Wer kümmert sich in Österreich um betreuungsbedürftige ältere Menschen und unter welchen Bedingungen findet diese Betreuungstätigkeit statt? Den Großteil der Sorgearbeit leisten unbezahlt Angehörige, überwiegend Frauen. Daneben sind es u.a. Beschäftigte in mobilen Diensten, Privathaushalten und Betreuungseinrichtungen, die den bestehenden Pflegebedarf decken. Jeder dieser Bereiche weist spezifische Problemfelder auf – und spiegelt damit Schwachstellen des österreichischen Sorgesystems insgesamt wider. Gleichzeitig werden sowohl der Pflegebedarf als auch der Bedarf an Beschäftigten weiter steigen.
Ein aktueller Forschungsbericht, entstanden im Rahmen des interdisziplinären sozioökonomischen Forschungspraktikums der WU Wien, betrachtet ausgewählte Bereiche der Pflegelandschaft und zeigt Handlungsbedarfe auf.
Zukunftssorgen: Herausforderungen für das Pflegesystem
Pflege und Betreuung ist gesellschaftlich notwendige Arbeit, die niemals erledigt sein, niemals obsolet werden wird. Im Gegenteil: Der Bedarf steigt. Gründe dafür sind der demografische Wandel, die längere Lebensspanne im Alter, die Veränderung von Familienstrukturen und der geografischen Distanz zwischen Familienmitgliedern sowie die erhöhte Erwerbsbeteiligung von Frauen. All diese Momente führen dazu, dass einerseits der gesellschaftliche Pflegebedarf steigen und andererseits die Bereitstellung von Pflege und Betreuung in der bisherigen Form unter Druck geraten wird. So sind bereits jetzt weitreichende Tendenzen zu beobachten, Sorgearbeit zunehmend zu vermarktlichen und Effizienzbestrebungen unterzuordnen.
Informelle Angehörigenpflege: Der Hauptpfeiler des Pflegesystems
Hauptpfeiler des österreichischen Pflegeregimes ist nach wie vor die informelle, unbezahlte Betreuung durch Angehörige, die rund 80 Prozent der Pflege- und Betreuungsarbeit in Österreich abdeckt. Den Großteil dieser informellen Pflegeleistungen (rund 80 Prozent) erbringen dabei Frauen. Die Ergebnisse von Markus Fuhrmann, Benjamin Gruber, Sascha Harold und Norbert Prinz deuten darauf hin, dass dieser Umstand unter anderem eng mit der ungleichen Einkommensverteilung zwischen den Geschlechtern in Österreich verknüpft ist. Angehörigenpflege bedeutet eine zeitliche, psychische und physische Belastung, die besonders für einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen – in Österreich beispielsweise Frauen, AlleinerzieherInnen oder kinderreiche Familien – weitere Einkommenseinbußen nach sich zieht und ungleiche Verteilungsschemata weiter verfestigt. Um dieser Dynamik entgegenzuwirken, sollten primär entlastende Maßnahmen zur Unterstützung pflegender und betreuender Angehöriger im unteren Bereich der österreichischen Einkommensverteilung gesetzt werden.
Vermeintliche Wahlfreiheit: Zugangsbarrieren zur professionellen Hilfe
Vergleichsweise wenig ist bisher darüber bekannt, wie erwerbstätige pflegende Angehörige Erwerbs- und Betreuungsarbeit aufeinander abstimmen und was das – z.B. bei Reduktion der Erwerbsarbeit als Folge der Betreuungs- oder Pflegeleistung – langfristig für deren soziale Absicherung bedeutet. Damit beschäftigt sich aktuell u.a. ein laufendes Projekt von FORBA. Die Forschungsergebnisse von Nico Anger, Margit Fischer, Heidi Hinterberger und Hermann Vorhauer weisen darauf hin, dass der Umgang pflegender Angehöriger mit der eigenen Erwerbsarbeit und finanziellen Absicherung unterschiedlichen Mustern folgen kann: von der Aufgabe der Erwerbsarbeit, um sich gänzlich der Betreuung zu widmen, bis zur Beibehaltung der Vollzeiterwerbstätigkeit unter Zukauf von Dienstleistungen zur Entlastung bei der Betreuung. Diese Modelle sind aber eng an Einkommens- und Vermögensverhältnisse geknüpft – und somit auch die vermeintliche „Wahlfreiheit“ in diesem Bereich.
