Die Auswirkungen der „Digitalisierung der Wirtschaft“ auf die Arbeitsmärkte, auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit sind Gegenstand zahlreicher Studien, Szenarien und Prognosen. Bei allen Unterschieden zwischen diesen Arbeiten gibt es einen sich durchziehenden Aspekt. Mit dem „digitalen Wandel“ wird eine Verstärkung und Beschleunigung von Trends erwartet, die die Entwicklung der Arbeitsmärkte bereits seit längerem prägen: Entgrenzung von abhängiger Erwerbsarbeit in zeitlicher, örtlicher und auch rechtlicher Sicht, deutliche Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitszeiten sowie sich stark ändernde Anforderungen an das berufliche Wissen und Können abhängig Erwerbstätiger. Doch was bedeutet das für die Arbeitslosenversicherung?
Diskussionen über Auswirkungen auf die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit fehlen bislang
Daher hat ein Team der Arbeitnehmerkammer Bremen und der Arbeiterkammer Wien (Regine Geraedts, Peer Rosenthal und Axel Weise aus Bremen, Silvia Hofbauer und Gernot Mitter aus Wien) Thesen entwickelt, die sich um folgende Fragen drehen: Was sind Eckpunkte für eine Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherungssysteme in Deutschland und Österreich? Und – damit verbunden – welche Anforderungen müssen aus der Sicht von abhängig Erwerbstätigen an die aktive Arbeitsmarktpolitik gestellt werden, damit diese mit den erwarteten tiefgreifenden Änderungen der Qualifikationsanforderungen und Umwälzungen in den Beschäftigungssystemen Schritt halten können? Folgende Überlegungen möchten wir daher zur Diskussion stellen:
Eine Arbeitslosenversicherung 4.0 erfordert einen modernisierten ArbeitnehmerInnen-Begriff
Eine Arbeitslosenversicherung 4.0 kann die erwartete weitere Entgrenzung der vertragsrechtlichen Erscheinungsformen von Erwerbsarbeit und insbesondere die Zunahme wirtschaftlich abhängiger, formalrechtlich aber selbstständiger Erwerbsarbeit nur im Rahmen eines modernisierten arbeitspolitischen Ordnungsrahmes auffangen. Es braucht – nicht nur auf nationalstaatlicher, sondern zumindest auf Ebene der EU – eine Integration der „Freelancer“, „Scheinselbstständigen“, „WerkvertragsnehmerInnen“ und jener Personen, die diesen ähnlich sind, egal wie sie bezeichnet werden, in einen erweiterten ArbeitnehmerInnen-Begriff als Grundlage für soziale Absicherung bei Arbeits- bzw. Erwerbslosigkeit.
Sozialversicherung hat Vorrang vor einer Grundsicherung
Ein Abgehen vom Sozialversicherungsprinzip und ein Umstieg auf ein Grundsicherungssystem, sei es nun bedarfsorientiert oder bedingungslos, ist abzulehnen. Denn die durch ein Sozialversicherungssystem bewirkte Trias von erworbenem – und verfassungsrechtlich geschütztem! – Sozialkapital, den damit verknüpften Rechten und öffentlich garantierten Dienstleistungen erscheint als der sozialstaatliche Vorteil gegenüber Grundsicherungssystemen. Diese Vorteile angesichts tiefgreifender Umbauprozesse ganzer Beschäftigungssysteme aufzugeben, würde nur zu sozialstaatlichem Rückschritt führen.
