Am 26. April 2017 hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) vorgelegt. Als eine der wesentlichen sozialen Grundrechte enthält die ESSR auch die Forderungen nach einer „gerechten Entlohnung“ und „angemessenen Mindestlöhnen“. Damit werden einmal mehr normative Grundlagen für eine europäische Mindestlohnpolitik und eine damit implizit verbundene lohnpolitische Neuorientierung auf europäischer Ebene formuliert. Mit den diesjährigen länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters hat die Kommission allerdings die erste Chance verstreichen lassen, die in der ESSR formulierten hehren Ziele tatsächlich auch in die Praxis umzusetzen.
Bekenntnis zu „gerechter Entlohnung“ und „angemessenen Mindestlöhnen“
Die ESSR besteht aus 20 rechtlich nicht verbindlichen Grundsätzen, deren rechtliche Umsetzung auf der regionalen, nationalen oder EU-Ebene erfolgt – je nach Zuständigkeit der unterschiedlichen Ebenen im jeweiligen Politikfeld. Die Grundsätze richten sich primär an die EU-Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen im Sinne einer Orientierungshilfe für ihre zukünftigen Aktivitäten in den verschiedenen Politikfeldern.
Im sechsten Grundsatz zu Löhnen bekennt sich die ESSR explizit zu den folgenden drei Punkten:
(1) dem Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „auf eine gerechte Entlohnung, die ihnen einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht“
(2) „angemessenen Mindestlöhnen, die … den Bedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien gerecht werden“
(3) Vermeidung von Erwerbsarmut
Auch wenn die ESSR bisweilen als widersprüchliche Initiative kritisiert wurde, die lediglich die guten Absichten der EU widerspiegelt, liefert sie doch politische Argumente für einen alternativen lohn- und tarifpolitischen Ansatz. Ein Ansatz, der sich von der bisherigen engen angebotsseitigen Orientierung der Kommission wegbewegt, in der Löhne primär als Kostenfaktoren wahrgenommen wurden – hin zu einem stärker nachfrageorientierten Ansatz, der die Rolle von Löhnen für die Förderung der Binnennachfrage und des sozialen Zusammenhalts betont.
Die ESSR könnte eine solche lohnpolitische Umorientierung in zweierlei Hinsicht unterstützen: Zum einen kann sie zu einem Wandel des grundsätzlichen Argumentationsmusters und Diskurses beitragen, auf dem der lohnpolitische Ansatz der Kommission beruht; und zum anderen kann die ESSR für die tatsächliche Umsetzung eines solchen alternativen Ansatzes benutzt werden, vor allem durch die Entwicklung einer europäischen Mindestlohnpolitik.
Wandel des bisherigen lohnpolitischen Diskurses auf europäischer Ebene
In jüngster Zeit gab es vermehrt Anzeichen für einen Wandel des lohnpolitischen Diskurses in den europäischen Institutionen. So räumt zum Beispiel die Kommission in ihrem Jahreswachstumsbericht 2017 ein, dass „zu geringe Lohnentwicklungen zu einer schwächeren Gesamtnachfrage und weniger Wachstum führen“ können. Außerdem wird vonseiten der Europäischen Zentralbank (EZB) seit längerem darauf hingewiesen, dass für die Preisstabilität eine höhere Lohndynamik notwendig ist, um deflationäre Tendenzen zu verhindern. Erst kürzlich hat sich das EZB-Präsidiumsmitglied Peter Praet für eine stärkere Lohndynamik in Europa ausgesprochen, um das Inflationsziel der EZB von zwei Prozent zu erreichen. Damit rückt eine nachfrageorientierte Betrachtung der Lohnpolitik deutlich in den Vordergrund.
Vor diesem Hintergrund kann das klare Bekenntnis zu dem sozialen Recht auf „gerechte Entlohnung“, die einen angemessenen Lebensstandard garantiert und zu „angemessenen Mindestlöhnen“, die den Bedürfnissen der Beschäftigten und ihrer Familien gerecht werden, als ein weiteres Beispiel für eine umfassendere Wahrnehmung der Rolle von Löhnen angesehen werden.
Mit diesen Bekenntnissen greift die ESSR zentrale Forderungen der Gewerkschaften nach stärkeren Lohnerhöhungen bzw. angemessenen Mindestlöhnen auf, wie diese zum Beispiel in der im März 2017 vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) verabschiedeten Entschließung zu Niedrig- und Mindestlöhnen formuliert wurden. Ohne den Begriff „living wage“ explizit zu verwenden, formuliert die ESSR den Anspruch, dass Mindestlöhne living wages sein sollten – d. h. Löhne, die über das bloße Existenzminimum hinausgehen und Arbeitnehmern und ihren Familien eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ermöglichen.
Allerdings zeigen die Erfahrungen der Vergangenheit, dass eine neue Rhetorik in Europa keinesfalls automatisch auch zu einem Wandel der konkreten Politik führen muss. Insbesondere im Bereich der Lohn- und Tarifpolitik war der von den EU-Institutionen verfolgte Ansatz nach wie vor auf eine moderate Lohnentwicklung und eine Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme ausgerichtet.
Die ESSR als Instrument zur Umsetzung einer alternativen Lohn- und Mindestlohnpolitik
Wie die Kommission in einem den Vorschlag zur Einrichtung der ESSR begleitenden Arbeitspapier klarstellt, ist ein Bekenntnis zur „gerechten Entlohnung“ und zu „angemessenen Mindestlöhnen“ an sich nichts Neues.
