Selbstgesteuerte Arbeitszeiten – zwischen Zeitsouveränität und Selbstausbeutung

03. Dezember 2018

Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist seit Jahrzehnten ein heißes Eisen der politischen Auseinandersetzung. Sowohl ArbeitnehmerInnen als auch ArbeitgeberInnen haben ein Bedürfnis nach flexiblen Arbeitszeiten. Wie viel Mitsprache haben aber unselbstständig Beschäftigte in Österreich bei der Arbeitszeit und was bedeuten selbstgesteuerte Arbeitszeiten in der Praxis? Dort, in der gelebten Arbeitszeitgestaltung, zeigt sich, dass die Mehrheit immer noch nicht autonom ist, und dass wachsende Freiräume zu längeren Arbeitszeiten, aber auch zu mehr Zufriedenheit führen.

Eigenverantwortung! Sie wird in der Arbeitsorganisation laut Managementliteratur und Wissenschaft immer bedeutender. Neben Abfolge und Inhalt der Arbeit soll auch über den Arbeitsort, das Ausmaß und die Lage der Arbeitszeit selbst entschieden werden. Zugleich führe die Anforderung dieses weitreichenden Selbstmanagements zu Überforderung und Burn-out – so eine gängige Einschätzung.

Verliert Arbeitszeit in unserer modernen Arbeitswelt im Zuge ergebnisorientierter Arbeitsweisen insgesamt an Bedeutung? Wie bewährt sich die Diagnose eines Bedeutungsverlustes von Arbeitszeit­vorgaben in der Realität? Eine empirische Analyse der Daten des Mikrozensus Ad-hoc-Moduls 2015 zu Arbeitsorganisation und Arbeitszeitgestaltung wirft Licht auf diesen Themenkomplex. Für die Analyse wurden aus den Daten insgesamt zehn Typen flexibler Arbeitszeitgestaltung gebildet. Für die Bildung dieser Typen wurden drei Fragen verwendet: Fragen nach dem Grad der Selbststeuerung der Arbeitszeit, nach der Form der Zeiterfassung und nach einer Überstunden- oder All-in-Vereinbarung. Aus allen möglichen Kombinationen wurden häufig vorkommende Typen zusammengefasst.

Keine Mitsprache in der Arbeitszeitgestaltung ist nach wie vor Standard

Entgegen der weit verbreiteten Meinung sind nach wie vor häufig starre Arbeitszeitregime die Regel. Insgesamt haben 58 Prozent der unselbstständig Vollzeitbeschäftigten keine Autonomie in der Arbeitszeitgestaltung, bei den Frauen in Vollzeit sind es sogar 62 Prozent. 29 Prozent der Vollzeitbeschäftigten arbeiten mit teilweise vorgegebenen Arbeitszeiten. Über vollkommene Selbstbestimmung ihrer Arbeitszeit verfügen hingegen nur 13 Prozent der Vollzeitbeschäftigten. Vor diesem Hintergrund sind Diagnosen von absoluter Entgrenzung der Arbeitszeiten oder vom Arbeitskraftunternehmer als Leitfigur der modernen Arbeitswelt zu relativieren.

6 von 10 ArbeitnehmerInnen arbeiten ohne Zeitautonomie

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Arbeitszeitaufzeichnung als Schutzmaßnahme

Generell arbeiten ArbeitnehmerInnen mit selbstgesteuerten Arbeitszeiten durchschnittlich länger. Auffallend ist hierbei, dass ein höherer Grad der Selbststeuerung zwar mit mehr Arbeitsstunden einher­geht, nicht jedoch mit mehr Überstunden.

5,3 Prozent der unselbstständig Vollzeitbeschäftigten haben weder fixe Arbeitszeiten noch irgendeine Form der Zeiterfassung. Hier scheint eine korrekte Bestimmung der Arbeitszeit, geschweige denn eine Überstundenabgrenzung, kaum noch möglich zu sein. Eine automatische Zeiterfassung geht hingegen auch bei selbstgesteuerter Arbeitszeitorganisation mit durchschnittlich kürzeren Arbeitszeiten einher. Gerade für ArbeitnehmerInnen, die keine fix vorgegebenen Arbeitszeiten haben, ist es also umso wichtiger, auf korrekte Erfassung der gearbeiteten Zeiten zu achten.

Aufgabe der Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen, aber auch insgesamt aller für den Gesundheitsschutz von ArbeitnehmerInnen verantwortlichen Institutionen, ist es deshalb, ein Bewusstsein für die Gefahren, die mit selbstgesteuerter Arbeitszeit einhergehen, zu schaffen. Das sind neben langen Arbeitszeiten mit längerfristig negativen gesundheitlichen Folgen, die psychisch belastende Entgrenzung der Arbeitszeit, der potenzielle Verlust von Überstundeneinkommen, aber auch die Schwächung von kollektiven Zeitinstitutionen wie Feierabenden oder arbeitsfreie Wochenenden.