Drei zentrale Anforderungen an eine Arbeitslosenversicherung 4.0: Statusschutz, Qualifizierungsschwerpunkt, armutsfeste Leistungen
Zum einen geht es um den Schutz des erreichten Status betroffener Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Damit sind zunächst die Zugangsbedingungen zu den Geldleistungen einer Arbeitslosenversicherung 4.0 angesprochen. Die Regeln für die sogenannten „Anwartschaften“, also die Anzahl der für die Inanspruchnahme von Geldleistungen notwendigen Versicherungszeiten, müssen an die Realität immer stärker fragmentierter Beschäftigungsverläufe von unselbstständig Erwerbstätigen angepasst werden. Es sind hier aber auch die Zumutbarkeitsbestimmungen angesprochen, die die Mindeststandards von Arbeitsverhältnissen festlegen, die von LeistungsbezieherInnen im Vermittlungsfall akzeptiert werden müssen. Ausgebaute Mechanismen zum Schutz des erarbeiteten Qualifikationsniveaus und der erreichten Einkommenshöhe sind erforderlich, um ArbeitnehmerInnen vor allzu raschem Statusverlust durch Arbeitslosigkeit zu schützen.
Neben Geldleistungen zur Abfederung des Risikos „Einkommenslosigkeit infolge von Arbeitslosigkeit“ muss eine Arbeitslosenversicherung 4.0 auch eine Geldleistung zur Bewältigung des Risikos „fehlende oder nicht (mehr) nachgefragte berufliche Qualifikation“ anbieten. Auf diese Leistung besteht grundsätzlich Rechtsanspruch. Sie ermöglicht den Betroffenen auch längere Weiterbildungsphasen für das Erlernen eines neuen Berufes oder eines auf dem Arbeitsmarkt nachgefragten qualifikatorischen Fertigkeits- und Fähigkeitsbündels. Das von der AK Wien vorgestellte Konzept eines „Qualifizierungsgeldes“ stellt einen ersten Vorschlag für eine Ermöglichung beruflicher Höher- oder Umschulung dar.
Die dritte Anforderung an eine Arbeitslosenversicherung 4.0 lautet: Ihre Geldleistungen sind strukturell armutsfest ausgestaltet. Für Österreich würde das jedenfalls eine Erhöhung der Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld und eine längere Bezugsdauer erfordern. In Deutschland müssten die statusvernichtenden und armutsgefährdenden Wirkungen sofortigen Umstieges vom Arbeitslosengeld auf eine bedarfsgeprüfte Grundsicherung wohl durch längere Bezugsdauern beim Arbeitslosengeld zumindest entschärft werden.
Arbeitsmarktpolitische Implikationen
Es geht zunächst um eine Individualisierung der im Rahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik angebotenen Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen. In Zeiten disruptiver Entwicklungen bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen und der damit verbundenen Unsicherheiten auch im Hinblick auf die „Qualifikationsanforderungen der Wirtschaft“ sind die einzelnen Menschen und ihre jeweiligen Eignungen und Neigungen der Ausgangspunkt für im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung gestellte Weiterbildungsangebote. Das erfordert unter anderem vor allem den Aufbau von quantitativ und qualitativ ausreichender Bildungs- und Bildungswegberatung sowie von Unterstützungsangeboten, wenn Probleme während bzw. mit den Bildungsmaßnahmen bewältigt werden müssen.
Der zweite Entwicklungsstrang kann „Unterstützung von ArbeitnehmerInnen und Unternehmen bei der Bewältigung technologisch induzierter Veränderungen bei Produktion und Dienstleistungserbringung“ genannt werden. Hier sind zunächst Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen angesprochen, es geht aber auch um einen Ausbau des präventiven, Arbeitslosigkeit vermeidenden Aspekts aktiver Arbeitsmarktpolitik. Ausgehend von den bestehenden Möglichkeiten wie den österreichischen Arbeitsstiftungen oder der in beiden Ländern vorhandenen „Kurzarbeit mit Qualifizierungselementen“ sollten Instrumente entwickelt werden, die solche Anpassungsprozesse unter Vermeidung von Arbeitslosigkeit für die Beteiligten leichter bewältigbar machen.
