Pflege als Industrie?

03. Juli 2018

Bei guter Pflege spielt für die meisten der menschliche Aspekt eine wichtige Rolle. Die Kernaufgabe der Gesundheits- und Krankenpflege ist die Umsetzung des Pflegeprozesses. Das bedeutet, Menschen bei ihren krankheitsbedingten Einschränkungen und bei der Therapie zu unterstützen. Unterstützung geben heißt nicht, wie am Fließband Handgriffe zu erledigen. Denn der Beziehungsaspekt zwischen dem kranken Menschen und der pflegenden Person spielt eine wichtige Rolle bei der Genesung. Allerdings haben Zuwendung, Wertschätzung und Empathie gegenwärtig kaum Platz im Pflegeprozess.

Taylorismus: Effizienz und inhumane Arbeitsgestaltung

Im Jahr 1911 entwickelte der US-amerikanische Ingenieur Frederick Winslow Taylor sein Konzept der wissenschaftlichen Betriebsführung („Scientific Management“). Dahinter stand die Idee, jeden Arbeitsschritt streng zu takten und die ArbeiterInnen ihrer geistigen Leistung zu entheben. Frederick Winslow Taylor wollte den Arbeitsprozess effizienter gestalten. Gleichzeitig wird Taylorismus als Inbegriff inhumaner Arbeitsgestaltung betrachtet.

Wenn wir das Gesundheitssystem betrachten, dann gibt es einen medizinischen Taylorismus: die Aufsplitterung des Diagnose- und Behandlungsprozesses, viele Hierarchieebenen, standardisierte und synchronisierte Workflows mit dem Ziel, eine möglichst hohe Effizienz zu erreichen – das alles entspricht diesem Konzept. Dabei begann die Umsetzung des medizinischen Taylorismus eigentlich mit der ehrenwerten und guten Absicht, die PatientInnensicherheit zu verbessern.

Was hat Pflege mit Taylorismus zu tun?

Die Kernaufgabe der Gesundheits- und Krankenpflege ist es, Menschen bei ihren krankheitsbedingten Einschränkungen und bei der Umsetzung von oft sehr komplexen Therapiekonzepten, insbesondere bei chronischen Erkrankungen, zu unterstützen. Ein Stimmungsbild der Pflege in Österreich 2018 zeigt in den erhobenen Bereichen – Berufszufriedenheit, Wiederwahl des Berufes und Weiterempfehlung des Pflegeberufes – eine deutliche Verschlechterung zu den Erhebungen im Jahr 2009.

Keine Zeit für Menschlichkeit

Die Arbeitsbedingungen sind problematisch. Pflegerinnen und Pfleger schildern, dass der Personalmangel dazu führt, dass es nicht mehr möglich ist, Kranken und ihren Angehörigen in belastenden Situation beizustehen, sie zu beraten und ihnen zuzuhören. Sie fühlen sich ausgenutzt und dazu gezwungen, ihre Ideale zu verraten – was dann bleibt, ist der Ausstieg aus dem Beruf.

Wir stehen also vor den Herausforderungen, dass der Pflegebedarf steigt und steigt und steigt. Die Ursache dafür liegt einerseits im demografischen Wandel. Nicht zu vergessen: die Pflegenden selbst werden auch immer älter. Andererseits geht mit einer längeren Lebenserwartung auch ein Anstieg der chronischen Erkrankungen einher und daraus folgt ein erhöhter Pflegebedarf.

Durch die fehlende Attraktivität des Pflegeberufs stehen wir vor einem Nachwuchsmangel: Pflege wird verbunden mit hohen Arbeitsbelastungen, geringen Verdienstmöglichkeiten und unattraktiven Arbeitsbedingungen. Es wird also zunehmend schwieriger, die besten Pflegerinnen und Pfleger für diesen Beruf zu gewinnen und auch dort zu halten.

Pflege ohne Beziehung, Reden als Anhängsel

In gewisser Weise (und vermutlich ohne davon zu wissen) steht die Funktionspflege in der Tradition des Taylorismus. Der Arbeitsprozess wird in möglichst kleine Teileinheiten und die Aufgaben werden nach funktionellen Gesichtspunkten zerlegt. Genau diese Arbeitsteiligkeit ist das zentrale Problem der Funktionspflege. Kommunikation mit den PatientInnen wird als Einzel-Arbeitselement betrachtet. Bei der arbeitsteiligen Pflege kann eine Beziehung zum Pflegebedürftigen kaum entstehen. Der ganzheitliche Charakter der Pflegearbeit wird bei der Funktionspflege zerstört. Beziehungsaufnahme und Zugewandtheit mit bzw. zu Pflegebedürftigen findet meist über körperbezogene Handlungen statt. Das hierarchisch-zentralistische Modell der traditionellen Funktionspflege wird zunehmend abgelöst durch moderne Bezugspflegesysteme. Dennoch sind wir noch ein ganzes Stück davon entfernt, die Beziehungsarbeit machen zu können, die es brauchen würde.