Eine vielfältige Arbeitszeitlandschaft mit vielfältigen Bedürfnissen

Moderne Arbeitszeitpolitik muss der Heterogenität der österreichischen Arbeitszeitlandschaft Rechnung tragen, die sich in besonderem Maße auch bei der Ungleichverteilung von Arbeitszeit­autonomie zeigt. So haben PflichtschulabsolventInnen etwa zu 85 Prozent fix vorgegebene und damit keine selbstgesteuerten Arbeitszeiten, wohingegen 70 Prozent der Uni- bzw. FH-AbsolventInnen ihre Arbeitszeiten zumindest teilweise selbst bestimmen können.

Hinsichtlich der Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse ist die stärkere Autonomie ambivalent einzustufen. Größere Autonomie ermöglicht nämlich einerseits Betreuungs- und Erwerbsarbeit besser zu vereinen, und andererseits kann vor allem kurzfristige Flexibilität auch zu einer Verstärkung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung führen. Österreich ist bereits jetzt dem Eineinhalbverdiener-Modell zuzurechnen, in dem bei Familiengründungen tendenziell Männer lange und Frauen in Teilzeit arbeiten. Ist Selbstteuerung mit kurzfristiger Flexibilität verknüpft und folgt diese vorwiegend betrieblichen Interessen, kann dies zu einer Verstärkung der Geschlechterunterschiede beitragen. Passen vor allem Männer ihre Arbeitszeit an betriebliche Belange an, müssen Frauen mehr zeitliche Flexibilität für Betreuungsarbeit aufbringen und haben weniger Zeit für Erwerbsarbeit zur Verfügung.

Zufriedenheitsparadox der Arbeitszeit

Obwohl ArbeitnehmerInnen häufig einen hohen Preis für größere Arbeitszeitautonomie in Form von langen Arbeitszeiten, unbezahlten Überstunden und einem Verwischen der Grenze zwischen Erwerbs­arbeit und Freizeit bezahlen, scheint sie dennoch positiv bewertet zu werden. So steigt bei größerer Arbeitszeitautonomie die durchschnittliche Zufriedenheit mit der Arbeitszeitgestaltung an und dies trotz zunehmender Länge der Arbeitszeit und stärkerer Entgrenzung. Es scheint beinahe paradox, wenn Vollzeitbeschäftigte mit Überstundensonderregelung, keiner Zeiterfassung und vollkommen selbstgesteuerten Arbeitszeiten von im Durchschnitt 49 Wochenstunden zu über 70 Prozent angeben, mit den Arbeitszeiten sehr zufrieden zu sein. Individuell und kurzfristig betrachtet kann das durchaus zutreffend sein. Langfristig und gesellschaftlich sind solche Praktiken allerdings als problematisch einzustufen.

So ist empirisch gut belegt, dass lange Arbeitszeiten auf Dauer negative Folgen für die Gesundheit und soziale Teilhabe haben. Angesichts dieser Zahlen wird sichtbar, dass auch Selbststeuerung einen regulatorischen Rahmen braucht, Haltegriffe und Leitplanken, die als Orientierung der individuellen Entscheidung dienen können.

Zeit für die Renaissance einer progressiven Arbeitszeitpolitik

Die Arbeitszeitregulierung hat verschiedene kollektive Funktionen, die durch zunehmende Eigenverant­wortung und Individualisierung des Zeithandelns der ArbeitnehmerInnen, aber auch durch Arbeitszeit­politik im Interesse der ArbeitgeberInnen, herausgefordert werden. Zu diesen kollektiven Funktionen zählen:

Ein progressives Arbeitszeitrecht muss zum Ziel haben, stärker als bisher den Bedürfnissen der ArbeitnehmerInnen gerecht zu werden. Die arbeitsrechtlich seit 1. September 2018 ausgeweitete Möglichkeiten zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten – und damit in der Realität häufig die Ausdehnung von Arbeitszeiten – müssen dringend durch Rechte der ArbeitnehmerInnen auf Gestaltungsautonomie, auch in Hinblick auf eine temporäre Reduktion der Arbeitszeiten (Zeitausgleich, Abbau von Überstunden), ausbalanciert werden.

Darüber hinaus sollte ein modernes Arbeitszeitrecht kollektive Zeitinstitutionen wie den Feierabend oder das freie Wochenende schützen und die gleiche Arbeitszeitverteilung der Geschlechter unterstützen. Gleichzeitig wäre eine Stärkung der Souveränität über die eigene Arbeits- und Lebenszeit, etwa in Form von lebensphasenspezifischen Arbeitszeitanpassungen oder einer Lebensarbeitszeit, wünschenswert. Denn es wäre höchste Zeit, dass der wirtschaftliche Forstschritt auch zu mehr Zeitwohlstand führt!

Dieser Beitrag basiert auf der kürzlich erschienenen Studie “Flexible Arbeitszeitarrangements aus der Perspektive österreichischer ArbeitnehmerInnen”.