Die vier Grundfreiheiten (Art. 26 AEUV) sind Kern des Europäischen Binnenmarktes. Sie waren Ausgangspunkt für die Schaffung von Wohlstand und das Zusammenwachsen Europas. Wie konnte es aber dazu kommen, dass in den letzten Jahren die Unterstützung für den europäischen Integrationsprozess schwindet? Weil die EU immer mehr mit dem Abbau von sozialen und demokratischen Rechten in Verbindung gesetzt wird.
Dabei verspricht Art. 3 EUV ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum und eine soziale Marktwirtschaft. Diese soll zwar in hohem Maße wettbewerbsfähig sein, aber mit dem Ziel der Vollbeschäftigung und des sozialen Fortschritts erreicht werden.
Europa heute: Binnenmarkt als Motor der zentrifugalen Kraft statt der Konvergenz
Mit der Einheitlichen Europäischen Akte, dem Sozialprotokoll im Vertrag von Maastricht und schließlich dem Vertrag von Lissabon wurde die EU ermächtigt, Mindeststandards in allen Bereichen zu erlassen, außer in jenen, die Arbeitsentgelt, Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht betreffen.
Trotz dieser institutionellen Verbesserung blieb die EU-Gesetzgebung zu sozialen Mindeststandards unsystematisch und fragmentarisch. Die Versuche, das Spannungsverhältnis zwischen Dienstleistungs- bzw. Niederlassungsfreiheit und sozialen Aspekten aufzulösen, blieben vereinzelt. Die Unzulänglichkeit der EU-Gesetzgebung zeigte sich aber auch beim Management der Finanzkrise, wo im Rahmen der vorherrschenden Austeritätsstrategie die Mitgliedstaaten Südeuropas gezwungen wurden, ihre Kollektivvertragssysteme aufzugeben. Wie konnte es dazu kommen?
These 1: Das unausgewogene Verhältnis zugunsten von Liberalisierung und zulasten sozialer Regulierung führt zu einem Legitimationsproblem und Verlust demokratischer Gestaltung
Die Einkommensungleichheiten der Mitgliedstaaten nahmen seit Beginn der 1980er-Jahre zu. Das seit 2008 praktizierte Euro-Krisenmanagement verfolgt mit dem Abbau von Sozialstaatlichkeit und ArbeitnehmerInnen-Rechten einen harten Austeritätskurs und bedroht die wirtschaftliche Stabilität der Eurozone. Um die EU wieder zu einem lebenswerten und prosperierenden Raum für alle zu machen, müssen deshalb die Märkte wieder reguliert werden.
Die wettbewerbsrechtlichen Instrumente des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) beschränken die Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten. Inzwischen gibt es keinen Bereich des öffentlichen Lebens, welcher nicht für private Unternehmen geöffnet worden ist. Stehen aber einmal öffentlich-rechtliche Betreiber, wie bei Schiene, Strom und Post, mit privaten Unternehmen im Wettbewerb, so sind die EU-Wettbewerbsregeln anzuwenden. Diese haben nur die Marktmacht im Fokus und berücksichtigen keine ökonomischen oder sozialen Folgen. Privatunternehmen bieten aber natürlich nur dort ihre Dienste an, wo Gewinn zu erwarten ist. Die Kosten – wie Investitionen in den Erhalt der Infrastruktur – werden sozialisiert, der Gewinn aus dem Betrieb lukrativer Dienste privatisiert.
Selbst die Reform des EU-Vergaberechts hat nur bedingt positive Wirkungen mit sich gebracht. Zwar dürfen soziale Kriterien in die Ausschreibung aufgenommen werden. Es fehlen jedoch nach wie vor Bestimmungen, die eine konsequente Bekämpfung von Lohndumping verhindern. Um den sozialen Charakter der europäischen Integration zu verteidigen, muss dem systematischen Abbau staatlicher Leistungen entgegengewirkt werden. Es bedarf einer „Sozialisierung“ des Wettbewerbsrechts. Zudem muss verhindert werden, dass das EU-Wettbewerbsrecht ohne Legitimationsbedarf in die rechtlichen Strukturen der Mitgliedstaaten eingreift. Dienste der Daseinsvorsorge müssen aus den Fesseln des Beihilferechts befreit werden!
