Schon die schwarz/türkis-blaue Bundesregierung hat sich in ihrem „Masterplan Pflege“ die Digitalisierung der Pflegearbeit zum Ziel gesetzt, um der Pflegekrise entgegenzuwirken. Das aktuelle Regierungsprogramm von Schwarz/Türkis-Grün setzt stattdessen „Arbeitsalltagserleichterung durch Digitalisierung“ auf die pflegepolitische Agenda. Digitalisierung allein ist allerdings noch kein Garant für eine gute Pflege. Drei Schritte müssen erfolgen, wenn Digitalisierung tatsächlich den Pflegealltag erleichtern soll.
Digitalisierungin Zeiten der Pflegekrise – was steht im Regierungsprogramm?
Aufgrund der prekären Arbeitsbedingungen und des Personalmangels, der durch die schlechten Bedingungen erst hervorgebracht wird, muss Pflegearbeit gesellschaftlich neu ausgerichtet werden. Nach dem vagen „Masterplan Pflege“ von Schwarz/Türkis-Blau, der unter anderem den Ausbau von so genannten digitalen Assistenzsystemen forcieren wollte, scheint die aktuelle Regierungskoalition die digitale Agenda im Pflegebereich zurückgefahren zu haben. So wurde nur die „Etablierung einer umfassenden Informationsplattform“ aus dem „Masterplan Pflege“ in die pflegepolitische Agenda des aktuellen Regierungsprogramms 2020–2024 von Schwarz/Türkis-Grün übernommen. Unter der Überschrift „Chancen der Digitalisierung“ werden insgesamt vier pflegepolitische Maßnahmen angeführt:
- Arbeitsalltagserleichterung
- Prüfung der Nutzung des bestehendenE-Card-Systems für Pflegeleistungen
- Möglichkeit zur anonymisierten Nutzung vonPflegedaten zu wissenschaftlichen Zwecken und zur Weiterentwicklung desPflegesystems unter Berücksichtigung des Datenschutzes
- Etablierung einer umfassendenInformationsplattform für Betroffene und Angehörige: Informationen sollenbesser zur Verfügung gestellt werden
Insbesondere die Maßnahme „Arbeitsalltagserleichterung“ schließtan die immer lauter werdenden Forderungen der Arbeitnehmer:innen nach guten undfairen Arbeitsbedingungen in der Pflege an. Allerdings führt das Regierungsprogrammdieses Schlagwort nicht näher aus.
Wie also kann eine Erleichterung der täglichen Arbeit – das heißt guteBedingungen für eine gute Pflege sowohl für diejenigen, die Pflegearbeit alsFachkräfte oder Angehörige leisten, als auch für diejenigen, die Pflege benötigen– durch Digitalisierung geschaffen werden? Wenn Digitalisierung für dieErleichterung des Arbeitsalltags tatsächlich einen Beitrag leisten soll, giltes, die zentralen Fragen rund um die Bedingungen für eine gute Pflege in denMittelpunkt der Debatte zu rücken. Die folgenden drei Schritte sind dafür jedenfallsnotwendig:
Schritt1: Ziele statt Mittel der Digitalisierung identifizieren
Zunächst einmal müssen wir uns fragen, was Digitalisierung im Kontext der Pflege überhaupt bedeutet. In medialen Debatten und wissenschaftlichen Studien wird oft auf drei Anwendungsfelder der Digitalisierung verwiesen. Zum ersten Einsatzgebiet zählen EDV-gestützte Dokumentations- und Diagnosesysteme. 2014 war die vollständige Umsetzung der elektronischen Pflegedokumentation mit 58,6 Prozent in Österreich bereits weitaus stärker fortgeschritten als in Deutschland, wo lediglich 19,4 Prozent der Dokumentation in der Pflege EDV-gestützt durchgeführt wurde. Das zweite Anwendungsfeld sind digitale Assistenzsysteme, auf die auch der „Masterplan Pflege“ Bezug nimmt. Assistenzsysteme können beispielsweise Pflegekräfte unterstützen, indem sie auf der Basis bestimmter Informationen darauf aufmerksam machen, welche Arbeitsschritte aktuell erforderlich sind. In österreichischen Pflegeeinrichtungen werden bereits Teilaspekte der Assistenzsysteme umgesetzt, wie intelligente Betten, die eine Warnung bei der Überschreitung der durchschnittlichen Liegedauer der betreuungsbedürftigen Person aussenden. Das dritte Feld, in dem digitale Technologie zur Anwendung kommt, ist Pflegerobotik. Henry, Pepper und Hobbit sind Beispiele für Pflegeroboter, die pflegebedürftige Personen in alltäglichen Arbeiten unterstützen sowie den logistischen Organisationsaufwand von Pflegekräften erleichtern sollen. Roboter Paro dagegen wird zur therapeutischen Begleitung insbesondere von demenzerkrankten Personen eingesetzt.
Um wirksame und langfristige Erleichterungen des Pflegealltags zu erreichen, muss in einem ersten Schritt das technikzentrierte Verständnis des digitalen Wandels erweitert werden. Statt den Fokus auf die Entwicklung und Verbreitung der digitalen Mittel zu setzen, gilt es, konkrete Zielsetzungen zu definieren. Eine solche Zielsetzung kann sich beispielsweise auf die Entlastung der Pflegekräfte bei körperlich anstrengenden Aufgaben beziehen. Denn Berufstätige in der Pflege sind durch schweres Heben und Tragen einem deutlich erhöhten Risiko für die Entstehung von Muskel-Skelett-Erkrankungen ausgesetzt. Rückenbeschwerden sind eine der zentralen Ursachen dafür, warum krankheitsbedingte Fehlzeiten in der Pflege besonders hoch sind.
