Buurtzorg – Vom Pilotprojekt zum größten Non-Profit-Unternehmen in der mobilen Pflege

12. April 2016

Höhere Qualität in der Pflege, bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und dabei wirtschaftlicher arbeiten? Klingt absurd, aber die Non-Profit-Organisation Buurtzorg hat es geschafft. Sie hat sich durch die überzeugende Umsetzung eines ganzheitlichen Pflegeansatzes mit hohen Qualitätsstandards  in knapp zehn Jahren zum größten Anbieter mobiler Pflege in den  Niederlanden entwickelt. Kern der Organisation sind weitgehend selbstverantwortliche Pflegekräfte-Teams, die mithilfe nachbarschaftlicher informeller und formeller Netzwerke die KlientInnen bestmöglich versorgen. Die damit ermöglichte einfache, kosteneffiziente Verwaltung führt zu mehr Geld- und damit Zeitressourcen für die eigentliche Pflegearbeit.

 

Buurtzorg, bedeutet auf Deutsch „Betreuung in der Nachbarschaft”, wurde von Jos de Blok – selbst Pfleger und heutiger Geschäftsführer – 2006/2007 mit einem kleinen Team von PflegerInnen gegründet. Grund war die Unzufriedenheit der PflegerInnen mit den Entwicklungen in der mobilen Pflege in den Niederlanden seit den 80er/90er Jahren, die durch komplexe Planungsprozesse, strikte Ziel- und Zeitvorgaben und sehr ausdifferenzierte Tätigkeitsprofile der Pflegekräfte geprägt war.  Die damit einhergehende Verbürokratisierung und Zersplitterung der Pflegetätigkeit führte zur Entwertung der Fachqualifikationen der PflegerInnen und wirkte sich negativ auf die Qualität der Pflege aus. Viele qualifizierte Pflegekräfte verließen den Job. Zusätzlich kam es zu mehr Wettbewerb zwischen den Pflegeanbietern und Verlagerung vieler Pflegeaufgaben auf unqualifiziertes Personal. Das führte allerdings nicht zu den erhofften Kosteneinsparungen, im Gegenteil: die Ausgaben stiegen deutlich an. Es wurde also das Gegenteil erreicht von dem, was das von neoliberaler Marktideologie geprägte Pflegesystem erzielen wollte – noch dazu bei einem deutlichen Absinken der Pflegequalität und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.

Völlig neuer Ansatz für Pflege

Unter diesen Rahmenbedingungen startete Buurtzorg 2006/2007 mit einem völlig anderen Ansatz. Anknüpfend an die Tradition der „community nurses“, die bis in die 80erJahre in den Niederlanden verbreitet waren, planen und gestalten autonome, hoch qualifizierte PflegerInnen-Teams von bis zu 12 Pflegekräften den gesamten Pflegeprozess selbst. Dazu gehören: Pflegebedarfserhebung, Arbeitsplanung im Team, Aufnahme neuer MitarbeiterInnen, Koordination, Aufbau formeller und informeller regionaler Netzwerke, Weiterbildung, Entwicklung innovativer Projekte, Verwaltung der Team-Finanzen inkl. eines eigenen Weiterbildungsbudgets, etc.

Wichtige Voraussetzungen für die hohe Autonomie in den Teams sind, dass Buurtzorg nicht wie bis dahin üblich nach einzelnen Pflegeleistungen mit den Krankenversicherungen abrechnet, sondern nach Zeit. Auch wurde erreicht, dass die Pflegebedarfserhebung (Assessment) nicht mehr von der dafür vorgesehenen Organisation erfolgt, sondern in den Teams selbst. Das führte dazu, dass der Aufwand pro KlientIn sank, weil Fehlanreize durch bereits bewilligte Kontingente vermieden werden.

Die Gesamtorganisation umfasst aktuell rund 850 Teams mit insgesamt 10.000 Beschäftigten. Pro Jahr werden 70.000 KlientInnen betreut. Jedes Team ist für ca. 40 bis 50 KlientInnen in einem Gebiet von 5.000 bis 10.000 EinwohnerInnen zuständig. Die Teams werden durch ca. 50 Administrativkräften, die Verwaltungsaufgaben wie z.B. Gehaltszahlungen übernehmen, unterstützt.

