Österreich braucht viele neue MitarbeiterInnen in der Langzeitpflege. Doch warum soll man in diesem Bereich arbeiten? Tatsächlich werden nicht für die gesamte Pflegeleistung Ressourcen bereitgestellt, weil ein bedeutender Teil der Pflege „unsichtbar“ ist. Das stellt eine wesentliche Ursache für viele der bekannten Arbeitsbelastungen in der Langzeitpflege und die mangelnde Attraktivität des Sektors dar. Mehr Augenmerk auf Kommunikation und Beziehung in der Finanzierung und der Bemessung des Personalbedarfs kann wirksam gegen den Fachkräftemangel sein.
Fachkräftemangel in der Langzeitpflege wird spürbar
Österreich macht derzeit erste Erfahrungen mit dem Fachkräftemangel in den Pflegeberufen. Die Symptome in der Langzeitpflege: Einzelne Wohnbereiche oder ganze Pflegehäuser können nicht in Betrieb gehen, weil nicht ausreichend Pflegepersonal gefunden wird; die mobilen Dienste dünnen aus.
Die demografische Struktur Österreichs treibt den Bedarf an ArbeitnehmerInnen in den Pflegeberufen zweifach in die Höhe: Zum einen gehen viele ArbeitnehmerInnen in der Branche bald in Pension und müssen ersetzt werden. Zum anderen lässt der steigende Anteil älterer Menschen die Nachfrage nach Betreuung und Pflege ansteigen, weshalb ebenfalls mehr Pflegende benötigt werden. Pflegeorganisationen sprechen von einem Bedarf von 40.000 neuen Pflegekräften bis 2050.
Noch ist nicht wirklich klar, mit welchen Strategien die Politik der Herausforderung begegnen will. Ein wesentlicher Baustein wird jedenfalls die Attraktivität der Arbeitsplätze in der Langzeitpflege sein müssen. Denn die Pflege ist nicht die einzige Branche, die um ArbeitnehmerInnen wirbt – der Wettbewerb um Arbeitskräfte wird härter werden. Ohne attraktive Arbeitsplätze werden viele Menschen nicht für einen Pflegeberuf zu gewinnen sein, geschweige denn in diesem bleiben wollen. Der Handlungsdruck steigt.
Beziehungsqualität ist Grundlage der Pflege
Was attraktiv ist, hängt von der Perspektive ab, mit der man auf die Langzeitpflege blickt. So sind bei der Berufswahl das zu erwartende Einkommen und bekannte Belastungen, wie Zeitdruck oder unregelmäßige Arbeitszeiten, wichtige Faktoren. Für bereits im Berufsleben stehende Pflegende tritt die Bedeutung der Bezahlung hingegen ein wenig zurück. Dafür werden die Qualität der Arbeit mit den unterstützten Menschen und das Arbeitsklima im Team und der Organisation wichtiger (vgl. Studienergebnisse aus Deutschland von Bomball et al., 2010). Beide Faktoren sind für beruflich Pflegende bedeutende Ressourcen für den Umgang mit körperlichen und psychischen Belastungen. Sie helfen, den Beruf weiter ausüben zu können.
Helfen zu wollen, ist ein wichtiges Motiv bei der Entscheidung für einen Pflegeberuf. Das Wohl der Menschen mit Pflegebedarf ist die große Motivation in den Pflegeberufen und Quelle von stärkenden Erfolgserlebnissen. Und dieses Wohl wird nicht nur dadurch bestimmt, welche Unterstützung gegeben wird, sondern ganz entscheidend dadurch, wie diese Unterstützung erfolgt.
So kann beispielsweise Unterstützung bei der Körperpflege nicht einfach funktional ohne Rücksicht auf Vertrauen und Beziehung zwischen den Beteiligten erfolgen. Stellen Sie sich vor, morgen früh würde jemand Unbekannter zu Ihnen kommen und Ihnen beim Duschen helfen. Die Kunst der Pflege besteht in der behutsamen Berührung, in der Sensibilität für die Persönlichkeit und die aktuelle Stimmung des Gegenübers und im dadurch entstehenden Vertrauen, mit dem die unterstützten Menschen Pflege zulassen und annehmen können. Nur mit Kommunikation und Beziehung kann Pflege so durchgeführt werden, dass sie auch von den PflegeempfängerInnen akzeptiert wird. Die rein funktionale Durchführung, ohne die menschliche Begegnung zu berücksichtigen, führt häufig zu Widerstand und Gegenwehr. Aggressives Verhalten von Menschen mit Pflegebedarf ist vielfach eine Folge des Zeitdrucks, den die Pflegenden im Arbeitsalltag erleben und an die unterstützungsbedürftigen Menschen weitergeben. Das Resultat sind unzufriedene Menschen mit Pflegebedarf und unzufriedene Pflegende.