Die dritte Säule einer Arbeitsmarktpolitik 4.0 ist die Sicherung von Teilhabe an Erwerbsarbeit für Personengruppen mit sogenannten „Vermittlungseinschränkungen“. Es braucht auch dauerhaft ausgerichtete, öffentlich organisierte und finanzierte Beschäftigungsmöglichkeiten für diejenigen, die aus verschiedensten Gründen dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt hinausgedrängt werden. Hier sind neben den üblichen Lohnsubventionen im Fall der Beschäftigung von arbeitslosen Personen aber auch innovativere Instrumente zu entwickeln und einzusetzen. Die Aktion +20.000 mit der Zielsetzung der Schaffung öffentlich finanzierter Dauerarbeitsplätze in Bereichen kommunaler Dienstleistungen ist ein Ansatz, der weiter verfolgt werden sollte. Die gezielte Nutzung vergaberechtlicher Möglichkeiten, genossenschaftlich organisierte Arbeit oder die Entwicklungen im Bereich der „sozial-integrativen Unternehmen“ können weitere wichtige Beiträge zur Entwicklung von Beschäftigungsmöglichkeiten für ausgrenzungsbedrohte ArbeitnehmerInnen-Gruppen leisten.
Die Digitalisierung der Erbringung von arbeitsmarktpolitischen Diensten: Der Mensch muss im Mittelpunkt bleiben
Die „Digitalisierung“ wird auch bei der Erbringung sämtlicher Dienste einer Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik 4.0 zunehmend von Bedeutung sein. Damit ist unbestreitbar eine ganze Reihe von Vorteilen verbunden – etwa bei der Beantragung von Leistungen oder bei der Organisation und Durchführung von Weiterbildungsangeboten oder bei der Unterstützung von Beratungsvorgängen. Die Möglichkeit von umfangreichen Datenanalysen darf aber nicht dazu führen, dass etwa Weiterbildungsangebote einzelnen Betroffenengruppen grundsätzlich vorenthalten werden. „Big Data“ in der Arbeitsmarktpolitik soll die individuellen, persönlichen Beratungs- und Betreuungsvorgänge unterstützen, nicht aber einengen und präformieren oder gar ersetzen.
Finanzierung passiver und aktiver Arbeitsmarktpolitik im digitalen Wandel – eine große politische Herausforderung
Und natürlich stellt sich die Frage nach der Finanzierung des vorgeschlagenen Ausbaues der passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die Grundlage sollen selbstverständlich die Sozialversicherungsbeiträge von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen sein. Dabei muss es gelingen, auch ArbeitgeberInnen zu Beiträgen verhalten zu können, die ihre Arbeit in einem globalen und digitalen Produktionsraum organisieren und sich damit der jeweiligen nationalstaatlich geregelten Beitragspflicht entziehen können. Unbestritten ist auch, dass Elemente einer Arbeitslosenversicherung 4.0 (etwa die strukturelle Armutsvermeidung bei der Leistungsgestaltung) oder die Leistungen zur Existenzsicherung bei umfangreichen Weiterbildungsmaßnahmen aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden müssen. Wichtig ist dabei Kontinuität und Verlässlichkeit dieser Zuschüsse in die Arbeitslosenversicherung aus dem allgemeinen Staatshaushalt. Letztendlich geht es auch hier um die Frage gerechter Verteilung der sogenannten „Digitalisierungsdividende“ – eine enorme Herausforderung für die Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen auf nationaler und internationaler Ebene.
Fazit
Die Arbeitslosenversicherungen in Deutschland und Österreich haben sich in den tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte als sehr anpassungsfähig erwiesen. Dieser Weg der laufenden und die Interessen der ArbeitnehmerInnen und der Unternehmen austarierenden Anpassung an Veränderungen kann und soll weitergegangen werden. „Disruptive“ Politiken, wie etwa der von vielen propagierte Umstieg in Grundsicherungsmodelle, bergen die Gefahr, dass wichtige gesamtgesellschaftliche und volkswirtschaftliche Funktionen moderner Sozialversicherungssysteme einfach über Bord geworfen werden. Deswegen sollte die politische Kraft gerade von den Vertretungen der ArbeitnehmerInnen auf die Anpassung und Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung konzentriert werden und nicht auf deren Beseitigung. Es wird ohnehin schwierig genug.