Teamarbeit und Autonomie als Leitprinzipien

Bei den Pflegekräften handelt es sich zum Großteil um sehr gut qualifizierte Pflegefachkräfte. 70 % sind „registered nurses“, also diplomierte Pflegefachkräfte (darin enthalten 40 % mit Bachelor Ausbildung) – in anderen Pflegeorganisationen sind es durchschnittlich 20 %. Beschäftigte werden entsprechend ihrer Ausbildung nach Tarifvertrag bezahlt – mit jährlicher Standarderhöhung und Boni je nach Dauer der Beschäftigung. Sie erhalten damit durchschnittlich mehr Lohn als Pflegekräfte von anderen Pflegeanbietern. Der Team(-entwicklungs)prozess wird von Anfang an unterstützt – durch eine entsprechende Schulung aller MitarbeiterInnen, organisationseigene Coaches und ausreichende Zeitressourcen. Letztere ermöglicht durch Senkung der Produktivitätsrate von 75 % auf 60% und damit steht deutlich mehr Zeit für Reflexion und Teamarbeit zur Verfügung. Teamkompetenzen können dadurch effektiv genutzt werden und ermöglichen die Übernahme breit gefächerter Pflegeaufgaben. Je nach konkretem lokalem Bedarf wie z.B. mehr Pflegebedürftige mit Demenz oder psychischen Problemen etc. wird im Team entsprechendes Know-how z.B. durch Weiterbildung erworben.

Durch diese eigenverantwortliche Gestaltung des Pflegeprozesses in den Teams kommt Buurtzorg völlig ohne mittleres Management in der Gesamtorganisation aus. Die damit erzielten Kosteneinsparungen im Overhead-Bereich sind beachtlich: So hat Buurtzorg lediglich 8% Overhead-Kosten während diese bei vergleichbaren Anbietern in der mobilen Pflege in den Niederlanden durchschnittlich bei 25% liegen.

Der Erfolg spricht für diese Organisationsform: Buurtzorg ist mittlerweile nicht nur der größte Anbieter von mobiler Pflege in den Niederlanden sondern wurde 2015 bereits zum fünften Mal zum besten Arbeitgeber der Niederlande gewählt.

Arbeit 4.0 in der Pflege

Neue Technologien sind ein integraler Bestandteil des Buurtzorg-Systems. Vieles kann dank dem buurtzorgweb, einem anwenderInnenfreundlichen IT-System, das mit den Pflegekräften entwickelt wurde, einfach und effizient erledigt werden. Jede Pflegekraft hat ein Tablet auf dem u.a. die Dokumentation des Pflegeprozesses stattfindet. So sind alle mit einem/einer KlientIn betrauten Pflegekräfte eines Teams über alle relevanten Informationen immer am aktuellen Stand und Doppelgleisigkeiten werden vermieden.

Das buurtzorgweb ist zudem zentrales Austauschforum zwischen den Beschäftigten der gesamten Organisation und mit dem Geschäftsführer. Ideen, Innovationen einzelner Teams können damit sehr schnell aufgegriffen werden. Beispielsweise entwickelte ein Team in Zusammenarbeit mit ErgotherapeutInnen eine spezielle Sturzprävention, die von vielen anderen Buurtzorg-Teams übernommen wurde. So ist eine laufende Weiterentwicklung der Organisation gewährleistet.

Seit kurzem wird auch im Sinne der Selbstpflege und Autonomiestärkung der KlientInnen mit einem eigenen für KlientInnen zugänglichen client-Portal innerhalb von buurtzorgweb experimentiert.

Ein spannendes Beispiel für eine intelligente, weil tätigkeitsadäquate und kundInnenfreundliche Nutzung des Potenzials moderner Kommunikationstechnologien. Damit werden fernab von der technikzentrierten Debatte des Digitalisierungs-Hypes neue Standards in der Technologienutzung im Sinne sozialer Innovation gesetzt.

Hohe Zufriedenheit der KlientInnen – Radio „Stützstrumpf“ is calling!

Pflegebedürftigen Menschen ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen ist das erklärte Ziel bei Buurtzorg. Entsprechend weit gefasst ist das Verständnis von Pflege: Neben medizinischen und rehabilitativen finden auch persönliche und soziale Aspekte Berücksichtigung im Pflegeprozess. Einen hohen Wert haben die Präventionsarbeit und die Förderung der Selbstpflege. Zentral ist dabei der Aufbau eines breiten lokalen Unterstützungs-Netzwerkes der Pflegekräfte rund um ihre KlientInnen unter Einbeziehung von SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen, Nachbarschaftshilfe, etc.

Im Mittelpunkt des Pflegeprozesses steht der Mensch, die Verbesserung der Lebensqualität. Das zeigt sich auch in Projekten, wie z.B. einem Rollator-Wettrennen, das ein Team lokal veranstaltet hat und das danach als landesweite Großveranstaltung im Olympiastadium („Rolympiade“ 2015) von Amsterdam stattfand oder „Radio Steunkous“ (Radio „Stützstrumpf“), eine regelmäßige Radiosendung in Amsterdam, ebenfalls eine Idee einer Pflegerin.