Pflege ist nur auf funktionaler Ebene anerkannt
Das Problem besteht darin, dass die Prioritäten des Pflegesystems nicht mit jenen der beruflich Pflegenden übereinstimmen. Für Menschen in den Pflegeberufen oder solche, die sich dafür interessieren, sind gute Pflege und ihre Voraussetzungen von großer Bedeutung. In den bestehenden Vorgaben für die personellen und finanziellen Rahmenbedingungen der Langzeitpflege werden Beziehung, Vertrauen und Kommunikation jedoch nicht als Leistungsbestandteile anerkannt, was zu einer systematischen Unterausstattung mit personellen Ressourcen führt. Die „Minutenpflege“ ist Alltag, der große Zeitdruck allgegenwärtig. Wen wundert es, dass Pflegende das Gefühl haben, dass niemand ihre wahre Leistung anerkennt?
Anerkennung für die Pflegeberufe schafft man, wenn man die Leistung der Pflegenden in ihrem tatsächlichen Umfang sieht. Attraktive Arbeitsplätze in der Langzeitpflege schafft man, wenn man der Pflege ausreichend Ressourcen für ihr gesamtes Leistungsspektrum zur Verfügung stellt. Dann würden sich viele Belastungen verringern, die heute den Arbeitsalltag negativ prägen.
Welche Schritte sind zu tun?
Die offiziell definierten Aufgaben der Langzeitpflege müssen neu bestimmt und am „State of the Art“ der Pflege ausgerichtet werden. „Warm, satt, sauber“ ist weder eine sinnvolle sozialpolitische Zielsetzung, noch schafft dieser Ansatz Anreize für die Arbeit in den Pflegeberufen. Ein zeitgemäßer Auftrag an die Langzeitpflege umfasst eben auch Beziehungsaufbau, Vertrauensbildung und Kommunikation ebenso wie personenorientiertes Vorgehen für die individuelle Betreuung jedes Menschen. Zur Umsetzung dieses Auftrags braucht man eine realistische und bedarfsorientierte Berechnung des benötigten Personals. Gesprächszeiten, Aus-, Fort- und Weiterbildungen, pflegerische und interdisziplinäre Fallbesprechungen, Supervision, der erhöhte Betreuungsaufwand bei Menschen mit Demenz und geplante sowie ungeplante Fehlzeiten sind Faktoren, die ausreichend berücksichtigt werden müssen.
Zuständig für die Gestaltung der Langzeitpflege sind in Österreich die Bundesländer. Sie formulieren den Auftrag an die Einrichtungen der Langzeitpflege, sie regeln die Personalvorgaben in den Pflegehäusern und legen die Normkostensätze in den mobilen Diensten fest. Genau in diesen Regelungen muss die Zeit für Beziehung und Kommunikation besser verankert werden. Doch auch die Bundesregierung kann etwas zu guter Arbeit in der Pflege beitragen. Über das Pflegefondsgesetz kann sie fachlich sinnvolle, österreichweite Mindestanforderungen für die Langzeitpflege festlegen. Die Bundesregierung kann den Lenkungseffekt außerdem noch deutlich erhöhen, indem die Finanzierung der Langzeitpflege in einem erweiterten Pflegefonds – einem Pflegegarantiefonds – gebündelt wird.
Wenn der bislang „unsichtbare“ Teil der Pflege in der Finanzierung und Personalberechnung berücksichtigt wird, steigen die Chancen, neue ArbeitnehmerInnen für die Langzeitpflege zu gewinnen. Bei ausreichenden Ressourcen wird sichtbar, dass gute Pflege auch gute Arbeit bedeutet. Und die Chancen steigen, Pflegende länger im Beruf zu halten, wenn sie das gut tun können, weshalb sie in die Pflege gegangen sind: Menschen mit Pflegebedarf bestmöglich zu helfen.