Die Dissertation von Marie Jahoda mit einer umfangreichen Würdigung ihres Wirkens erscheint demnächst im Studienverlag. © A&W Blog
Die Dissertation von Marie Jahoda mit einer umfangreichen Würdigung ihres Wirkens erscheint demnächst im Studienverlag.Die realen Probleme der Menschen im Blick
Heute fokussiert sich gerade die Sozialwissenschaft immer mehr auf die Erforschung von Detailfragen, die ohne weiteren Kontext untersucht werden, und damit kommen auch die Situation der Betroffenheit sowie die Analyse gesellschaftlicher Auswirkungen zu kurz. Marie Jahoda wählte für ihre Forschungsarbeit einen anderen Weg.
Schon die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes ihrer Dissertation zeugt von Jahodas Bemühen, ihre persönlichen Überzeugungen in der wissenschaftlichen Arbeit unterzubringen. Sie erforschte die Lebensverläufe von Menschen, die um 1930 in den Versorgungshäusern lebten. Zu diesem Zweck erweiterte sie den methodischen Zugang ihrer Betreuerin Charlotte Bühler, die ihre Theorie über systematische Aspekte des menschlichen Lebenslaufes vorwiegend aus Biografien gut situierter Männer erarbeitet hatte, um zu überprüfen, ob diese Theorie auch unter den Lebensbedingungen der einfachen Leute funktioniert. Dazu führte sie Interviews mit 52 Menschen in Wiener Versorgungshäusern. Das verdeutlicht das Interesse Marie Jahodas an der konkreten Lebenssituation der Menschen, eine durchgängige Haltung in ihrer wissenschaftlichen Arbeit.
Nicht nur beobachten
Ähnliches gilt für die Forschungsarbeit in Marienthal. Schon der Schritt, wie es schlussendlich zur Wahl des Themas kam, zeigt Jahodas starken Bezug zu politisch-gesellschaftlichen Fragestellungen. Ursprünglich wollte die Forschungsgruppe um Paul Lazarsfeld das Freizeitverhalten der Menschen untersuchen, schließlich war gerade die Arbeitszeit verkürzt worden, und sie planten zu erforschen, was die Menschen mit der neu gewonnenen Freizeit anfingen. In einem Gespräch mit Otto Bauer, dem Vordenker der Sozialdemokratie, schlug dieser jedoch vor, gerade in Zeiten der wachsenden Arbeitslosigkeit die konkreten Auswirkungen der Arbeitslosigkeit zu untersuchen und dies in Marienthal zu tun. Auch die Methodik zur Durchführung der Studie war nie ein bloßes Beobachten der Zustände, sondern mit verschiedenen Initiativen zur Unterstützung der Betroffenen in Marienthal verbunden. So organisierte die Forschungsgruppe Schnittkurse und Kleideraktionen sowie Gesundheitsuntersuchungen für Kinder im Zuge der Feldarbeit in Marienthal.
Mut beweisen
Ein anderes Beispiel für Jahodas Zugang zur wissenschaftlichen Arbeit findet sich in den 1950er-Jahren, als sie an der New York University forschte. Es war der Höhepunkt der McCarthy-Ära, benannt nach dem Senator Joseph McCarthy, der im beginnenden Kalten Krieg Wortführer der antikommunistischen Bewegung in den USA war. Marie Jahoda schien als sozialistischer Flüchtling aus Österreich sicherlich nicht unverdächtig und wurde möglicherweise selbst überwacht, was sie aber nicht daran hinderte, sich als eine der ersten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler systematisch mit den Auswirkungen dieser Politik und der gesellschaftlichen Stimmung in den USA auseinanderzusetzen. Sie kritisierte in einer Studie gemeinsam mit Stuart W. Cook die Schaffung eines geistigen Klimas, das ideologische Unterwürfigkeit und Konformität erzeuge. Hier zeigt sich, dass Marie Jahoda auch als politischer Flüchtling nicht von ihrer politischen Grundhaltung und dem Fokus auf ganz konkrete, gesellschaftlich relevante Fragestellungen in ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin abrückte.
