Der Zwölf-Stunden-Tag, die Zunahme prekärer Dienstverhältnisse oder die Digitalisierung stehen beispielhaft für grobe Veränderungen in der Arbeitswelt. Marie Jahoda, eine in Wien geborene Sozialforscherin (1907-2001), wurde vor allem als Ko-Autorin der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ bekannt. Aber ihre Thesen zur sozialpsychologischen Bedeutung von Arbeit helfen uns im aktuellen Diskurs zu Arbeit und Beschäftigung, gegenwärtige Entwicklungen besser zu verstehen. Vor wenigen Tagen ist ein neuer Sammelband mit einer Auswahl von Aufsätzen, Essays und Reden Marie Jahodas erschienen. Sie geben Einblick in die Breite der Fragestellungen, mit denen sich Jahoda in ihrem wissenschaftlichen Leben beschäftigt hat.
Die Bedeutung von Arbeit für den Menschen
Die Arbeitswelt ist im steten Wandel, die psychologischen Bedürfnisse der Menschen bleiben im Vergleich dazu relativ konstant. Für VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen ist es eine große Herausforderung, diesen Wandel möglichst human zu gestalten. Marie Jahodas Forschung ist dafür äußerst hilfreich. Jahoda wurde über die breite Rezeption der Marienthal-Studie sowohl innerhalb der Wissenschaftscommunity als auch in der Öffentlichkeit zu einer der zentralen ForscherInnen zu den Themen Arbeit und Arbeitslosigkeit. Die Untersuchung der im Grunde anerkannten dramatischen sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit führt, so ihre Überzeugung, zur Erkenntnis von verborgenen, sie nennt es latenten, Bedeutungen der Erwerbsarbeit. Die Frage der Bedeutung von Arbeit für den Menschen und ihren Auswirkungen auf das Individuum ließ sie in ihrer Forschung nie los. Dies nicht zu Unrecht, schließlich nimmt die Arbeit bei den meisten Menschen einen zentralen Stellenwert in ihrem Leben ein.
Für Jahoda begründet Arbeit „das innerste Wesen des Lebendigseins“ und damit die Würde der Einzelnen. Arbeit zeigt uns aber auch anschaulich, dass die Einzelnen aufeinander angewiesen sind und sich beim kollektiv organisierten Tätigsein auch miteinander verbinden. Sowohl das Individuum als auch das Kollektiv brauchen die Arbeit einerseits, um überleben zu können, andererseits vermittelt sie Realitätsbindung und Identität. Dementsprechend bedeutet Arbeitslosigkeit für den Menschen auch einen Verlust von sozialer Integration und womöglich auch der Anbindung an die Realität.
Jahoda betont, dass sich die arbeitenden Subjekte nicht (nur) als ausgebeutet verstehen müssen, wie es im Marx’schen Denken oft angenommen wird. Arbeit ist für sie ein Akt des Tätigseins, der tieferliegende menschliche Bedürfnisse, wie jene nach Kooperation, Realitätskontrolle und Emanzipation, befriedigen kann. Kollektiv organisierte Arbeit bringt eine Reihe von Erfahrungen mit sich, auch wenn deren Qualität höchst unterschiedlich sein kann.
Obwohl Arbeit für Jahoda mehr als nur Erwerbsarbeit bedeutet, hat sie sich in ihren empirischen Analysen auf diese Sphäre konzentriert, was etwa aus feministischer Perspektive durchaus zu kritisieren ist. Sie sind dennoch für die Sphäre der Erwerbsarbeit bis heute brandaktuell.
Die Erwerbsarbeitswelt ist permanent im Wandel. Seit der Etablierung des „klassischen“ Erwerbsarbeitsmodells – Mann arbeitet Vollzeit, Frau bleibt zu Hause oder arbeitet Teilzeit und kümmert sich um Kindererziehung und Hausarbeit – hat sich von der wachsenden Zahl an Arbeitslosen bis zur Zunahme sogenannter atypischer Jobs, auch im Zuge neuer Rationalisierungs- und Technologisierungsschübe – Stichwort: Digitalisierung –, stets viel verändert. Diese Entwicklungen führten zu einer zunehmenden Spaltung in der Arbeitswelt. Neue Herausforderungen sind aufgekommen, alte sind teilweise in den Hintergrund getreten, teilweise geblieben. Viele dieser Themen haben die Forschung von Jahoda begleitet. Einige aktuelle Themen, wie jene des gesellschaftlichen Umgangs mit permanenter Arbeitslosigkeit und die Frage, ob „uns die Arbeit in Zukunft ausgeht“, hat sie bereits andiskutiert.
Den Wandel der Arbeitswelt analysieren
Zentral für Jahodas Verständnis von Arbeit ist, dass diese nicht nur manifesten, d. h. ökonomischen, Zwecken dient, sondern auch zentrale latente, d. h. verborgene, Erfahrungen mit sich bringt bzw. bringen kann. Dazu gehört die Strukturierung des Tages in Phasen der Erwerbsarbeit und der Nicht-Erwerbsarbeit, Horizonterweiterung über die Familie hinaus, Erfahrungen mit Kooperation am Arbeitsplatz, Status in der Gesellschaft sowie die Anbindung an die soziale Realität. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass wir die Erwerbsarbeit nicht nur aus einer ökonomischen Perspektive, das heißt unter dem Gesichtspunkt der Lohnarbeit, betrachten sollten. Wir müssen uns aber immer auch fragen, inwiefern die derzeitigen Veränderungen der Arbeitswelt, etwa das Problem, dass ArbeitnehmerInnen in Zeiten von Prekarisierung und hoher Arbeitslosigkeit oftmals von ihrer Arbeit kaum mehr leben können, die latenten Funktionen von Arbeit herausfordern. Wie müsste Arbeit verstanden und gestaltet werden, um diese Erfahrungen (weiterhin) zu ermöglichen?