Erst wenn einekonkrete Zielsetzung festgelegt wurde, die auf tatsächliche Erleichterungen imAlltag der Menschen in der Pflege ausgerichtet ist, sollte danach gefragtwerden, welchen Beitrag digitale Technologien zu deren Erfüllung leistenkönnen. Verfolgen wir die Zielsetzung der Verringerung physischer Belastungenweiter, kann Robotik – unter den geeigneten Voraussetzungen und Bedingungen –als eines von mehreren Mitteln definiert werden. Durch Mobilisations- undHeberobotik können pflegebedürftige Personen beispielsweise so bewegt werden,dass der Rücken der Pflegekräfte kaum belastet wird. Genauso wichtig sind aberauch analoge Mittel wie Präventionsmaßnahmen für eine rückenschonendeArbeitsweise im Rahmen von Aus- und Weiterbildungsprogrammen und dass imArbeitsalltag ausreichend Zeit und Raum vorhanden ist, um diese umzusetzen.
Schritt 2: Bedürfnisorientierte Technologie gemeinsam entwickeln
Digitale Technologien werden aufgrund ungleicher Machtverhältnisse am Arbeitsmarkt oft abgekoppelt von der Pflege entwickelt. In den seltenen Fällen, in denen es zu einer Zusammenarbeit zwischen Ingenieurs- und Pflegewissenschaften kommt, zeigen sich große Herausforderungen aufgrund unterschiedlicher Zugänge und auszuhandelnder Begriffsverständnisse. So kritisieren Pflegewissenschafter:innen die Ideen der Ingenieurswissenschaften in einem interdisziplinären Forschungsprojekt, da „Themen wie Technikfolgenabschätzung und ethische Abwägungen von den Diskussionen um technische Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit überlagert werden“. Umso wichtiger ist es, dass die gesetzten Ziele, den Arbeitsalltag in der Pflege zu erleichtern, von Beginn an Eingang in den Entwicklungsprozess digitaler Technologien finden. Pflegewissenschafter:innen müssen dabei als Expert:innen in diesen Prozess eingebunden werden.
Ebenfalls müssen die Bedürfnisse aller Akteur:innen in der Pflege – der Beschäftigten, der pflegebedürftigen Personen und der Angehörigen – Teil des Entwicklungsprozesses sein. Deren Bedürfnisse können sich dabei durchaus voneinander unterscheiden. Im Fall der vorher beispielhaft genannten Zielsetzung bedeutet das: Mobilisations- und Heberobotik kann zwar Pflegekräfte entlasten, sich für pflegebedürftige Personen aber auch kalt und unangenehm anfühlen.
Auch sind nicht alle Beschäftigten, pflegebedürftigen Personen und Angehörigen eine jeweils homogene Gruppe mit gleicher Meinung. Einer Studie mit US-amerikanischen Pflegekräften zufolge nimmt die jüngere Generation der Pflegekräfte eine offenere Haltung gegenüber digitalen Technologien als ältere Berufstätige in der Branche ein. Auch gesellschaftliche Geschlechterrollen spielen weiterhin eine Rolle, denn männliche Pflegekräfte haben einer quantitativen Befragung nach eine positivere Einstellung gegenüber dem Einsatz digitaler Technologien. Allerdings ist eine positive Resonanz immer nur unter der Voraussetzung festzustellen, dass mit der Digitalisierung keine Einsparungen beim Personal einhergehen.
Schritt 3: Rahmenbedingungen der Digitalisierung gestalten
Das Argument, dass technologischer Fortschritt zu einer gesellschaftlichen Aufwertung von Pflegearbeit führe, existiert seit Jahrzehnten. Bisher lässt sich eine Aufwertung empirisch nicht feststellen. Anstelle von Autonomiegewinnen für alle Berufsgruppen in der Pflege führt technologischer Fortschritt eher zu einer verstärkten Polarisierung von hoch- und niedrigqualifizierter Pflegearbeit.
Die Umsetzung von Arbeitsalltagserleichterung muss somit in einem dritten Schritt über die Digitalisierung hinausgehen. Erst unter den geeigneten Bedingungen kann sich eine Erleichterung des Arbeitsalltags auch wirklich entfalten. Denn was bringt es, wenn digitale Technologien Aufgaben der Pflegekräfte übernehmen und dies zur Folge hat, dass Pflegekräften noch mehr Tätigkeiten auferlegt werden? Hier geht es neben der gesellschaftlichen Aufwertung von Pflegearbeit – einschließlich der Beziehungsarbeit – auch um deren materielle Anerkennung. Schließlich ist Pflegearbeit insbesondere im Bereich der Langzeitpflege trotz ihrer gesellschaftlichen Relevanz und des erforderlichen fachlichen Know-hows weiterhin einer der schlechtestbezahlten Berufe. Die aktuelle Forderung der Beschäftigten in der Pflege und deren interessenpolitischer Vertretungen nach einer Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich ist richtungsweisend für progressive Konzepte zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in dem Bereich.
Doch nicht allein die Pflegeorganisationen sind gefordert, wenn es darum geht, die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung der Beschäftigten zu verbessern. Die Gestaltungsmöglichkeiten und die Handlungsmacht der Pflegeorganisationen reichen nur so weit wie ihre Finanzierung durch Bund und Länder. Unbestritten hält auch das Regierungsprogramm fest, dass Pflege ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag ist. Allerdings gehört Österreich mit Bruttoausgaben für Pflege in Höhe von 1,5 Prozent des BIP im EU-weiten Vergleich weiterhin zu den Schlusslichtern. Neben der so wichtigen Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ist der Blick daher verstärkt auf die staatliche Ausfinanzierung der Pflege zu richten.