Eine Pflegeorganisation mit ganzheitlichem Charakter zeichnet sich durch eine patientInnenorientierte Arbeitsaufteilung aus. Sie ermöglicht die Übernahme von Verantwortung, das Erleben von Selbstwirksamkeit und die Erfahrbarkeit der Sinneinbettung von Pflegehandlungen.

Die Sinnfrage stellen

Wenn wir dem, was wir tun, keinen inneren Sinn geben, dann wird es funktional. Und wenn es funktional wird, dann wird es mechanisch (Paul J. Kohtes). Das aber ist tödlich für eine Form der Arbeit, in der es um Kreativität und um Beziehungen geht.

Die Theorie des Taylorismus „Führung durch Motivation mit Akkordlohn“ wurde abgelöst und man weiß heute, dass Arbeitszufriedenheit durch Selbstverwirklichung und Autonomie gesteigert wird. Ein Handlungsspielraum am Arbeitsplatz muss es den Pflegenden ermöglichen, Planung, Kreativität, Entscheidungsspielraum und Selbstkontrolle einzubringen und zu entwickeln und dabei den Ganzheitscharakter der Aufgabe zu wahren.

Beziehungsarbeit in der Pflege

Beziehungsarbeit in der Pflege setzt Professionalität voraus. Die Gesundheits- und Krankenpflege berücksichtigt und nutzt den Beziehungsaspekt zwischen Individuum und Pflegeperson. Zuwendung, Wertschätzung, Empathie und Intuition werden bewusst eingesetzt, um insbesondere die Entfaltung von Ressourcen zu ermöglichen, den Genesungsprozess positiv zu beeinflussen und um die Situationsbewältigung zu unterstützen. Das hat nichts damit zu tun weichherzig zu sein, ein Gutmensch zu sein – im Gegenteil es erfordert auch ein wichtiges Stück Abgrenzung.

Beziehungsarbeit in der Pflege setzt auch die richtige Haltung voraus: welches Menschenbild habe ich in mir sowie die Fähigkeit des Containment. Der britische Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897–1979) beschrieb den Begriff des Containments als „die Fähigkeit Gefühle zu halten“. Diese für Pflegepersonen wichtige Funktion des Containments – nämlich, Gefühle die im Alltag aufkommen wahrzunehmen, zu halten beziehungsweise zu containen (das Ungewisse das noch nicht verstanden wird zunächst auszuhalten) und zu verstehen. Sie müssen also die Fähigkeit besitzen, als Container (Behälter) für diese Sinneseindrücke zu fungieren, in weiterer Folge über das Wahr- und Aufgenommene nachzudenken und dem schließlich auch Bedeutung zuschreiben zu können. Es geht um das Verstehen der inneren Welt der Pflegebedürftigen auf feinfühlige Art und Weise. Sensibilisierung auf die Wahrnehmung und Berücksichtigung emotional bedeutsamer Aspekte des Alltags von Pflegebedürftigen – und das braucht mehr als nur „Wie geht’s uns denn heute?“

Die Qualität von Beziehungen stellt einen entscheidenden Faktor für die Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen dar. Menschen können in der Begegnung mit anderen, Identität im Hier und Jetzt erfahren. Oder wie Martin Buber sagt, der Mensch wird am Du zum Ich.

Pflege muss politisch mitgedacht werden

Organisationen werden zunehmend komplexer – die Dimensionen der pflegerischen Arbeit haben sich erweitert. Seit Jahren verdichten sich die Aufgaben mehr und mehr. Pflege wird durch die demografische Entwicklung zukünftig in den Mittelpunkt rücken und damit muss sich das Gesundheitssystem auseinandersetzen. Eine Versorgung, die bedarfs- und bedürfnisorientiert ist, braucht eine Verankerung der Pflegeberufe.

Mit der neuen Ausbildungsregelung der Pflege und der damit verbundenen Überführung in den tertiären Bildungssektor ist immer wieder vom „Akademisierungswahn“ zu hören gewesen. Es ist interessant, dass diese Debatte immer dann aufpoppt, wenn es um Frauenberufe geht. Gesellschaftlich gibt es allgemein eine geringe Wertschätzung für interaktionsintensive Tätigkeiten – angefangen vom Bereich der frühkindlichen Entwicklung (KindergartenpädagogInnen) bis hin zur Altenpflege. Die Ausbildungsreform ist in jedem Fall eine zeitgemäße Gestaltung und Aufwertung des Berufes. Es gilt die beiden nun nebeneinander existierenden Bildungsgenerationen gut zu managen und Strategien zu entwickeln, die den Pflegeberuf für junge Menschen attraktiver und interessanter werden lassen.

Beziehungsarbeit als hoch professionelle komplexe Tätigkeit ist wichtig, auch wenn sie nicht messbar ist. Vertrauen und Beziehungen aufzubauen und ein pflegerisch fachliches Leadership zu übernehmen anstelle von Fließbandarbeit und der Aneinanderreihung von Tätigkeiten, das soll Pflege tun können – als ihr Kerngeschäft!