Sowohl die 1961 vom Europarat verabschiedete Europäische Sozialcharta als auch die EG-Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer aus dem Jahr 1989 enthalten fast identische Formulierungen. Das neue an der ESSR ist jedoch deren enge Verknüpfung mit konkreten Umsetzungs- und Überwachungsmechanismen wie zum Beispiel dem Europäischen Semester und dem sogenannten „Social Scoreboard“, das einen Katalog sozialer Indikatoren zur Überwachung der Entwicklung in den EU-Staaten enthält. Diese enge Verknüpfung mit Umsetzungs- und Überwachungsmechanismen kann als Indikator für das ernsthafte Bemühen um eine konsequente Umsetzung angesehen werden.
Die ESSR könnte eine konsequente Umsetzung auf zwei unterschiedliche Wege fördern: Zum einen stellt die ESSR – nach deren Proklamation durch die Kommission, dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten im Rat – ein Schutzschild gegen Maßnahmen der Kommission dar, die eine Umsetzung der Grundprinzipien durch die Mitgliedstaaten gefährden. Zum anderen definieren die Grundprinzipien selbst wichtige Orientierungspunkte für zukünftige Aktivitäten der Kommission. Beide Aspekte gelten insbesondere für die länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters.
Praxistest: länderspezifische Empfehlungen
Der erste Praxistest, wie ernst es der Kommission mit dem Ziel der Förderung einer „gerechten Entlohnung“ und „angemessener Mindestlöhne“ durch die ESSR tatsächlich ist, sind die diesjährigen länderspezifischen Empfehlungen, die von der Kommission am 22. Mai 2017 veröffentlicht wurden.
Das Ergebnis ist ziemlich enttäuschend. Positiv zu vermerken ist zunächst, dass Deutschland und die Niederlande dazu aufgefordert wurden, die Voraussetzungen für ein höheres Reallohnwachstum zu schaffen. Beim Thema Mindestlöhne reflektieren die Empfehlungen jedoch die noch immer grundsätzlich sehr kritische Einschätzung gegenüber einer stärkeren Erhöhung der Mindestlöhne. Keine einzige der Empfehlungen enthält zum Beispiel die Aufforderung, den Mindestlohn auf 60 Prozent des nationalen Medianlohns anzuheben – wie dies z. B. vom EGB gefordert wird. Letzteres wird in der internationalen Mindestlohndiskussion immer mehr als ein Kriterium für „angemessene Mindestlöhne“ angesehen. So entspricht auch die Forderung des ÖGB nach einem Mindestlohn von 1.700 € im Monat etwa diesem Schwellenwert von 60 Prozent des nationalen Medianlohns.
Die Kommission hat im Gegenteil Ländern wie Portugal und Frankreich, die diesem Schwellenwert sehr nahe kommen (bzw. im Falle Frankreichs sogar erfüllen), implizit unterstellt, dass der relativ hohe Mindestlohn der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Wettbewerbsfähigkeit zuwiderlaufen und die Beschäftigungschancen von gering-qualifizierten Beschäftigten einschränken könnte. Sehr kritisch wurden auch die jüngsten Mindestlohnsteigerungen in Bulgarien und Rumänien betrachtet – beides Länder mit einem sehr niedrigen absoluten Mindestlohnniveau. Die Begründung hierfür war, dass die Steigerungen die Balance zwischen dem Ziel der Förderung von Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit und dem Ziel des Schutzes der Arbeitseinkommen gefährden. Beide Länder erhielten daher die Empfehlung, für mehr Transparenz bei der Festsetzung des Mindestlohns zu sorgen – was in der Sprache der Kommission häufig ein Euphemismus ist für die Aufforderung, ein moderateres Wachstum der Mindestlöhne sicherzustellen.
Drei Schritte zu einem sozialeren Europa
Alles in allem zeigt die Erfahrung der diesjährigen länderspezifischen Empfehlungen, dass wir trotz des Potenzials der ESSR, eine Wende des dominanten lohnpolitischen Ansatzes zu unterstützen, in der Praxis noch sehr weit von der Erreichung dieses Ziels entfernt sind. Gewerkschaften und andere progressive zivilgesellschaftliche Kräfte müssen daher den Druck auf die europäischen Institutionen und nationale Regierungen aufrechterhalten, damit auf die vielversprechenden Worte in der ESSR auch konkrete Taten folgen.
Ein erster Schritt zur Stärkung der ESSR wäre eine Überarbeitung des Europäischen Semesters, indem man sicherstellt, dass die soziale Dimension und sozialen Rechte tatsächlich den gleichen Stellenwert wie ökonomische Ziele haben. Aus dem gleichen Grund wäre es auch von zentraler Bedeutung, ein soziales Fortschrittsprotokoll zukünftig im EU-Vertrag zu verankern. Um das im ESSR gemachte Bekenntnis zu einer „fairen Entlohnung“ tatsächlich in die Praxis umzusetzen, bedarf es zudem einer europäischen Mindestlohnpolitik, die von der Idee getragen wird, dass alle Mindestlöhne living wages sein – und daher mindestens 60 Prozent des nationalen Medianlohns betragen – sollten.
Eine englische Vorversion dieses Beitrags erschien vor Kurzem auf Social Europe.