EU-Wirtschaft ökonomisch, sozial und ökologisch nachhaltig gestalten!

05. Februar 2019

Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Eurozone verbesserte sich in den letzten Jahren nachhaltig, nicht jedoch die ökologische. Im Herbstpaket im Rahmen des letzten Europäischen Semesters der Juncker-Kommission werden diese Themen durchaus aufgegriffen, allerdings bleiben die Schritte halbherzig. Soziale Absicherung, Inklusion, niedrige Arbeitslosigkeit, gute Arbeitsbedingungen für alle und ökologische Grenzen müssen gleichzeitig adressiert werden.

Wie jedes Jahr erschien Mitte November das Herbstpaket der EU-Kommission, welches das Europäische Semester für das kommende Jahr einleitet und unter anderem den Jahreswachstumsbericht (AGS) mit den kurzfristigen Prioritäten enthält. Als Alternative wurde nun der unabhängige nachhaltige Jahreswirtschaftsbericht 2019 (iASES – früher iAGS) veröffentlicht.

Die Kommission nähert sich der Position des alternativen Wirtschaftsberichts an

Während in den Startjahren des Europäischen Semesters die Einschätzungen zwischen AGS und iAGS (jetzt iASES) vor allem in puncto Sparpakete und Anpassung der Leistungsbilanzungleichgewichte noch weit auseinanderlagen, kam es nun zu einer Annäherung. Zwar ist die EU-Kommission im AGS auf der Überschriftenebene ihrer harten Linie treu geblieben („solide öffentliche Finanzen“ und „Strukturreformen“), doch betont sie heute stärker die Notwendigkeit höherer öffentlicher Investitionen. Zudem ist sie flexibler bei der Auslegung der Solidität der öffentlichen Haushalte, möchte die Inklusion ins „Zentrum der Reformbemühungen“ stellen und spricht sich für höheres Lohnwachstum aus. Vor einigen Jahren war ein solcher Prioritätenwechsel in der Kommission noch undenkbar.

Der Anstieg der Beschäftigung in der EU um über 12 Mio. Menschen ließ die Arbeitslosigkeit wieder auf das Vorkrisenniveau fallen. Gemessen am Ziel der Vollbeschäftigung, ist die Arbeitslosenquote in der Eurozone mit 8,1 Prozent allerdings immer noch viel zu hoch. Das gilt auch für das nach wie vor starke Ausmaß atypischer Beschäftigung in der EU, das mit einem hohen Anteil der von Erwerbsarmut Bedrohten einhergeht. Positiv ist ebenso der Rückgang des öffentlichen Defizits der Eurozone von 2,5 Prozent des BIP 2014 auf geschätzte 0,6 Prozent 2018 – und das, obwohl es im Aggregat kaum nennenswerte weitere Konsolidierungspakete gegeben hat und die Nettoinvestitionsquote wieder minimal positiv ist.

Arbeitslosigkeit in der EU © A&W Blog
© A&W Blog

Lohn- und Arbeitsmarktpolitik überschattet von der Fiskalpolitik?

Ob die fiskalpolitische Ausrichtung moderat bleibt, ist abzuwarten, da es wieder einmal unterschiedliche Signale gibt. Die Empfehlung an die Eurozone, fiskalische Puffer aufzubauen, spricht für eine neuerlich verschärfte Budgetpolitik. Für eine anhaltend moderate Fiskalpolitik spricht, dass im Falle Italiens zumindest vorläufig die sofortige Eröffnung eines Defizitverfahrens für 2017 abgewendet wurde. Auch Griechenland wurden zusätzliche expansive Maßnahmen innerhalb des Spielraums zugestanden. Außerdem wird die Rolle öffentlicher Investitionen mehrmals betont.

Lohn- und Arbeitsmarktpolitisch empfiehlt die Kommission nach Jahren des „lohnpolitischen Interventionismus“ nun „in einem Kontext rückläufiger Tarifbindung (…) Maßnahmen zur Stärkung der institutionellen Kapazitäten der Sozialpartner“, nachdem die Reallöhne 2017 abermals langsamer stiegen als die Produktivität. Sie hält außerdem fest, dass höheres Lohnwachstum „Ungleichheiten reduzieren und die Aufwärtskonvergenz in Richtung besserer Lebensbedingungen fördern“ kann.

