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Arbeitszeitaufzeichnung als Schutzmaßnahme
Generell arbeiten ArbeitnehmerInnen mit selbstgesteuerten Arbeitszeiten durchschnittlich länger. Auffallend ist hierbei, dass ein höherer Grad der Selbststeuerung zwar mit mehr Arbeitsstunden einhergeht, nicht jedoch mit mehr Überstunden.
5,3 Prozent der unselbstständig Vollzeitbeschäftigten haben weder fixe Arbeitszeiten noch irgendeine Form der Zeiterfassung. Hier scheint eine korrekte Bestimmung der Arbeitszeit, geschweige denn eine Überstundenabgrenzung, kaum noch möglich zu sein. Eine automatische Zeiterfassung geht hingegen auch bei selbstgesteuerter Arbeitszeitorganisation mit durchschnittlich kürzeren Arbeitszeiten einher. Gerade für ArbeitnehmerInnen, die keine fix vorgegebenen Arbeitszeiten haben, ist es also umso wichtiger, auf korrekte Erfassung der gearbeiteten Zeiten zu achten.
Aufgabe der Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen, aber auch insgesamt aller für den Gesundheitsschutz von ArbeitnehmerInnen verantwortlichen Institutionen, ist es deshalb, ein Bewusstsein für die Gefahren, die mit selbstgesteuerter Arbeitszeit einhergehen, zu schaffen. Das sind neben langen Arbeitszeiten mit längerfristig negativen gesundheitlichen Folgen, die psychisch belastende Entgrenzung der Arbeitszeit, der potenzielle Verlust von Überstundeneinkommen, aber auch die Schwächung von kollektiven Zeitinstitutionen wie Feierabenden oder arbeitsfreie Wochenenden.
Eine vielfältige Arbeitszeitlandschaft mit vielfältigen Bedürfnissen
Moderne Arbeitszeitpolitik muss der Heterogenität der österreichischen Arbeitszeitlandschaft Rechnung tragen, die sich in besonderem Maße auch bei der Ungleichverteilung von Arbeitszeitautonomie zeigt. So haben PflichtschulabsolventInnen etwa zu 85 Prozent fix vorgegebene und damit keine selbstgesteuerten Arbeitszeiten, wohingegen 70 Prozent der Uni- bzw. FH-AbsolventInnen ihre Arbeitszeiten zumindest teilweise selbst bestimmen können.
Hinsichtlich der Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse ist die stärkere Autonomie ambivalent einzustufen. Größere Autonomie ermöglicht nämlich einerseits Betreuungs- und Erwerbsarbeit besser zu vereinen, und andererseits kann vor allem kurzfristige Flexibilität auch zu einer Verstärkung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung führen. Österreich ist bereits jetzt dem Eineinhalbverdiener-Modell zuzurechnen, in dem bei Familiengründungen tendenziell Männer lange und Frauen in Teilzeit arbeiten. Ist Selbstteuerung mit kurzfristiger Flexibilität verknüpft und folgt diese vorwiegend betrieblichen Interessen, kann dies zu einer Verstärkung der Geschlechterunterschiede beitragen. Passen vor allem Männer ihre Arbeitszeit an betriebliche Belange an, müssen Frauen mehr zeitliche Flexibilität für Betreuungsarbeit aufbringen und haben weniger Zeit für Erwerbsarbeit zur Verfügung.
Zufriedenheitsparadox der Arbeitszeit
Obwohl ArbeitnehmerInnen häufig einen hohen Preis für größere Arbeitszeitautonomie in Form von langen Arbeitszeiten, unbezahlten Überstunden und einem Verwischen der Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit bezahlen, scheint sie dennoch positiv bewertet zu werden. So steigt bei größerer Arbeitszeitautonomie die durchschnittliche Zufriedenheit mit der Arbeitszeitgestaltung an und dies trotz zunehmender Länge der Arbeitszeit und stärkerer Entgrenzung. Es scheint beinahe paradox, wenn Vollzeitbeschäftigte mit Überstundensonderregelung, keiner Zeiterfassung und vollkommen selbstgesteuerten Arbeitszeiten von im Durchschnitt 49 Wochenstunden zu über 70 Prozent angeben, mit den Arbeitszeiten sehr zufrieden zu sein. Individuell und kurzfristig betrachtet kann das durchaus zutreffend sein. Langfristig und gesellschaftlich sind solche Praktiken allerdings als problematisch einzustufen.
So ist empirisch gut belegt, dass lange Arbeitszeiten auf Dauer negative Folgen für die Gesundheit und soziale Teilhabe haben. Angesichts dieser Zahlen wird sichtbar, dass auch Selbststeuerung einen regulatorischen Rahmen braucht, Haltegriffe und Leitplanken, die als Orientierung der individuellen Entscheidung dienen können.
Zeit für die Renaissance einer progressiven Arbeitszeitpolitik
Die Arbeitszeitregulierung hat verschiedene kollektive Funktionen, die durch zunehmende Eigenverantwortung und Individualisierung des Zeithandelns der ArbeitnehmerInnen, aber auch durch Arbeitszeitpolitik im Interesse der ArbeitgeberInnen, herausgefordert werden. Zu diesen kollektiven Funktionen zählen:
Ein progressives Arbeitszeitrecht muss zum Ziel haben, stärker als bisher den Bedürfnissen der ArbeitnehmerInnen gerecht zu werden. Die arbeitsrechtlich seit 1. September 2018 ausgeweitete Möglichkeiten zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten – und damit in der Realität häufig die Ausdehnung von Arbeitszeiten – müssen dringend durch Rechte der ArbeitnehmerInnen auf Gestaltungsautonomie, auch in Hinblick auf eine temporäre Reduktion der Arbeitszeiten (Zeitausgleich, Abbau von Überstunden), ausbalanciert werden.
Darüber hinaus sollte ein modernes Arbeitszeitrecht kollektive Zeitinstitutionen wie den Feierabend oder das freie Wochenende schützen und die gleiche Arbeitszeitverteilung der Geschlechter unterstützen. Gleichzeitig wäre eine Stärkung der Souveränität über die eigene Arbeits- und Lebenszeit, etwa in Form von lebensphasenspezifischen Arbeitszeitanpassungen oder einer Lebensarbeitszeit, wünschenswert. Denn es wäre höchste Zeit, dass der wirtschaftliche Forstschritt auch zu mehr Zeitwohlstand führt!
Dieser Beitrag basiert auf der kürzlich erschienenen Studie “Flexible Arbeitszeitarrangements aus der Perspektive österreichischer ArbeitnehmerInnen”.