle Beschäftigten und Arbeitssuchenden leistbar bzw. attraktiv erscheinen. Auch mehr Autonomie und Selbstbestimmtheit könnten die Teilnahme an Qualifikationsmaßnahmen steigern.

Darüber hinaus sollte das gesamte arbeitsmarktpolitische Instrumentarium nach sozial-ökologischen Aspekten durchleuchtet werden. Auf Unternehmensseite wäre es wichtig, die Vielzahl an betrieblichen Fördermaßnahmen vom AMS (Eingliederungsbeihilfe, Kombilohn, Lehrstellenförderung etc.) auf ökologische Kriterien zu überprüfen bzw. diese in den Förderkriterien zu etablieren. Betriebe, die sich systematisch umweltschädlich verhalten, sollten nicht gefördert werden.

Gute Arbeits- und Lohnbedingungen vorantreiben

Jene Betriebe oder Branchen, die sich über einen Fachkräftemangel beklagen, charakterisieren sich häufig durch problematische Arbeitsbedingungen und geringe Entlohnung. Die häufigsten Rechtsberatungen/Rechtsvertretungen in der Arbeiterkammer sind aus dem Bereich Gastronomie. Ein anderer auffälliger Bereich ist die Arbeitskräfteüberlassung. Rund 55 Prozent der Überlassungen (= Arbeitseinsätze) sind kürzer als ein Monat. Nach dem Ende eines Beschäftigungsverhältnisses als Leiharbeiter*in folgt häufig die Arbeitslosigkeit (in 28 Prozent der Fälle) oder ein weiteres Leiharbeitsverhältnis (36 Prozent). Deutlich seltener ist dagegen der Übergang in eine reguläre Beschäftigung (21 Prozent). Die schwierigen Arbeitsbedingungen in der Arbeitskräfteüberlassung sind arbeitsmarktpolitisch von zentraler Bedeutung. Durchschnittlich ist rund jede vierte offene Stelle in der Arbeitskräfteüberlassung.

Hinzu kommt, dass sich in einer Vielzahl von Branchen die missbräuchliche Personalpolitik etabliert hat, bei Auftragsschwankungen Arbeitsverhältnisse kurzfristig zu beenden, beim AMS „zwischenzuparken“ und anschließend wieder einzustellen. Dadurch wälzen Unternehmen jährlich rund 500 Mio. Euro an Kosten auf die Allgemeinheit – auf die Arbeitslosenversicherung – ab und verursachen rund ein Achtel der Arbeitslosenquote.

Die Arbeitsmarktpolitik sollte sich zum Ziel setzen, Arbeitssuchende nachhaltig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, vor allem auch in Branchen, die zukunftsfähig sind. In der Arbeitslosenversicherung braucht es daher einen stärkeren Berufs- bzw. Entgeltschutz. AMS-Vermittlungen sollten ausschließlich in existenzsichernde Beschäftigungen (z. B. Mindestlohnhöhe von 1.700 Euro brutto bei Vollzeit) stattfinden. Arbeitssuchende sollten nicht an Betriebe vermittelt werden, in denen es systematisch arbeitsrechtliche Vergehen bzw. Anzeigen des Arbeitsinspektorats gibt. Generell braucht es in der Arbeitslosenversicherung bessere betriebliche Anreize, um für stabile Beschäftigungsverhältnisse und für mehr Sicherheit am Arbeitsmarkt zu sorgen. Bei der Reform sollten erfahrungsbasierte Arbeitgeberbeiträge in der Arbeitslosenversicherung eingeführt werden, wo z. B. Betriebe das Arbeitslosengeld im ersten Monat der Arbeitslosigkeit nach der Beschäftigungsbeendigung („1-Monats-Experience-Rating“) übernehmen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Fazit

Die gegenwärtigen Herausforderungen wie Strukturwandel, Digitalisierung, Klimawandel, hohe (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, hohes Armutsrisiko, Mangel an guten Arbeitsbedingungen und zunehmende gesundheitliche Probleme sind tiefgreifend und dringend. Keine dieser Herausforderungen kann eine konservative Arbeitsmarktpolitik, die Angst verbreitet und Menschen unter Druck setzt, lösen. Hingegen braucht es eine fortschrittliche Arbeitsmarktpolitik, die danach trachtet, dass Menschen ihren Lebensstandard auch unabhängig von Marktergebnissen aufrechterhalten können. Eine Arbeitsmarktpolitik, die Sicherheit gibt und einen würdevollen Umgang mit Arbeitssuchenden praktiziert, stiftet Mut und nimmt Betroffene bei Veränderungsprozessen mit. Arbeitssuchende sind keine Waren, die von A nach B verschoben werden können. Ihre Interessen müssen vom AMS genauso berücksichtigt werden wie jene der Betriebe.

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