Eurozone: Löhne nach wie vor zu niedrig © A&W Blog
© A&W Blog

Damit trägt die Kommission endlich dem Umstand Rechnung, dass der mit Abstand größte Teil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nach europäischen Gütern und Dienstleistungen auf die EU selbst entfällt. Allein die private Nachfrage – die stark von den Löhnen bestimmt wird – ist dabei quantitativ bedeutender als die Nachfrage aus Drittstaaten. Damit berücksichtigt die Kommission, dass es nur dann zu einem anhaltenden Aufschwung – und damit einem weiteren Rückgang der Arbeitslosigkeit – kommen kann, wenn dieser integrativ ist. An höheren Arbeitsentgelten führt kein Weg vorbei, damit der Aufschwung bei allen ankommt.

Positiv ist zudem die Empfehlung für eine Ausweitung der aktiven Arbeitsmarktpolitik bzw. der Bildungssysteme und allgemein den Erwerb von Kompetenzen und Qualifikationen bzw. aktive Arbeitsmarktstrategien zur Unterstützung von Übergängen im Erwerbsleben zu werten. Der verbesserte Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsleistungen, Kinderbetreuung und Langzeitpflege wird ebenso angesprochen. Nicht zuletzt in den Verhandlungen rund um den mittelfristigen Finanzrahmen der EU wird sich zeigen, ob diesen Ankündigungen auch Taten folgen.

Wie im iASES betont, wäre aktive Arbeitsmarktpolitik einer der Teilbereiche öffentlicher Dienstleistungen, die sich besonders gut für eine stärkere Europäisierung eignen würden. Hauptsächlich braucht es jedoch eine Ausweitung auf nationaler Ebene – sowohl bei der aktiven als auch bei der passiven Arbeitsmarktpolitik. Der in der AK Wien entwickelte Vorschlag für europäische Mindeststandards in der Arbeitslosenversicherung wäre nicht nur eine Antwort darauf, sondern auch auf die europäische Debatte einer zusätzlichen makroökonomischen Stabilisierungsfunktion für die Eurozone.

Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion?

Nach einer ersten Reformoffensive unmittelbar nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise versuchte die Juncker-Kommission 2015 ein neuerliches WWU-Reformpaket in Gang zu setzen. Der Fortschritt hält sich jedoch in engen Grenzen. Bei der Bankenunion, mit der eine gemeinsame Regulierung und Aufsicht erreicht wurde, konnten zwar Fortschritte erzielt und dadurch die Stabilität des Bankensystems erhöht werden. Aber es bleiben zwei wesentliche Lücken bestehen: Weder wurde mit einer Bankenstrukturreform das Geschäftsbanken- vom Investmentbankrisiko stärker getrennt, noch gab es Fortschritte bei der Regulierung des Schattenbanksystems, die durch das vermehrte Wachstum von FinTechs immer dringlicher wird. Dagegen scheint die Aufwertung des ESM zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF) nun ebenso vom Tisch zu sein wie der Vorschlag für eine sehr begrenzte Investitionsstabilisierungsfunktion. Ausgerechnet einer der problematischen Punkte – ein Topf zur ambivalenten Unterstützung von Strukturreformen – bleibt auf der Agenda. Schlimmstenfalls werden dann – aus den vor allem von ArbeitnehmerInnen finanzierten EU-Beiträgen – Maßnahmen gefördert, die unter dem Banner der Wettbewerbsfähigkeit Arbeitsrechts- und Sozialabbau bewirken könnten.

Im iASES gehen wir auf die Reformdebatte einerseits mit konkretem Fokus auf die ökonomische Stabilisierung (verstärkte Koordinierung zum Abbau exzessiver Leistungsbilanzüberschüsse, ein nennenswertes Eurozonen-Budget und andere stabilisierende fiskalische Elemente oder Steuerharmonisierung) und andererseits auf die grundsätzliche Ausgestaltung der wirtschaftspolitischen Steuerung ein.

Obwohl diese eigentlich dem obersten Ziel gemäß Europäischen Verträgen, „dem Wohlergehen seiner Völker“, dienen sollte und damit sehr gut mit einem wohlstandsorientierten Steuerungsvorschlag oder den von der Weltgemeinschaft bis 2030 angestrebten 17 globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) kompatibel wäre, fokussiert sie in der Praxis einseitig auf nachrangige Ziele wie stabile Verschuldung und die Vermeidung von Leistungsbilanzdefiziten.