Wie die Ergebnisse von Alexander Braun, Alexandra Hawlin, Christian Hödl und Felix Pinck nahelegen, unterscheiden sich die Zugänge zu formellen Pflegeangeboten auch hinsichtlich des Urbanisierungsgrades. Mit anderen Worten: In Städten werden mehr Menschen in Institutionen versorgt als auf dem Land. Dies ist u.a. auf räumliche Unterschiede der Infrastruktur und der angebotenen Pflegeleistungen in Österreich zurückzuführen. Daher sollte eine flächendeckende Bereitstellung von professioneller Pflege und Betreuung hohe Priorität haben.
Dies betrifft insbesondere das mobile Pflege- und Betreuungsangebot, das eher als Substitut zu informellen Pflegeleistungen angesehen wird als die stationäre Betreuung, wie eine aktuelle Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) zeigt. Durch den verstärkten Einsatz mobiler Pflege und Betreuung kann der Eintritt in stationäre Pflegeinstitutionen zumindest verzögert und diese können somit temporär entlastet werden. Weiters sind regional unterschiedliche finanzielle Belastungen der Gepflegten sowie unterschiedliche Pflegeangebote und Qualitätsunterschiede auf die föderale Ausgestaltung des österreichischen Pflegesystems zurückzuführen und Ursprung von Ungleichbehandlung und Kosten verursachenden Ineffizienzen.
Hoher Bedarf an Beschäftigten in der Pflege – aber unter welchen Bedingungen?
Für die Bereitstellung professioneller Angebote braucht es freilich Personal. Eine Studie der WU Wien machte bereits 2006 auf einen deutlichen Nachfrageüberhang im Pflegesektor auf dem österreichischen Arbeitsmarkt aufmerksam. Die Nachfrage – vor allem nach diplomiertem Pflegepersonal – steigt in Österreich besonders in Krankenhäusern kontinuierlich an. Das Arbeitsmarktservice (AMS) vermeldet einen besonders hohen Bedarf an AltenpflegerInnen, sowie in der stationären und der Langzeitpflege.
Im Kontrast zu der hohen Nachfrage nach Pflegepersonal stehen die sozialen Risiken und prekären Arbeitsbedingungen, die mit Pflege- und Betreuungsberufen verknüpft sind. Niedrige Stundenlöhne, befristete Verträge, unregelmäßige und lange Arbeitszeiten, geringe Absicherung im Alter und bei Arbeitslosigkeit, sowie ein erhöhtes Risiko der (temporären) Arbeitslosigkeit belasten in den Mitgliedstaaten der EU je nach bestehender Erwerbsform und abhängig vom Dienstgeber in unterschiedlichem Ausmaß die Beschäftigungssituation. Der Zeitdruck nimmt ebenso zu wie die Anforderungen, und gerade für die sinnstiftenden Elemente der Arbeit bleibt zunehmend weniger Zeit. Gleichzeitig werden, wie das EU-Forschungsprojekt WALQING (Work and Life Quality in New and Growing Jobs) außerdem gezeigt hat, Beschäftigungsverträge ungesicherter und Einkommen unvorhersehbarer.
Vergleicht man die Verweildauer des Personals an einer Arbeitsstätte zwischen verschiedenen institutionellen Einrichtungen, so ist diese laut dem Pflegebericht in der mobilen Pflege mit nur 6,1 Jahren am geringsten. Eine mögliche hohe Fluktuationsrate und Arbeitsangebotsengpässe im Pflegesektor können zum einen mit der starken psychischen und physischen Belastung in diesem Beruf erklärt werden. Zum anderen sind die ungünstigen Arbeitsbedingungen und die ausbleibende gesellschaftliche Anerkennung – auch in Form angemessener Entlohnung – dafür mitverantwortlich.
