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Damit trägt die Kommission endlich dem Umstand Rechnung, dass der mit Abstand größte Teil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nach europäischen Gütern und Dienstleistungen auf die EU selbst entfällt. Allein die private Nachfrage – die stark von den Löhnen bestimmt wird – ist dabei quantitativ bedeutender als die Nachfrage aus Drittstaaten. Damit berücksichtigt die Kommission, dass es nur dann zu einem anhaltenden Aufschwung – und damit einem weiteren Rückgang der Arbeitslosigkeit – kommen kann, wenn dieser integrativ ist. An höheren Arbeitsentgelten führt kein Weg vorbei, damit der Aufschwung bei allen ankommt.
Positiv ist zudem die Empfehlung für eine Ausweitung der aktiven Arbeitsmarktpolitik bzw. der Bildungssysteme und allgemein den Erwerb von Kompetenzen und Qualifikationen bzw. aktive Arbeitsmarktstrategien zur Unterstützung von Übergängen im Erwerbsleben zu werten. Der verbesserte Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsleistungen, Kinderbetreuung und Langzeitpflege wird ebenso angesprochen. Nicht zuletzt in den Verhandlungen rund um den mittelfristigen Finanzrahmen der EU wird sich zeigen, ob diesen Ankündigungen auch Taten folgen.
Wie im iASES betont, wäre aktive Arbeitsmarktpolitik einer der Teilbereiche öffentlicher Dienstleistungen, die sich besonders gut für eine stärkere Europäisierung eignen würden. Hauptsächlich braucht es jedoch eine Ausweitung auf nationaler Ebene – sowohl bei der aktiven als auch bei der passiven Arbeitsmarktpolitik. Der in der AK Wien entwickelte Vorschlag für europäische Mindeststandards in der Arbeitslosenversicherung wäre nicht nur eine Antwort darauf, sondern auch auf die europäische Debatte einer zusätzlichen makroökonomischen Stabilisierungsfunktion für die Eurozone.
Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion?
Nach einer ersten Reformoffensive unmittelbar nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise versuchte die Juncker-Kommission 2015 ein neuerliches WWU-Reformpaket in Gang zu setzen. Der Fortschritt hält sich jedoch in engen Grenzen. Bei der Bankenunion, mit der eine gemeinsame Regulierung und Aufsicht erreicht wurde, konnten zwar Fortschritte erzielt und dadurch die Stabilität des Bankensystems erhöht werden. Aber es bleiben zwei wesentliche Lücken bestehen: Weder wurde mit einer Bankenstrukturreform das Geschäftsbanken- vom Investmentbankrisiko stärker getrennt, noch gab es Fortschritte bei der Regulierung des Schattenbanksystems, die durch das vermehrte Wachstum von FinTechs immer dringlicher wird. Dagegen scheint die Aufwertung des ESM zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF) nun ebenso vom Tisch zu sein wie der Vorschlag für eine sehr begrenzte Investitionsstabilisierungsfunktion. Ausgerechnet einer der problematischen Punkte – ein Topf zur ambivalenten Unterstützung von Strukturreformen – bleibt auf der Agenda. Schlimmstenfalls werden dann – aus den vor allem von ArbeitnehmerInnen finanzierten EU-Beiträgen – Maßnahmen gefördert, die unter dem Banner der Wettbewerbsfähigkeit Arbeitsrechts- und Sozialabbau bewirken könnten.
Im iASES gehen wir auf die Reformdebatte einerseits mit konkretem Fokus auf die ökonomische Stabilisierung (verstärkte Koordinierung zum Abbau exzessiver Leistungsbilanzüberschüsse, ein nennenswertes Eurozonen-Budget und andere stabilisierende fiskalische Elemente oder Steuerharmonisierung) und andererseits auf die grundsätzliche Ausgestaltung der wirtschaftspolitischen Steuerung ein.
Obwohl diese eigentlich dem obersten Ziel gemäß Europäischen Verträgen, „dem Wohlergehen seiner Völker“, dienen sollte und damit sehr gut mit einem wohlstandsorientierten Steuerungsvorschlag oder den von der Weltgemeinschaft bis 2030 angestrebten 17 globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) kompatibel wäre, fokussiert sie in der Praxis einseitig auf nachrangige Ziele wie stabile Verschuldung und die Vermeidung von Leistungsbilanzdefiziten.
