Von jenen ÖkonomInnen, die in den 1930er-Jahren Österreich verlassen mussten, machten sich einige im Exil mit den neuen ökonomischen Ideen von John Maynard Keynes vertraut. Nach dem Krieg sorgten Zurückgekehrte wie Josef Steindl, Kurt Rothschild, Stefan Wirlandner, Eduard März und andere dafür, dass keynesianische theoretische Ansätze und wirtschaftspolitische Konzepte in Österreich zur Verbreitung und praktischen Anwendung gelangten. In Zeiten von Wachstumsschwäche, Rückstau bei den öffentlichen Investitionen, hohe Arbeitslosigkeit, Umverteilung zulasten der Löhne, zunehmende Einkommensungleichheit und erneut steigende regionale Unterschiede in der EU wäre eine erneute Wende in der Wirtschaftspolitik in Rückbesinnung auf den Keynesianismus angebracht.
Wie kam der Keynesianismus nach Österreich? – Die Rolle der Rückwanderer aus dem Exil
Von den 1960er- Jahren bis in die erste Hälfte der 1990er-Jahre war der Keynesianismus bestimmend für die Ausrichtung der österreichischen Wirtschaftspolitik. In der Zeit des „Austro-Keynesianismus“ stieg Österreich zu einer der leistungsstärksten und reichsten Volkswirtschaften Europas auf. Doch wie kam der Keynesianismus überhaupt nach Österreich?
In den 1930er-Jahren mussten Tausende WissenschaftlerInnen Österreich verlassen, um politischer Verfolgung zu entgehen, die anderen – wie zB Käthe Leichter – das Leben kostete. Mehrere österreichische ÖkonomInnen emigrierten in die USA bzw. nach Großbritannien und konnten sich dort mit den neuen ökonomischen Ideen von John Maynard Keynes, Michał Kalecki, Nicholas Kaldor, Joan Robinson, Roy Harrod und anderen vertraut machen.
Einige dieser ÖkonomInnen kehrten nach dem Krieg nach Österreich zurück und sorgten in der Folge hierzulande dafür, dass diese theoretischen Ansätze und wirtschaftspolitischen Konzepte Verbreitung fanden und zur praktischen Anwendung gelangten: Josef Steindl, Kurt Rothschild, Stefan Wirlandner, Philipp Rieger, Eduard März, Maria Szécsi, Karl Forchheimer, Theodor Prager und andere.
Rezeption des Keynesianismus am WIFO
Die beiden Einrichtungen, in denen keynesianische ÖkonomInnen Aufnahme fanden, waren das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) und die Arbeiterkammer Wien. Am WIFO erfolgte die frühe Rezeption keynesianischer Ökonomik insbesondere durch Kurt Rothschild, Josef Steindl und Hans Seidel, später auch durch Kazimierz Laski.
Da die österreichischen Universitäten ihre Rückständigkeit in Sachen Ökonomie bis in die 1960er-Jahre aufrechterhielten, konnten keynesianische Ökonomen dort nicht unterkommen. Es waren das WIFO und die Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der AK Wien, welche dafür sorgten, dass die heimische Ökonomik und Wirtschaftsforschung wieder Anschluss an die internationale Entwicklung auf diesen Gebieten fanden.
Die notwendige empirische Grundlage für moderne makroökonomische Politik im Allgemeinen und die prozessorientierte keynesianische Wirtschaftspolitik im Besonderen bildete die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die am WIFO ab Ende der 1940er-Jahre aufgebaut wurde.
Konzeptionelle Grundlagen des Austro-Keynesianismus
Rothschild, Steindl und Laski prägten die internationale Reputation Österreichs in der Wirtschaftswissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich. Ihre Beiträge fanden im internationalen ökonomischen Diskurs große Beachtung. Durch ihre Lehr- und Beratungstätigkeit beförderten sie die Verbreitung der Keynes’schen Lehre in Österreich stark.
Abweichend von der Neoklassischen Synthese in der Tradition von John Hicks, vertraten sie unter dem Einfluss der Arbeiten von Michał Kalecki, Nicholas Kaldor, Joan Robinson und anderen eine Keynes-Interpretation, welche die Bedeutung von Unsicherheit, der Erwartungen der wirtschaftlichen Akteure und der sozialen Beziehungen, v.a. auch der Arbeitsbeziehungen, der Lohnverhandlungen etc., betont und welche ein weniger mechanistisches Verständnis der Wirtschaftsprozesse hat als die sogenannte IS-LM-Analyse. Diese theoretischen Ansätze mit ihrer Fundierung in der Keynes-Kalecki-Tradition können als konzeptionelle Grundlage der österreichischen Wirtschaftspolitik von den 1960er-Jahren bis in die frühen 1990er-Jahre, also für den Austro-Keynesianismus, angesehen werden.
Unter Austro-Keynesianismus wird zumeist ein wirtschaftspolitisches Maßnahmenbündel aus expansiver Budgetpolitik zur Nachfrage- bzw. Beschäftigungssicherung und sozialpartnerschaftlicher Einkommenspolitik zur Stabilisierung der Preise, der Leistungsbilanz und der Erwartungen verstanden.
Die Wiener Arbeiterkammer als Mittlerin keynesianischer Wirtschaftspolitik
Die zweite Einrichtung, in der aus dem erzwungenen Exil heimgekehrte keynesianische ÖkonomInnen aufgenommen wurden, war die Wiener Arbeiterkammer. Stefan Wirlandner, Philipp Rieger, Eduard März, Maria Szécsi, Theodor Prager, Peter Milford und andere fanden dort einen beruflichen Anker und weite Betätigungsfelder in der theoretischen und empirischen Forschung sowie in der Politikberatung.
Neben den erwähnten Ökonomen im WIFO waren die KeynesianerInnen in der AK Vermittler und Verbreiter des spezifischen ökonomischen Wissens. Sie sorgten dafür, dass dieses Wissen über keynesianische Theorie und Wirtschaftspolitik in wichtigen Institutionen der österreichischen Wirtschaftspolitik und der österreichischen Politik insgesamt eingebracht und dort auch handlungsleitend wurde.
In den 1950er- und 1960er-Jahren gelang es diesen keynesianischen ÖkonomInnen, führende FunktionärInnen von der Eignung ihrer wirtschaftspolitischen Konzepte zu überzeugen. Wirlandner trat ab 1945 in der AK der planwirtschaftlichen Option entschieden entgegen und vertrat die kapitalistische Marktwirtschaft, und zwar in einer interventionistischen, staatlich gelenkten Form, im Hinblick auf die Eigentumsverhältnisse mit einem Mischsystem aus privatwirtschaftlichen, gemeinwirtschaftlichen und staatswirtschaftlichen Elementen. Mit der Teilnahme Österreichs am Marshall-Plan (1948-53) fiel nicht nur die Entscheidung für die kapitalistische Marktwirtschaft, sondern wurde auch ein Schritt in Richtung volkswirtschaftliche Rahmenplanung auf der Grundlage der neuen VGR gesetzt. Schon beim 2. ÖGB-Kongress 1951 gewann Wirlandner die Gewerkschaften für den keynesianisch-marktwirtschaftlichen Kurs.
Bereits in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre waren die Weichen für eine vorausschauende und antizyklische Wirtschaftspolitik gestellt. Zur Überwindung der Stabilisierungskrise wurden 1953/54 ganz massiv öffentliche Investitionen getätigt, Beleg für den sich etablierenden „Konsens-Keynesianismus“, der – aus Rücksichtnahme auf Konservative – nur hinter vorgehaltener Hand auch so bezeichnet werden konnte.
Auf Initiative von Stefan Wirlandner erfolgte in der Wiener AK 1957 die (Neu-)Gründung der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung. Eduard März war ihr erster Abteilungsleiter. Die erweiterte Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung profilierte sich in der Folge als Denkfabrik keynesianischer Wirtschafts- und Wachstumspolitik und der Gestaltung und Sicherung des Wohlfahrtsstaats. Ihre ÖkonomInnen entwickelten in den 1960er-Jahren Konzepte der Wachstumspolitik, welche die antizyklische Konjunkturpolitik ergänzten: Elemente dieser Politik waren wissenschaftlich fundierte Investitionsplanung (langfristige Entwicklungsprogramme, hohe Investitionsrate der öffentlichen Hände, koordinierte Investitionspolitik für privaten und öffentlichen Sektor), Forschungs- und Technologiepolitik sowie Bildungspolitik. Beabsichtigt war nichts weniger als die Stabilisierung und Krisenfestigkeit des Kapitalismus.