Eine sinnstiftende Arbeit – der wunde Punkt
Trotz aller Widrigkeiten des Arbeitsfeldes finden Andrea Holzweber, Nicole Krysiuk, Bettina Rehner und Nina Zuckerstätter in ihrem Kapitel Hinweise auf eine starke intrinsische, sinnorientierte Motivation der Beschäftigten. Sie ist der Hauptgrund, warum mobile HauskrankenpflegerInnen trotz der zahlreichen Belastungen ihn ihrem Beruf bleiben. Und sie legt auch nahe, dass ein weiteres „Wegkürzen“ eben jener sinnstiftenden Momente der Arbeit (Zeit für Gespräche, Spaziergänge etc.) die Attraktivität der gesellschaftlich dringend benötigten Tätigkeit in ihrem Kern weiter erschüttern würde.
Wie auch eine Publikation aus dem EU-Projekt WALQING gezeigt hat, ist es ironischerweise diese intrinsische Motivation – verbunden mit einer durch die Tätigkeit im Privathaushalt besonders intensiven Beziehung zu den betreuten Personen –, die Beschäftigte in der mobilen Altenpflege und -betreuung in ihrem Status als ArbeitnehmerInnen verwundbar macht und in ihren Optionen zur Interessenvertretung schwächt. Denn Streiks oder andere Formen der Wahrnehmung von ArbeitnehmerInneninteressen erscheinen vielen Beschäftigten unrealistisch, da sie einer Schädigung der anvertrauten Betreuungsbedürftigen gleichkämen. Hier liegen zweifelsohne erhebliche Herausforderungen für Gewerkschaften und andere Interessenvertretungen, für deren Bewältigung neue Konzepte gefunden werden müssen.
Zwischen Haus und Heim: Wünsche und Wirklichkeiten
Die Forschungsarbeiten zeigen, dass die Vorbehalte gegenüber einer institutionellen Unterbringung (noch) groß sind – sowohl bei Angehörigen als auch bei Pflegebedürftigen. So beurteilen, wie der Beitrag von Marlene Heinrich, Iris Schwarzenbacher und Katharina Uhl darlegt, BewohnerInnen von SeniorInnenwohngemeinschaften ihre Wohn- und Betreuungssituation in Gegenüberstellung zur als abschreckend wahrgenommenen Alternative Heimunterbringung. Gleiches gilt für pflegende Angehörige im Beitrag von Nico Anger und KollegInnen. In Österreich sind innovative Betreuungsmodelle als Alternativen bislang noch wenig sichtbar.
Fazit: Es gibt viel Grund zur Sorge
Durch den steigenden Bedarf in Kombination mit einer relativen Verknappung des Arbeitskräfteangebots wird der politische und finanzielle Druck auf die öffentliche Hand in Zukunft noch erhöht. Ineffizienzen, die durch die getrennten Kompetenzaufteilungen in den Bereichen Gesundheit und Pflege sowie durch Finanzierung auf unterschiedlichen föderalen Ebenen entstehen, könnten beseitigt und dadurch erhebliche Kosten eingespart werden. Einsparungen und nötige (organisatorische) Maßnahmen, die bürokratische Hürden reduzieren, den Zugang zu Pflegeleistung vereinheitlichen und zur Effizienzsteigerung beitragen, dürfen gleichzeitig aber nicht noch zusätzlich zulasten der Beschäftigten in der Pflege und Betreuung gehen. Hier gilt generell: Einzelne Bereiche der Sorgearbeit dürfen nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Denn bezahlte und unbezahlte, institutionalisierte und informelle Pflege- und Betreuungsleistungen stehen miteinander in Beziehung – wie auch die jeweiligen Missstände.
Auch muss der notwendige Ausbau des Angebots mit Rücksicht auf die finanziellen Mittel der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen erfolgen – und darf den ungleichen Zugang zu Unterstützungsleistungen keinesfalls weiter verschärfen. Entlastungen der pflegenden Angehörigen sind dringend erforderlich, aber sie sind auch höchst problematisch, wenn sie, wie das etwa bei der 24-Stunden-Betreuung geschehen ist, Arbeitsplätze „zweiter Klasse“ schaffen. Es sind diese Querverbindungen zwischen den Einzelbereichen des Sorgesystems, die bei der weiteren politischen Ausgestaltung des Pflegeregimes im Blick zu behalten sein werden. Ein tatsächlich „systematisches“ Sorgesystem in Österreich aufzubauen, ist die drängende Herausforderung der Gegenwart und Zukunft.
Über Agnes Kügler
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Lehrende an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien, u.a. im interdisziplinären sozioökonomischen Forschungspraktikum.