Auch der Endbericht der „Kommission für nachhaltige Gleichheit“, der 110 Maßnahmen für Wohlergehen und Nachhaltigkeit beinhaltet, argumentierte kürzlich für eine nachhaltigkeitsorientierte Governance mit den Eckpunkten eines dreijährigen Steuerungszyklus für die Groborientierung, ein reformiertes Europäisches Semester sowie einen nachhaltigen Entwicklungspakt anstelle des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Im iASES fordern wir darüber hinaus erstens eine langfristige Strategie bis 2030, die die SDGs in den Mittelpunkt rückt, und zweitens das magische Vieleck als zentrales Analyseinstrument für eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik sowie drittens ein dazu passendes integrales Indikatorenset.
Soziale und ökologische Schwerpunkte setzen
Gemessen am Ziel eines ausgewogenen sozialen, ökonomischen und ökologischen Fortschritts, greifen die Vorschläge der EU-Kommission für 2019 trotz Verbesserungen nach wie vor zu kurz. So spielen die sozialen Herausforderungen zwar eine stärkere Rolle, geraten gegenüber den ökonomischen Zielen aber einmal mehr in den Hintergrund, wenn es ans Eingemachte geht.
Anhand der Ausgrenzungsgefährdungsquote zeigt sich etwa, dass die Wirksamkeit sozialer Transfers zurückgeht, weil Sozialleistungen trotz der nach wie vor hohen Ungleichheit zumindest real tendenziell gekürzt werden – weiter befeuert u. a. durch den ständigen Verweis im Europäischen Semester auf die hohen Kosten für Pensionen und Gesundheit.
Die zur Korrektur an der Spitze der Einkommens- und Vermögensverteilung besonders wichtigen vermögens– und unternehmensbezogenen Steuern werden in der EU insgesamt jedoch – von einem ohnehin schon niedrigen Niveau – eher noch weiter gekürzt. Hinzu kommen die aggressiven Steuervermeidungsstrategien von multinationalen Konzernen, die die Finanzierungsgrundlagen von Sozialstaaten aushöhlen.
Ähnlich verhält es sich mit der ökologischen Dimension, wo erst jetzt im Aufschwung die Unterinvestition in eine klimaverträglichere Konsum- und Produktionsweise richtig sichtbar wird. Im iASES richten wir heuer den Fokus auf die Klimaziele der Mitgliedsstaaten, indem wir schätzen, wie viel investiert werden müsste, um das mit dem Ziel der Erderwärmung um maximal zwei Grad kompatible Limit für den CO2-Ausstoß nicht zu überschreiten.
Dafür wären mehrere Billionen an Investitionen notwendig. Der Vorschlag der EU-Kommission für den mittelfristigen Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 sieht in Summe „nur“ 1,3 Billionen Euro vor. Angesichts dessen, dass die Hälfte des CO2-Ausstoßes der EU auf die Energieerzeugung und den Verkehr entfällt und die nationalen Lösungsmöglichkeiten beschränkt sind, zeigt sich auch hier die Unzulänglichkeit des EU-Budgets. Die Aufforderung der EU-Kommission im AGS, „frühzeitig in die Modernisierung und Dekarbonisierung der Industrie sowie der Verkehrs- und Energiesysteme zu investieren“, allein wird nicht reichen.
Schlussfolgerungen
Von der Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung in der WWU ist kein umfassender Fortschritt in Richtung einer wohlstandsorientierten Politik zu erwarten. Allerdings könnte der Schwung aus der laufenden Debatte über die kurzfristigen Prioritäten für eine stärkere wohlstandsorientierte Ausrichtung im Rahmen des gegebenen Europäischen Semesters genutzt werden. Neben einer besseren Lohnentwicklung in der Eurozone insgesamt erfordert es mehr Augenmerk auf soziale und ökologische Probleme.
Aufgrund nach wie vor großer Unterschiede zwischen den einzelnen Volkswirtschaften sollte stärker koordiniert vorgegangen werden, etwa durch einen echten makroökonomischen Dialog, bestehende unverbindliche Instrumente wie die integrierten Leitlinien und neuen verbindlichen sozialen Mindeststandards. Darüber hinaus gilt es, die Quantität und Qualität der Beschäftigung zu fördern, in die ökologische Nachhaltigkeit zu investieren und Verteilungsfragen innerhalb der bzw. zwischen den Mitgliedsstaaten nicht nur zu diskutieren, sondern auch zu entschärfen.
Dieser Beitrag basiert im Wesentlichen auf dem iASES 2019, einer nunmehr bereits zum fünften Mal mit Beteiligung der AK Wien erstellten Alternative zum Jahreswachstumsbericht der EU-Kommission. Projektpartner sind das OFCE in Paris sowie der ECLM in Kopenhagen und das IMK in Düsseldorf.