Auch der Endbericht der „Kommission für nachhaltige Gleichheit“, der 110 Maßnahmen für Wohlergehen und Nachhaltigkeit beinhaltet, argumentierte kürzlich für eine nachhaltigkeitsorientierte Governance mit den Eckpunkten eines dreijährigen Steuerungszyklus für die Groborientierung, ein reformiertes Europäisches Semester sowie einen nachhaltigen Entwicklungspakt anstelle des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Im iASES fordern wir darüber hinaus erstens eine langfristige Strategie bis 2030, die die SDGs in den Mittelpunkt rückt, und zweitens das magische Vieleck als zentrales Analyseinstrument für eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik sowie drittens ein dazu passendes integrales Indikatorenset.

Soziale und ökologische Schwerpunkte setzen

Gemessen am Ziel eines ausgewogenen sozialen, ökonomischen und ökologischen Fortschritts, greifen die Vorschläge der EU-Kommission für 2019 trotz Verbesserungen nach wie vor zu kurz. So spielen die sozialen Herausforderungen zwar eine stärkere Rolle, geraten gegenüber den ökonomischen Zielen aber einmal mehr in den Hintergrund, wenn es ans Eingemachte geht.

Anhand der Ausgrenzungsgefährdungsquote zeigt sich etwa, dass die Wirksamkeit sozialer Transfers zurückgeht, weil Sozialleistungen trotz der nach wie vor hohen Ungleichheit zumindest real tendenziell gekürzt werden – weiter befeuert u. a. durch den ständigen Verweis im Europäischen Semester auf die hohen Kosten für Pensionen und Gesundheit.

Die zur Korrektur an der Spitze der Einkommens- und Vermögensverteilung besonders wichtigen vermögens– und unternehmensbezogenen Steuern werden in der EU insgesamt jedoch – von einem ohnehin schon niedrigen Niveau – eher noch weiter gekürzt. Hinzu kommen die aggressiven Steuervermeidungsstrategien von multinationalen Konzernen, die die Finanzierungsgrundlagen von Sozialstaaten aushöhlen.

Ähnlich verhält es sich mit der ökologischen Dimension, wo erst jetzt im Aufschwung die Unterinvestition in eine klimaverträglichere Konsum- und Produktionsweise richtig sichtbar wird. Im iASES richten wir heuer den Fokus auf die Klimaziele der Mitgliedsstaaten, indem wir schätzen, wie viel investiert werden müsste, um das mit dem Ziel der Erderwärmung um maximal zwei Grad kompatible Limit für den CO2-Ausstoß nicht zu überschreiten.

Dafür wären mehrere Billionen an Investitionen notwendig. Der Vorschlag der EU-Kommission für den mittelfristigen Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 sieht in Summe „nur“ 1,3 Billionen Euro vor. Angesichts dessen, dass die Hälfte des CO2-Ausstoßes der EU auf die Energieerzeugung und den Verkehr entfällt und die nationalen Lösungsmöglichkeiten beschränkt sind, zeigt sich auch hier die Unzulänglichkeit des EU-Budgets. Die Aufforderung der EU-Kommission im AGS, „frühzeitig in die Modernisierung und Dekarbonisierung der Industrie sowie der Verkehrs- und Energiesysteme zu investieren“, allein wird nicht reichen.

Schlussfolgerungen

Von der Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung in der WWU ist kein umfassender Fortschritt in Richtung einer wohlstandsorientierten Politik zu erwarten. Allerdings könnte der Schwung aus der laufenden Debatte über die kurzfristigen Prioritäten für eine stärkere wohlstandsorientierte Ausrichtung im Rahmen des gegebenen Europäischen Semesters genutzt werden. Neben einer besseren Lohnentwicklung in der Eurozone insgesamt erfordert es mehr Augenmerk auf soziale und ökologische Probleme.

Aufgrund nach wie vor großer Unterschiede zwischen den einzelnen Volkswirtschaften sollte stärker koordiniert vorgegangen werden, etwa durch einen echten makroökonomischen Dialog, bestehende unverbindliche Instrumente wie die integrierten Leitlinien und neuen verbindlichen sozialen Mindeststandards. Darüber hinaus gilt es, die Quantität und Qualität der Beschäftigung zu fördern, in die ökologische Nachhaltigkeit zu investieren und Verteilungsfragen innerhalb der bzw. zwischen den Mitgliedsstaaten nicht nur zu diskutieren, sondern auch zu entschärfen.

 

Dieser Beitrag basiert im Wesentlichen auf dem iASES 2019, einer nunmehr bereits zum fünften Mal mit Beteiligung der AK Wien erstellten Alternative zum Jahreswachstumsbericht der EU-Kommission. Projektpartner sind das OFCE in Paris sowie der ECLM in Kopenhagen und das IMK in Düsseldorf.