Verpflichtende nationale Qualitätserhebungen zeigen, dass Buurtzorg auch bei den KlientInnen großen Anklang findet: Buurtzorg erreicht die besten Werte bei den mobilen Versorgungsanbietern (Leichsenring 2015).

Ein Modell auch für Österreich?

Unbestreitbar ist, das Buurtzorg offensichtlich Lösungsansätze für zentrale Problemfelder bietet, die auch in Österreich evident sind (s. dazu Was ist gute Pflege? Das sagen die Beschäftigten – blog.arbeit-wirtschaft.at). Inhaltlich überzeugt das Modell viele, die an einer Weiterentwicklung des Pflegesektors interessiert sind.

Es wird jedoch von vielen an der Umsetzbarkeit unter den österreichischen Rahmenbedingungen gezweifelt. Besondere Hemmnisse werden in der föderalen Struktur, den deutlich niedrigeren staatlichen Ausgaben für  professionelle Pflegedienste und auch in der völlig anderen Abrechnungslogik von Pflegeleistungen gesehen. Doch auch bei Buurtzorg waren die Widerstände zu Beginn groß, weil es konträr zur bisherigen Systemlogik des Pflegesektors in den Niederlanden stand. Das Modell konnte aber durch bessere Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte, Pflegequalität und Kosteneffizienz überzeugen, Erfolge, die auch durch unabhängige Studien belegt sind (zuletzt z.B. KPMG, 2015).  Buurtzorg wird in den Niederlanden mittlerweile quer durch alle Parteien und Interessensgruppen im Pflegesektor unterstützt.

Ja mehr noch: Es hat eine Art „sanfte Revolution“ im mobilen Pflegesektor in den Niederlanden ausgelöst.  Buurtzorg ist innerhalb von 10 Jahren von 4 Beschäftigten auf 10.000 Beschäftigten gewachsen, weil immer mehr Pflegekräfte bei Buurtzorg arbeiten wollten. Elemente von Buurtzorg wurden auch von anderen Pflegeorganisationen in den Niederlanden übernommen. Und die Organisation, die ursprünglich die Pflegebedarfserhebung durchführten, wurden aufgrund der Erfahrungen mit Buurtzorg 2015 überhaupt abgeschafft und liegt jetzt allgemein bei den Pflegekräften selber. Zusätzlich gibt es seitens der niederländischen Regierung  auch den Wunsch das Organisationsprinzip von Buurtzorg in anderen Bereichen zu implementieren: So wird jetzt nicht nur damit experimentiert, die stationäre Pflege in den Niederlanden auf diese Form der Netzwerkorganisation mit flachen Hierarchien umzustellen, sondern es gibt auch Interesse seitens anderer Organisationen, wie Schulen und Polizei an diesem Organisationsmodell.

Auch ist das internationale Interesse an diesem Modell groß. In vielen Ländern wurde das Buurtzorg-Modell bereits implementiert (z.B. Minnesota in den USA, Japan, Schweden, Belgien). Diese Beispiele sind zwar meist noch im Stadium von Pilotprojekten, aber in manchen Ländern, wie z.B. Japan scheinen sie bereits regional in die Fläche gegangen zu sein. In anderen Ländern gibt es eine breite Diskussion dazu im Pflegesektor wie z.B. Großbritannien oder Bemühungen Pilotprojekte zu starten (z.B. Deutschland).

Buurtzorg: Ein positives Szenario für Pflege 4.0

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Buurtzorg ein überzeugendes Gegenmodell zum neoliberalen Mainstream in vielen Ländern ist, der sich gerade im Pflegesektor nachteilig auf die Qualität der Arbeitsbedingungen und die Pflegequalität ausgewirkt hat. Buurtzorg vermeidet durch eine einfache transparente Organisationsstruktur oft nicht sichtbare Kostentreiber und im Gegenzug ermöglicht es mehr Geld- und Zeitressourcen für die eigentliche Pflegetätigkeit. Die Schweizer Ökonomin Mascha Madörin kommt so zum Schluss, dass „Buurtzorg wirtschaftlicher (ist) als eine Pflege, die nach Leistungs- und festen Zeitbudgetprinzipien (…) organisiert ist, (…) weil die Logik der Pflege und ihre Arbeitsprozesse adäquat berücksichtigt werden, das heißt, die Arbeit und die Arbeitsteilung im Sinne der Pflege organisiert sind.“ (Mascha Madörin 2014) )

Literatur: