Was sich MigrantInnen in Wien bei Pflege und Betreuung wünschen

12. Dezember 2016

Alle BürgerInnen sollen den gleichen Zugang zu den Leistungen der öffentlichen Hand – wie etwa zu Pflege und Betreuungsangeboten haben. Das ist ein wesentliches Ziel inklusiver Sozialpolitik. Interne Analysen der KundInnen des Fonds Soziales Wien (FSW) haben aber gezeigt, dass bestimmte Gruppen von WienerInnen mit ausländischer Herkunft die Pflege- und Betreuungsleistungen der Stadt unterdurchschnittlich oft in Anspruch nehmen. Aufgrund dieser Erkenntnis wurden im Rahmen einer aktuellen Studie MigrantInnen zu ihrem Informationsstand, Einstellungen zum Älterwerden und ihren Erwartungen an die Pflege- und Betreuungsangebote befragt. Die Studienergebnisse bestätigen inklusive Ansätze in der Pflege- und Betreuungspolitik und zeigen zudem Handlungsoptionen auf.

 

Nutzung von Informationsmöglichkeiten zu Pflege und Betreuung

Ein zentraler Anspruch im Rahmen der Studie war es, nicht nur über die betroffenen Menschen zu reden, sondern diese selbst zu Wort kommen und ihre Erwartungen an das System der Pflege und Betreuung formulieren zu lassen. Deshalb wurden von Prof. Reinprecht (Institut für Soziologie, Universität Wien) und seinem Team 429 WienerInnen, die ursprünglich aus der Türkei, dem Iran, Bosnien, Serbien und Polen kommen, interviewt. Die unterschiedlichen Erwartungen wurden nicht nur nach dem Herkunftsland, sondern unter anderem auch nach dem Milieu der Befragten analysiert, das in den Ergebnissen häufig einen stärkeren Einfluss als das Herkunftsland zeigt.

Nur 21% der befragten MigrantInnen haben sich bereits über Pflege und Betreuungsangebote informiert. Als Informationsquellen wurden von 49% die Familie oder Verwandte genannt, fast genauso wichtig sind FreundInnen oder Bekannte (48%), HausärztInnen (43%) oder Einrichtungen der Stadt Wien (34%). Im Bereich Pflege und Betreuung werden Beratungsstellen für MigrantInnen (16%) und „ethnische“ Vereine (6%) eher selten als Informationsquelle genutzt. Auffällig ist, dass 27% der Personen, die sich noch nicht informiert haben auch nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen.

Universelle Werte und Pflegeeinrichtungen, die für alle offen sind

Die Erwartungen der befragten MigrantInnen an die Pflegekräfte orientieren sich stark an universellen Werten wie Respekt (96%) und Verständnis (90%). Das gleiche Geschlecht ist für 46% der Befragten wichtig (für 15% der befragten Männer und für 71% der befragten Frauen), eine muttersprachliche Betreuung für 47%, dass die Pflegekraft der gleichen Volksgruppe angehört hat jedoch weniger Bedeutung (26%). Die drei letztgenannten Punkte können als Schwerpunkt „Identität“ zusammengefasst werden. Es fällt auf, dass diese „Identität“ für die befragten Frauen deutlich wichtiger (51% Zustimmung) als für die Männer (22%) ist.

Befragt nach der bevorzugten Wohnform im Falle einer Pflegebedürftigkeit dominiert der Wunsch nach einem Verbleib in der eigenen Wohnung mit einer Betreuung durch mobile Dienste. Für rund ein Drittel käme auch eine stationäre Einrichtung in Frage. Die Mehrheit der Befragten bevorzugt dabei Einrichtungen, die für Menschen jeder Herkunft offen sind und die gruppenspezifische Vergemeinschaftungen zulassen, wie etwa bestimmte kulturspezifische Angebote oder die Möglichkeit mit anderen Landsleuten zusammen sein zu können. Damit werden inklusive Ansätze in der Pflege- und Betreuungspolitik ggü. spezifischen Angeboten für bestimmte Gruppen bestätigt. Zudem zeigen die Studienergebnisse, dass Wohlbefinden (95%) und Geselligkeit (82%) für die Befragten stärker ausschlaggebende Kriterien für eine attraktive Pflegeeinrichtung sind, als etwa der Wunsch nach Gemeinschaft mit Landsleuten und muttersprachlicher Unterhaltung (59%) oder eine Ausstattung mit Gebetsräumen und Rücksichtnahme auf religiöse Bedürfnisse (46%). Die Ergebnisse variieren jedoch nach Herkunftsländern:

Ein ideales PensionistInnenwohnhaus nach Herkunft

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

(Zustimmungen in Prozenten/ Angabe: valide Prozente)

Quelle: Reinprecht, Christoph (2016): Einfluss der Migration auf Leistungserbringung und Inanspruchnahme von Pflege- und Betreuungsleistungen in Wien, Wien, 67.

