Im öffentlichen Diskurs dienen Begriffe wie jener der „sozialen Hängematte“, in welcher sich früher die „Sozialschmarotzer“ und nun die „Durchschummler“ ausruhen, dazu, sozialpolitische Leistungskürzungen zu rechtfertigen. In der Debatte fehlen jedoch oft sachlich fundierte Argumente und konkrete Zahlen. Die Hauptursache von Arbeitslosigkeit ist nämlich nicht ein Motivationsproblem, sondern in erster Linie ein Mangel an Arbeitsplätzen. Die Jobsuche für Arbeitslose gleicht einer „Reise nach Jerusalem“ mit besonders schlechten Chancen für Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, maximal Pflichtschulabschluss und Personen über 50 Jahre. Diese Personengruppen sind auch besonders oft von Langzeitarbeitslosigkeit und damit von den drohenden Leistungskürzungen – Stichwort Arbeitslosengeld-Reform – betroffen.
Arbeitsmotivation von Arbeitslosen
Eine vom Institut für Wirtschaftssoziologie durchgeführte repräsentative Studie ermöglicht einen umfassenden Einblick in die Lebensrealitäten von Arbeitslosen im Alter von 20 bis 29 Jahren. Schon in der Vergangenheit zeigten einige Studien, dass arbeitslose Personen stets eine höhere nicht finanzielle Arbeitsmotivation als Erwerbstätige aufweisen. Das bedeutet, dass sich erwerbslose Personen dem nicht monetären Verlust von Sozialkontakten, der Teilhabe an kollektiven Zielen, dem Status und der Identität sowie der Zeitstruktur regelmäßiger Tätigkeit und Aktivität stärker bewusst werden. Dies steht im Gegensatz zur klassischen ökonomischen Theorie, die von einer Freizeitpräferenz ausgeht und allein den finanziellen Aspekt von Erwerbsarbeit betont. So gaben unter den befragten Personen 81 Prozent an, auch arbeiten gehen zu wollen, wenn ein Lottogewinn ein komfortables Leben ermöglichen würde. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass finanzielle Anreize wie eine schrittweise Reduktion des Arbeitslosengeldes nicht den gewünschten Effekt haben würden. Dies wird auch durch den Umstand deutlich, dass es einfach nicht genug freie Stellen am österreichischen Arbeitsmarkt gibt.
Auf jede offene Stelle kommen derzeit 3,5 Arbeitslose
Ein kurzer Blick in die AMS-Statistik genügt, um festzustellen, dass den ca. 345.000 arbeitsuchende Personen (inkl. SchulungsteilnehmerInnen) etwa 80.000 sofort verfügbare offene Stellen gegenüberstehen. Die Stellenandrangziffer, also die Anzahl von Arbeitslosen pro gemeldeter offener Stelle, beträgt demnach derzeit 3,5. Die Qualifikationsstruktur von arbeitslosen Personen passt jedoch oftmals nicht zu den offenen Stellen. Dieser Mismatch führt dazu, dass die Stellenandrangziffer zwischen den Berufsgruppen stark variiert. Ist die Stellenandrangziffer besonders niedrig, spricht man von einem Fachkräftemangel. Dies sollte jedoch keinesfalls als Begründung dazu dienen, sich mit einer größeren „Reservearmee“ an Arbeitslosen abzufinden, sondern gezielt in Ausbildungen und Lehrstellen zu investieren. Neben diesem strukturellen Hindernis sind Arbeitslose mit diversen Beeinträchtigungen konfrontiert.
Psychische und gesundheitliche Beeinträchtigungen von Arbeitslosen
Unbestritten ist, dass Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit psychischen Beeinträchtigungen steht. Dies zeigt auch die oben erwähnte Studie, die sich unter anderem mit dem mentalen Wohlbefinden der untersuchten Personen befasst. Laut österreichischer Gesundheitsbefragung fühlen sich zwei Prozent der 20- bis 29-Jährigen oft so niedergeschlagen, dass sie nichts aufheitern könnte. Bei den arbeitslosen Personen zwischen 20 und 29 Jahren sind es 25 Prozent. Das Depressionsrisiko dieser Gruppe ist also deutlich höher. Auch negative Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit sind keine neue Erkenntnis. Gesundheitliche und psychische Beeinträchtigungen sowie ein geringes Ausbildungsniveau und hohes Alter erhöhen überdies das Arbeitslosigkeitsrisiko sowie einen Verbleib in der Erwerbslosigkeit von über einem Jahr. So haben 38 Prozent der Langzeitarbeitslosen gesundheitliche Vermittlungseinschränkungen. Dies ist jedoch bei weitem nicht die einzige Hürde, mit welcher sich Langzeitarbeitslose konfrontiert sehen.