These 2: Radikalisierung der Binnenmarktintegration durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)
Die geringe Entwicklung der sozialen Gesetzgebung ist auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zurückzuführen. Sie führt zu einer „Radikalisierung der Binnenmarktintegration“. Eine politische Korrektur ist schwierig: Ist ein Urteil auf Grundlage des europäischen Primärrechts gefällt, bedarf eine Änderung der Einstimmigkeit aller nationalen Regierungen im Rat.
Die in den römischen Verträgen kodifizierten vier Grundfreiheiten erhalten durch den EuGH somit Verfassungsrang. Hiermit erlangt die Philosophie des freien Wettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang. Das bedeutet ein Verbot aller Beschränkungen und einen Kampf gegen wettbewerbsbeschränkende nationale Regulierung. Soziale Grundrechte bezüglich (Mindest-)Lohn, Arbeitsbedingungen, Streikrecht und Entlassungsschutz sind immer stärker davon bedroht, den Binnenmarktfreiheiten untergeordnet zu werden.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert deshalb schon seit langem ein soziales Fortschrittsprotokoll, in dem festgelegt wird, dass die ArbeitnehmerInnen-Grundrechte den Binnenmarktfreiheiten vorgehen. Eines der zentralen Grundrechte ist dabei das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der ArbeitnehmerInnen im Unternehmen, auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen. Dies ist deshalb notwendig, weil sich bis jetzt die Waagschale im Rahmen des Verhältnismäßigkeitstests praktisch ausnahmslos zugunsten der wirtschaftlichen Grundfreiheiten bewegt.
Eine soziale europäische Avantgarde – wie kann diese aussehen?
In einem sozialen Europa müssen Mindeststandards etabliert werden, die mit dem Grundrecht der ArbeitnehmerInnen auf würdige Arbeitsbedingungen (Art. 31 der Grundrechte-Charta) vereinbar sind. Um dies in den Mitgliedstaaten zu erreichen, bedarf es erstens harten Rechts. So muss ein konkreter Aktionsplan auf Basis der Proklamation der Europäischen Säule sozialer Rechte umgesetzt werden. Zudem sollte der Vorschlag Junckers für eine Europäische Arbeitsbehörde aufgegriffen werden, erweitert um ein Europäisches Arbeitsinspektorat („Socialpol“), das unlautere grenzüberschreitende Praktiken von ArbeitgeberInnen wirksam bekämpfen kann.
Ein zweites Element ist die Verstärkung der Zusammenarbeit. Dazu braucht es eine Gruppe von Mitgliedstaaten, die auch in Krisenzeiten zu mehr Kooperation bereit ist und gemeinsame Projekte voranbringt.
Dazu gehört:
- eine ausgewogene wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik, die auf die Korrektur der Verteilungsschieflage, den Abbau der (Jugend-)Arbeitslosigkeit, die Schaffung qualitativ hochwertiger Arbeitsplätze sowie die Absicherung des Sozialstaates ausgerichtet ist;
- der Ausbau der EU in Richtung Fiskalunion, ein Investitionsprogramm in Anlehnung an den „DGB-Marshallplan für Europa“ und die Beendigung der Austeritätsmaßnahmen;
- die Einführung einer „Goldenen Regel der Finanzpolitik“, wodurch Mitgliedstaaten Spielraum für öffentliche, zukunftsorientierte Investitionen erhalten;
- das Prinzip des gleichen Entgelts und der gleichen Arbeitsbedingungen für die gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Als drittes Element muss die Gestaltungshoheit demokratischer Gesetzgebung gegenüber dem Binnenmarktrecht wiederhergestellt werden. Das Europäische Parlament soll auch das Recht erhalten, mit qualifizierter Mehrheit Gesetze zu initiieren.
Fazit
Um die europäische Integration in den Dienst der sozialen Demokratie zu stellen, müssen regulative Schranken eingebaut werden. Nur so kann der gegenseitige Unterbietungswettbewerb eingedämmt werden. Ein Weg könnte in der Schaffung eines „differenzierten“ Europas bestehen, eines gemeinsamen Europas mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Denn die Fortschritte einer Gruppe der „sozialen Avantgarde“ in zentralen Bereichen eines sozialen Europas können eine positive Sogwirkung für die übrigen Mitgliedstaaten erzeugen.
Die Langfassung dieses Beitrags ist in Wirtschaftspolitik Standpunkte erschienen.