Folgenabschätzung
Marie Jahoda vertrat mit ihrem Zugang zur Forschung eine Nützlichkeitsperspektive für die Lebensrealität derer, die erforscht werden. Dieses Selbstverständnis zeigte sich auch, als sie in England tätig war und eine Studie über asiatische Flüchtlinge aus Uganda, einer ehemaligen englischen Kolonie, nicht veröffentlichte, weil die Ergebnisse zeigten, dass die Geflüchteten gegenüber den Schwarzafrikanern und Schwarzafrikanerinnen rassistisch eingestellt waren. Es bestand die Gefahr, dass eine Publikation Schaden in der englischen Öffentlichkeit anrichten würde, und das war für sie der Beweggrund, diese Forschungsarbeit nicht zu veröffentlichen.
Marie Jahoda als Vorbild
Marie Jahoda zeichnen ihre besondere Haltung gegenüber dem Forschungsgegenstand und die Kreativität in der Methodenwahl als Wissenschaftlerin aus – Eigenschaften, die im heutigen Wissenschaftsbetrieb aus systemischen Zwängen immer seltener werden, aber gerade der sozialwissenschaftlichen Forschung im Sinne ihrer Praxisrelevanz sehr guttäten. Auch die zentrale Frage ihrer Dissertation nach der sozialen Absicherung und Teilhabe an der Gesellschaft hat nichts an Aktualität verloren und bleibt auch heute eine immanent politische und gesellschaftliche Herausforderung.
Das muss uns gerade dann bewusst sein, wenn wir Marie Jahoda folgen wollen und danach streben, dass eines Tages die Lebenschancen so verteilt sind, dass allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft ein gutes Leben ermöglicht wird. Wenn wir die damit verbundenen politischen Herausforderungen bewältigen wollen, dann wird klar, wie wichtig es heute ist, dass sich Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler Marie Jahoda zum Vorbild nehmen und mit den gleichen Haltungen an die realen gesellschaftlichen Problemstellungen herangehen. Marie Jahoda ist und bleibt mit ihren Forschungsthemen, dem methodischen Zugang und ihrer politischen Haltung ein großes Vorbild.
Weiterführende Literatur:
Bacher, Johann/Kannonier-Finster, Waltraud/Ziegler, Meinrad (Hrsg.) (2017): Marie Jahoda. Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850–1930. Dissertation 1932, Studienverlag.
Fleck, Christian (2001): Marie Jahoda – ein Rollenmodell für heutige Sozialwissenschaftler oder Sozialwissenschaftlerinnen? Unveröffentl. Transkript eines Vortrages an der Johannes Kepler Universität Linz im Juni 2001.
Jahoda, Marie (o. J.) [2008]: Interview mit Hubert Christian Ehalt in Keymer (Sussex), 1996. In: Ich stamme aus Wien. Kindheit und Jugend von der Wiener Moderne bis 1938. Hrsg. v. Hubert Christian Ehalt, Weitra: Bibliothek der Provinz, 116–130.
Jahoda, Marie (1997): Biografisches Interview mit Marie Jahoda. In: „Ich habe die Welt nicht verändert.“ Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung. Hrsg. v. Steffani Engler und Brigitte Hasenjürgen, Frankfurt a. M.: Campus, 101–169.
Knight, Robert (1985): Interview mit Marie Jahoda am 28. August 1985. Quelle: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, zitiert nach: http://agso.uni-graz.at/jahoda/1024+/index.htm.
Mautner, M. [i. e. Marie Jahoda] (1937): Die Intellektuellen und die revolutionäre Bewegung in Österreich. In: Der Kampf N.F. 4 (1), 16–22.
Rothschild, Thomas (2003): Anachronistisch und vorbildlich – Marie Jahoda: ein Leben für die Unterprivilegierten. In: Wien und der Wiener Kreis. Orte einer unvollendeten Moderne. Ein Begleitbuch. Hrsg. v. Volker Thurm unter Mitarbeit von Elisabeth Nemeth, Wien: Facultas WUV, 230-232.