Warum Keynes gegen den 12-Stunden-Tag wäre

07. Dezember 2018

Trotz massiver Proteste wurden die Änderungen des Arbeitszeitgesetzes, die u. a. die höchstzulässige tägliche Arbeitszeit auf zwölf Stunden und die wöchentliche auf 60 anheben, beschlossen. Seit September 2018 sind sie in Kraft. Diese Gesetzesänderung verschiebt nicht nur Machtverhältnisse weg von ArbeitnehmerInnen, sondern sie erscheint auch volkswirtschaftlich als unvernünftig. Der bedeutende Ökonom John Maynard Keynes würde sich klar dagegen aussprechen.

Arbeitszeit und Macht

Auch wenn gesetzlich die Ablehnung der Arbeitszeitverlängerung vorgesehen ist, findet ein mögliches, aktives Ablehnen durch den/die ArbeitnehmerIn in einer Machtasymmetrie statt und die faktische Sanktionierung (z. B. durch Aufgabenumverteilung) ist dem/der ArbeitgeberIn vorbehalten. Es kann daher von einer relativen „Freiwilligkeit“ gesprochen werden. Das Benachteiligungsverbot von ArbeitnehmerInnen wird sich in der Praxis als schwer umsetzbar erweisen.

Zusätzlich geleistete Überstunden führen zwar nicht automatisch zu einem Mehr an insgesamt geleisteten Arbeitsstunden, da bei der Abgeltung von Überstunden ein Wahlrecht zwischen Zeitausgleich und Auszahlung besteht. Da aber auch diese Wahl in jener Machtasymmetrie stattfindet, ist zu erwarten, dass nicht jedeR, welcheR Zeitausgleich vorziehen würde, diesen auch bekommt. Es ist daher anzunehmen, dass die Gesetzesänderung in der Realität zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots führen wird und die bestehenden MitarbeiterInnen mehr Arbeitsstunden leisten. Bleibt das Auftragsvolumen gleich, werden Unternehmen den Personalstand reduzieren. Bei zusätzlichen Aufträgen ist anzunehmen, dass die Höchstgrenzen der Arbeitszeit (aus-)genutzt werden und kein zusätzliches Personal oder nur in geringerem Ausmaß als bei der bisherigen Rechtslage eingestellt wird. Im aktuellen Konjunkturaufschwung wird die Arbeitsmarktnachfrage daher gleichbleiben oder in einem geringeren Ausmaß steigen. Die Kräfte des Wettbewerbs können darüber hinaus das Ausnützen der rechtlichen Möglichkeiten zur Senkung von Personal- und Lohnkosten forcieren. Denn wenn es einzelnen Betrieben gelingt, durch die neue Rechtslage bei Ausschreibungen günstiger anzubieten, werden andere Betriebe nachziehen müssen. Es wurden also Rahmenbedingungen geschaffen, die einer Senkung der Arbeitslosigkeit nicht förderlich sind und die Verhandlungsmacht der ArbeitnehmerInnen schwächt.

Fortschritt und Arbeitszeit

Wie ist diese zu erwartende Erhöhung der Arbeitszeit nun aus einer gesellschaftlichen Perspektive einzuschätzen? Jemand, der sich zu Lebzeiten intensive Gedanken über die Frage der Arbeitszeit gemacht hat, war der Ökonom John Maynard Keynes (siehe hierzu auch diesen Blogbeitrag). Er sah das Ziel der historischen Entwicklung in einer Gesellschaft, in der der technologische Fortschritt dazu genutzt wird, die Arbeitszeit so weit wie möglich zu reduzieren und den Menschen damit die Möglichkeit gibt, in der Freizeit ihrer eigentlichen Bestimmung nachzugehen. In seinem 1930 erschienenen Essay „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“ formulierte er folgende Überlegung: Wenn das Bevölkerungswachstum gleich bleibt und die Produktivität jährlich um ein Prozent steigt, dann würde die Gesellschaft in 100 Jahren einen vier bis acht Mal so hohen Lebensstandard als in den 1920er-Jahren haben und hierfür wesentlich weniger Anstrengungen betreiben müssen. Mit dem Produktivitätsfortschritt könne in Industriestaaten das ökonomische Grundproblem der Knappheit überwunden werden und die Menschen könnten beginnen, angenehm und gut zu leben. Er sprach von einem Zeitalter der Freizeit, in dem „Drei-Stunden-Schichten oder eine 15-Stunden-Woche“ völlig ausreichen würden.

Damit eine solche Entwicklung möglich sei, müsse es allerdings erst zu einem Umdenken kommen, da in einer auf Arbeit trainierten Gesellschaft die Menschen sich schrittweise daran gewöhnen müssen, in der Freizeit neuen Lebenssinn zu finden.

Arbeitszeitreduktion oder Arbeitslosigkeit

Letztlich war Keynes der Ansicht, dass hoch entwickelte Industriegesellschaften um eine drastische Reduktion der Arbeitszeit nicht herumkommen: Steigt der Wohlstand der breiten Masse, so nimmt auch die gesamtwirtschaftliche Sparneigung zu (wenn mehr Leute besser verdienen, können es sich auch mehr Leute leisten, einen Teil ihres Einkommens zu sparen). Wenn gleichzeitig eine Sättigung der Investitionsnachfrage der Unternehmen eintritt und technologischer Fortschritt immer mehr menschliche Tätigkeiten ersetzt, droht aufgrund mangelnder Güternachfrage chronische Arbeitslosigkeit. Dem können Industriegesellschaften langfristig nur dann nachhaltig entkommen, wenn sie schrittweise die Arbeitszeit verkürzen.

Produktivitätsfortschritt verlangt Arbeitszeitverkürzung

Keynes Überlegungen in Bezug auf den Produktivitätsfortschritt waren zutreffend, jedoch wurde das Zeitalter der Freizeit nicht realisiert. In den letzten Jahren ist die Arbeitszeit in vielen Bereichen sogar zunehmend gestiegen. Dabei stieg in Österreich die Produktivität seit den 1970er-Jahren um das Vierfache. Bis Mitte der 1990er-Jahre konnte die Lohnentwicklung mit dem Produktivitätsfortschritt mithalten, womit die Benya-Formel in etwa eingehalten wurde. Seitdem findet aber eine gewisse Entkoppelung von Lohn- und Produktivitätsentwicklung statt. Eine Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich würde einem weiteren Aufgehen dieser Schere entgegenwirken.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Quelle: Gerhartinger, Haunschmid, Tamesberger 2018

Fazit

Anstatt darüber nachzudenken, wie man es (im besten Fall) schafft, die bestehende 40-Stunden-Woche auf weniger Tage zu verteilen oder (im wahrscheinlicheren Fall) sie schrittweise auszuhöhlen, sollte man in die umgekehrte Richtung denken: Eine schrittweise Einführung der 30-Stunden-Woche, wie sie derzeit bereits vielerorts freiwillig durchgeführt wird, könnte dabei helfen, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, den Ressourcenverbrauch zu senken, stressbedingte Erkrankungen zu reduzieren, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern oder dem Trend rückläufigen zivilgesellschaftlichen und politischen Engagements entgegenzuwirken. Im Sinne von Keynes sollten wir jetzt in das Zeitalter der Freizeit starten und den Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Unser Produktivitätsfortschritt lässt diesen gesellschaftlichen Fortschritt auf jeden Fall zu bzw. fordert diesen sogar ein.

Zum Weiterlesen:

Skidelsky, R. (2009): Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert. München: Kunstmann.