Das Verhältnis der manifesten und latenten Funktionen ist dabei nicht ganz trivial. So ist es durchaus denkbar, dass es Arbeitsverhältnisse gibt, die zwar die manifeste Funktion von Arbeit im Sinne eines guten Einkommens erfüllen, allerdings durch die steigenden oder neuen Formen der Belastung die sozialen Qualitäten der Arbeit unterwandert werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Auflösung der für die Ära des Fordismus charakteristischen Trennung von Phasen der Arbeit und der Nicht-Arbeit. Dadurch droht für einige ArbeitnehmerInnengruppen das damit einhergehende charakteristische Zeiterlebnis, das für Jahoda ja eine zentrale latente Funktion von Arbeit darstellt, verloren zu gehen.
Wo Arbeit ihre Bedeutung verliert
Dies kann für die betroffenen Beschäftigten trotz gut entlohntem Vollzeitjob zu fehlenden Möglichkeiten der Entspannung, mehr Stress sowie Konflikten mit den Anforderungen im Privatleben führen (Stichwort: Entgrenzung der Arbeit). Zudem besteht die Gefahr, dass sich durch eine Wende zur permanenten Erreichbarkeit Arbeitszeitnormen und Leistungserwartungen zuungunsten der Beschäftigten verschieben. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist u. a. die in Österreich 2018 beschlossene Erhöhung der maximalen täglichen Arbeitszeit auf 12 Stunden.
In Zeiten, in denen (Einfach-)Arbeit, z. B. am Fließband, immer mehr abgewertet, rationalisiert bzw. ausgelagert wird, wird auch die identitätsstiftende Rolle von Arbeit für bestimmte ArbeitnehmerInnengruppen auf die Probe gestellt. Der Soziologe Jörg Flecker hat dies etwa am Beispiel der Beschäftigten bei der Post gezeigt. Die im Zuge der Liberalisierung vorgenommenen Umstrukturierungsmaßnahmen führten unter anderem dazu, dass Postbeschäftigte bei ihren Zustellungsrouten „flexibler“ wurden. Dadurch wurden lange aufgebaute KundInnenkontakte zerstört, die Arbeit verlor an gesellschaftlicher Anerkennung und der Stolz, „PostlerIn zu sein“, nahm bei den Beschäftigten ab.
Es kann demgegenüber aber auch sein, dass die latenten sozialen Qualitäten von Arbeit durchaus erfüllt werden, aber die manifesten Funktionen ins Hintertreffen geraten. Ein klassisches Beispiel hierfür wären JungwissenschafterInnen an den Universitäten, die ihre Arbeit als identitätsstiftend wahrnehmen und das trotz prekärer Arbeitsverhältnisse wie befristeten Dienstverträgen, noch dazu häufig in Teilzeit. Die auf vielen Universitäten üblichen Kettenverträge, also befristete Verträge, auf die weitere befristete Verträge folgen – bis zu dem Zeitpunkt, wo diese Form der „Verlängerung“ rechtlich nicht mehr erlaubt ist –, verschärfen diese Dynamik weiter. Sie locken JungwissenschafterInnen stets mit der „Karotte“ eines Folgevertrags oder zwingen sie kurzfristig, für ein oder zwei Semester auszusetzen, nur um danach wieder einen befristeten Job annehmen zu können. Viele akzeptieren diese Verhältnisse jedoch, da sie einerseits weiterhin die Hoffnung auf ein entfristetes Vertragsverhältnis hegen sowie andererseits ihre wissenschaftliche Arbeit als erfüllend wahrnehmen.
Im ungünstigsten Fall sind weder die manifesten noch die latenten Funktionen von Arbeit erfüllt. Dies ist beispielsweise in der oft isoliert durchgeführten (selbstständigen) Einfacharbeit der Fall. Die Betroffenen verdienen hier nicht nur schlecht, auch die Möglichkeiten für die von Jahoda erwähnte Erweiterung des sozialen Horizonts der Menschen durch gemeinsames Tätigsein werden extrem eingeschränkt. Dies gilt insbesondere für Beschäftigte, die bereits in besonders prekären Umständen arbeiten, wie Karin Sardadvar und Ursula Holtgrewe z. B. in einer Forschungsarbeit zur Reinigungsbranche zeigen: Seit den 1990er-Jahren wird die Reinigungsarbeit in Betrieben in Österreich vermehrt von „outgesourcten“ ArbeitnehmerInnen zu Büro-Randzeiten durchgeführt – das heißt, das ausgelagerte Reinigungspersonal kommt immer seltener mit der Stammbelegschaft in Kontakt.
Was macht gute Arbeit aus?
Im besten Fall sind moderne Arbeitsverhältnisse daher in der Lage, sowohl die manifesten als auch die latenten Funktionen von Arbeit zu erfüllen. Jahoda hat in diesem Zusammenhang, wie im Sammelband nachzulesen, auch von der Notwendigkeit einer „Humanisierung der Arbeit“ mit dem Ziel, die „Qualität der Arbeitserlebnisse zu verbessern“, gesprochen. Die Debatte über die Bedeutung sozialer Qualitäten der Arbeit wurde in den 1980er-Jahren geführt, ist jedoch in den letzten Jahrzehnten im Zuge der steten Ökonomisierung der Arbeitsmärkte in Vergessenheit geraten. Es wäre lohnenswert, diese Aspekte in der Auseinandersetzung mit „guter Arbeit“ und der „Zukunft der Arbeit“ wieder aufzugreifen und damit auch das Verhältnis von Arbeit und Erwerbsarbeit stärker ins Blickfeld der Aufmerksamkeit zu rücken.