Die Ungleichheit in Europa nicht nur benennen, sondern aktiv bekämpfen!

23. Januar 2018

Seit der Wirtschaftskrise, aber vor allem angesichts der politischen Umwälzungen der letzten Jahre (Stichwort Brexit, erhöhter Zuspruch zu rechten und rechtspopulistischen Parteien), ist die Zunahme sozialer Ungleichheit (wieder) im Zentrum öffentlich-politischer Debatten angelangt. Wie wir im neuesten unabhängigen Wachstumsbericht (iAGS) für die Eurozone zeigen, sind die sozialen Probleme jedoch fernab von gelöst. Gerade angesichts der verbesserten ökonomischen Rahmenbedingungen gilt es, diese nun in den Mittelpunkt der europäischen Politik zu rücken.

Gemeinsam mit zahlreichen KollegInnen aus internationalen Forschungsinstituten gibt die AK Wien jährlich einen „Gegenbericht“ (independent annual growth survey – iAGS) zum offizielle Wachstumsbericht der EU-Kommission (annual growth survey – AGS) heraus und weist auf aktuelle, soziale und ökonomische Probleme in der EU aus Sicht der ArbeitnehmerInnen hin.

Im neuesten iAGS-Bericht zeigen wir u. a., dass die Arbeitslosenrate in der EU zwar langsam abnimmt und schrittweise Vorkrisenniveau erreicht, jedoch weiterhin deutliche Unterschiede nach Ländern bestehen (z. B. eine hohe Arbeitslosenrate in Griechenland oder Spanien und eine geringere Arbeitslosenrate in Deutschland oder Österreich). Auch fällt es besonders vulnerablen sozialen Gruppen (wie jungen ArbeitnehmerInnen oder Personen mit formal schlechteren Qualifikationen) weiterhin schwer, am europäischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen; sie können vom wirtschaftlichen Aufschwung daher kaum profitieren.

Der generelle Rückgang der Arbeitslosigkeit ist zwar prinzipiell erfreulich, dennoch nimmt die Einkommensungleichheit in vielen europäischen Ländern (wie z. B. in Zypern oder Spanien) weiter zu. Dazu trägt u. a. die „bad jobs recovery“ bei, also die Tatsache, dass nach der Krise teils keine gut bezahlten Vollzeitstellen geschaffen wurden, sondern neue Jobs oft prekär bzw. Teilzeitjobs sind. 2016 galt daher auch rund jeder und jede fünfte europäische ArbeitnehmerIn als unterbeschäftigt, d. h. ohne Job, aber bereit zu arbeiten und/oder bereit mehr Stunden zu arbeiten, als sie das bislang machten.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

 

Rund zehn Prozent der ArbeitnehmerInnen in der EU waren 2015 armutsgefährdet (sog. working poor). Insgesamt betrachtet ist weiterhin beinahe ein Viertel der EU-Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Insbesondere in den südeuropäischen Ländern kam es in den letzten Jahren zu einem starken Anstieg des Armutsgefährdungsrisikos, was mit dem Abbau sozialer Schutzleistungen im Zuge der Austeritätspolitik zusammenhängt. Demgegenüber ist das Vermögen in Europa hochkonzentriert und die obersten fünf Prozent verfügen weiterhin über rund 38 Prozent des gesamten Nettovermögens, Tendenz steigend. Während die einen also über mehr als genug finanziellen Wohlstand verfügen, leben die anderen am Rande des Existenzminimums.

Was tun?

Zahlreiche Probleme also, die es zu lösen gilt und über deren Existenz mittlerweile (sieht man von den Diskussionen zur präziseren Messung einzelner Phänomene ab) sogar weitgehend Konsens besteht. Nicht nur internationale Organisationen, wie die OECD oder der IWF, sondern jüngst auch der offizielle Wachstumsbericht der EU-Kommission gestehen daher die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Eindämmung der Ungleichheit ein.

Allerdings besteht bei den dafür notwendigen Schritten weiterhin eine große Differenz. So werden im AGS u. a. folgende Maßnahmen zur Ungleichheitsreduzierung vorgeschlagen: eine Erhöhung der Mobilität von ArbeitnehmerInnen, mehr Bedürfnis- und Zielorientierung bei Sozialleistungen sowie Reformen bei den Pensions- und Gesundheitsleistungen mit besonderem Fokus auf Fragen der Kosteneffizienz und der finanziellen Nachhaltigkeit. Diese Maßnahmen sind aus ArbeitnehmerInnenperspektive allerdings alles andere als wünschenswert, erhöhen sie doch den Druck auf ArbeitnehmerInnen und auf die jeweiligen Sozialsysteme.

Wir schlagen im iAGS demgegenüber europäisch koordinierte Steuermaßnahmen – wie etwa die Erhöhung der Einkommenssteuer für Top-VerdienerInnen bzw. die Wiedereinführung von vermögensbezogenen Steuern, eine bessere Besteuerung von Unternehmen oder Maßnahmen zur Reduktion von Steuerflucht – vor. Gleichzeitig muss der Erosion des KV-Systems und der schwindenden Macht von Gewerkschaften in Europa etwas entgegengesetzt werden. Diese Forderung wurde unlängst auch in eine Studie des IWF aufgenommen, die gezeigt hat, dass starke Gewerkschaften nicht nur für ihre eigenen Mitglieder relevant sind, sondern Gesellschaften insgesamt gerechter machen. Darüber hinaus braucht es keinen Abbau, sondern eine weitere Stärkung der Sozialstaaten. Eine Politik gegen die Ungleichheit muss, wie unlängst das IMK in einem Bericht festgestellt hat, bei allen gesellschaftlichen Gruppen ansetzen: Sie muss die „Starken beteiligen“, die „Mitte stärken“ und die „Armut vermindern“.

Sozialeres Europa?

Werden diese Forderungen weiterhin auf der Wunschliste bleiben oder ist eine Trendumkehr auf europäischer Ebene in Sichtweite? Auf den ersten Blick ist man geneigt, letzteres zu hoffen. Schließlich haben jüngst auch die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten feierlich die „Europäische Säule sozialer Rechte“ proklamiert, die nun die soziale Integration der Europäischen Union sicherstellen soll. Erste Analysen zeigen aber, dass die soziale Säule eher ein symbolisches Lippenbekenntnis darstellt und die vorgeschlagenen Maßnahmen sehr widersprüchlich sind. Ein tatsächlicher Kurswechsel hin zu einem sozialen Europa wird damit also nicht eingeleitet. Dies ist angesichts der politischen Kräfteverhältnisse auf europäischer Ebene und der dominanten wirtschaftspolitischen Vorstellungen wohl auch ein höchst schwieriges Unterfangen. Wenn wir in den nächsten Jahren nicht in einem gänzlich autoritär-rechtspopulistischen Europa aufwachen wollen, liegt es daher an uns, für eine Neuausrichtung der EU einzutreten, durch die die wachsende Ungleichheit tatsächlich bekämpft werden kann.