Spezifische Probleme von Langzeitarbeitslosen
Zuallererst sei erwähnt, dass Langzeitarbeitslose von einem Konjunkturaufschwung meist weniger profitieren als kürzer beim AMS gemeldete Personen. Außerdem sind knapp ein Drittel (31 Prozent) der Langzeitarbeitslosen älter als 55 Jahre. Diese sind am Arbeitsmarkt von Diskriminierung betroffen, da oftmals jüngere ArbeitnehmerInnen bevorzugt werden. Darüber hinaus haben sie öfters mit veralteten Qualifikationen zu kämpfen. Der wohlbekannte Zusammenhang von unzureichender Ausbildung und Arbeitslosigkeit ist bei Langzeitarbeitslosen noch stärker ausgeprägt. So hat in etwa jeder Zweite nur die Pflichtschule absolviert.
Fazit
Obwohl es derzeit durch einen Wirtschaftsaufschwung so viele offene Stellen wie seit 20 Jahren nicht mehr gibt, kommen auf jede dieser offenen Stellen 3,5 Arbeitslose. Bezieht man den vorherrschenden Qualifikationsmismatch als auch den geographischen Mismatch mit ein, zeigt sich noch ein weitaus unerfreulicheres Bild. Dazu kommen gesundheitliche sowie psychische und durch das Alter bedingte Vermittlungsprobleme, welche die Situation zusätzlich erschweren. Unternehmen stellen nach wie vor weniger ältere oder gesundheitlich beeinträchtigte ArbeitnehmerInnen ein. Hier den finanziellen Druck über eine Arbeitslosengeldreform oder strengere Zumutbarkeitsbestimmungen weiter zu erhöhen, ist kontraproduktiv (wie auch eine Wifo-Studie aus dem Jahr 2016 zeigt) und erscheint durch den Abbruch von Beschäftigungsprogrammen wie der Aktion 20.000 gar zynisch. Auch eine starke Standortpolitik, wie etwa eine von der Regierung geplante Senkung der Körperschaftsteuer, führt in erster Linie zu Mitnahmeeffekten und nicht unbedingt zu zusätzlichen Arbeitsplätzen. Die Einnahmen würden bei der Finanzierung von öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und des Sozialstaates fehlen, obwohl gerade staatliche Sozialausgaben die Standortqualität sichern und erhöhen. Um zu erreichen, dass Unternehmen vermehrt in Personal und weniger in Finanzanlagen investieren, wären Steuern auf Finanztransaktionen und -erträge notwendig.
Weitere wünschenswerte Maßnahmen wären größere öffentliche Investitionen in das Bildungssystem, ein Ausbau der investiven aktiven Arbeitsmarktpolitik zur Verbesserung des Humankapitals sowie Aus- und Weiterbildungen und eine bessere personelle und budgetäre Ausstattung des AMS. Erwähnenswert ist ebenfalls, dass ausreichende Sozialleistungen die Herausbildung eines Niedriglohnsektors und von Erwerbsarmut verhindern. Damit sowohl Beschäftigungslose als auch Arbeitende „nicht die Dummen“ sind.
Statt mit politischen Schlagwörtern wie „Durchschummler“ Leistungskürzungen zu rechtfertigen, sollten sich die Verantwortlichen näher mit den Lebensrealitäten und Vermittlungsproblemen von arbeitslosen Personen auseinandersetzen. Eine Stigmatisierung von arbeitslosen Personen erhöht deren Chance wieder in den Arbeitsmarkt eintreten zu können jedenfalls nicht. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung die selbstverordnete Bedenkzeit nützt, um ihre Pläne einer Reform des Arbeitslosengeldes noch einmal zu überdenken und empirische Forschungsergebnisse als Basis für ihre Entscheidung heranzuziehen.