Generation der „GastarbeiterInnen“ wird älter

Die Studienergebnisse werden künftig an Bedeutung gewinnen, da es sich bei älteren MigrantInnen in Wien noch um eine kleine, aber ständig wachsende Gruppe handelt. Die Studie zeigt, dass die Mehrheit der Befragten plant, ihr Alter in Wien bzw. Österreich zu verbringen: 56% wollen auf jeden Fall in Wien bleiben, 29% bevorzugen einen teilweisen Aufenthalt, nur 8% haben vor nicht zu bleiben (weitere 8% wissen es noch nicht). Insbesondere die Generation der sogenannten GastarbeiterInnen kommt in ein Alter, indem die Thematik der Pflege und Betreuung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Befragte aus den entsprechenden Herkunftsländern (Serbien, Türkei) berichten überdurchschnittlich oft von gesundheitlichen Beschwerden. Zudem äußern sie deutlich häufiger Gefühle der Unsicherheit und Befürchtungen in Bezug auf (potentielle) Notwendigkeiten der Inanspruchnahme von Pflege- und Betreuungsleistungen.

Handlungsoptionen: Inklusion in der Pflege als zentraler Schlüssel

Im Zuge möglicher Handlungsoptionen ist es von besonderer Relevanz auf die Sorgen und Ängste der Menschen einzugehen. So zeigt die Studie deutlich, dass Diskriminierungserfahrungen bzw. die Angst vor Diskriminierungen bei MigrantInnen einen wesentlichen Einfluss auf die potentielle Inanspruchnahme von Leistungen haben. Entsprechende Handlungsempfehlungen wurden durch einen ExpertInnen-Beirat erarbeitet.

Sie betonen etwa die Wichtigkeit von zielgerichteten und persönlichen Informationen: Informationen sollen gezielt verteilt und von Erklärungen begleitet werden, der persönliche Kontakt wird als zentral angesehen. So erscheinen etwa „Mittelspersonen“; die sowohl in den Communities als auch in der Stadt verankert sind, als besonders zielführende Bindeglieder zwischen Sozialeinrichtungen und Zielgruppe. Zudem wird empfohlen, MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund in den Trägerorganisationen in der Informationsarbeit einzusetzen, Präsenz in Medien der Communities zu zeigen und die Schlüsselfunktion von ÄrztInnen zur Verbreitung von Informationen zu nutzen.

Im Bereich der stationären Einrichtungen lässt sich aus den Forschungsergebnissen der Ansatz von inklusiven und integrativen Einrichtungen ableiten. Es wird die Einrichtung von Wohneinheiten für bestimmte MigrantInnen- bzw. Milieugruppen oder „situative Insellösungen“, die bspw. im Bedarfsfall organisiert werden, empfohlen. So könnten, wenn mehrere MigrantInnen einer Herkunfts- oder Milieugruppe in einer Einrichtungen leben, diese – wenn gewünscht – in räumlicher Nähe wohnen, also zum Beispiel in einzelnen, nicht dauerhaften Wohneinheiten bzw. Zimmer nebeneinander auf einer Station. Auch die Belegung von Einrichtungen könnte gezielt mit Blick auf diese „Inseln“ erfolgen. Kompetenzen im Bereich Diversität von MitarbeiterInnen in der Pflege und Betreuung müssen anerkannt, gefördert und gepflegt werden. Ein professionelles Diversitätsmanagement sowie Qualifizierungen und Weiterbildungen sind dabei zentral.

Um der zunehmenden Vielfalt der Gruppe der älteren Menschen in Wien gerecht zu werden, muss bei der künftigen Gestaltung von Leistungen verstärkt auf individuelle, flexible und durchlässige Angebote gesetzt werden. Dies stellt daher auch einen Schwerpunkt in der aktuellen Strategie „Pflege und Betreuung in Wien 2030“ dar.

Der Beitrag basiert auf der Studie „Einfluss der Migration auf Leistungserbringung und Inanspruchnahme von Pflege- und Betreuungsleistungen in Wien“, die von der Magistratsabteilung 24 – Gesundheits- und Sozialplanung und dem Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen beauftragt und von Prof. Christoph Reinprecht und seinem Team (Institut für Soziologie, Universität Wien) durchgeführt wurde.