Keynesianismus als wirtschaftspolitisches Leitbild
Die Verankerung des Keynesianismus als wirtschaftspolitisches Leitbild war ein langfristiges Ziel der AK-ÖkonomInnen. Im Parteiprogramm der SPÖ aus dem Jahr 1958 wurde der Ansatz erstmals prominent aufgegriffen. Darin hieß es, dass Vollbeschäftigung durch antizyklische Maßnahmen auf den Gebieten der Finanz-, Währungs- und Investitionspolitik sichergestellt werden sollte. Eine keynesianische Wirtschaftspolitik versprach neben Vollbeschäftigung und wachsendem Wohlstand auch sozialen Ausgleich.
Mit dem „Arbeitskreis Dr. Benedikt Kautsky“ gründeten März, Rieger, Fritz Klenner und andere 1960 einen wirtschaftspolitischen Diskussionszirkel, der dem Keynesianismus weitere Verbreitung verschaffte.
Zwischen der (Neu-)Gründung der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der AK Wien und der Gründung der zentralen Institution der österreichischen Sozialpartnerschaft, der „Paritätischen Kommission“, im Jahre 1957 bestand ein politisch-strategischer Zusammenhang.
Sozialpartnerschaft als Institution keynesianischer wirtschaftspolitischer Steuerung
Die AK als erste Verfechterin aktiver Konjunkturpolitik konnte über die Mitwirkung in den Gremien der Sozialpartnerschaft ihre Position in der Gestaltung der Wirtschaftspolitik wieder stärken und damit die Interessen der ArbeitnehmerInnen auf neue Weise vertreten. Die Gründung des „Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen“ als Unterausschuss der „Paritätischen Kommission“ 1963 ging nicht zuletzt auf das Betreiben der Mitglieder der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung zurück. Philipp Rieger war der erste von der Arbeitnehmerseite nominierte Ko-Geschäftsführer des „Beirats“.
Die Funktionen der „Paritätischen Kommission“ und des „Beirats“ waren ja nicht nur einkommenspolitische Abstimmung zwischen den Sozialpartnern zwecks Kontrolle der Inflation in einer vollbeschäftigten Wirtschaft, sondern auch die Akkordierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik insgesamt zwischen Regierung und Sozialpartnern. Die Etablierung des „Beirats“ bot den ÖkonomInnen der AK die Gelegenheit, ihre neuen Vorstellungen in die wirtschaftspolitische Konzeption einzubringen, und dies auch wirkungsvoll.
Die gesamtwirtschaftliche Akkordierung wurde wesentlich erleichtert durch die Größe der Sozialpartnerverbände, von der starke Anreize für die Berücksichtigung der externen Effekte des jeweils eigenen Verbandshandelns ausgingen, durch die Akzeptanz des konsens-keynesianischen Wirtschaftsdenkens in Kreislaufzusammenhängen auch von Seiten der Bundeswirtschaftskammer, womit für einige Jahrzehnte zumindest ansatzweise von allen geteilte Denkmuster über Wirtschaft bestanden, und durch die Tatsache, dass sich in allen demokratisch verfassten Ländern Westeuropas in den 1960er-Jahren keynesianische Wirtschaftspolitik und sozialpartnerschaftliche Akkordierung – in freilich unterschiedlicher Form – durchsetzten.
Die Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der Wiener AK, der Kautsky-Kreis und der „Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen“ hatten demnach wesentlichen Anteil an der erfolgreichen Austrifizierung des Keynesianismus. Bis Anfang der 1990er-Jahre blieb diese Orientierung prägend für den Kurs der österreichischen Wirtschaftspolitik.
Und heute? Eine Wende zu einer postkeynesianisch orientierten Wirtschaftspolitik der EU ist dringend vonnöten!
Die neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik ging Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre von Großbritannien (Premierministerin Margaret Thatcher) und den USA (Präsident Ronald Reagan) aus. Im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre erfolgte in zahlreichen europäischen Ländern der Umschwung zu einer auf neoklassischen Konzepten beruhenden, angebotsorientierten Wirtschaftspolitik.
Für die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion waren neoliberale Ideen von Anfang an bestimmend. Heute, siebzehn Jahre nach Beginn der dritten Stufe der EWWU und acht Jahre nach dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise, sind die Ergebnisse dieses neoliberalen wirtschaftspolitischen Kurses in der Eurozone alles andere als überzeugend: Wachstumsschwäche, Rückstau bei den öffentlichen Investitionen, hohe Arbeitslosigkeit, Umverteilung zulasten der Löhne, zunehmende Einkommensungleichheit, erneut steigende regionale Unterschiede, Verfehlung des Inflationsziels (Deflationsrisiko!) und stark gestiegene Staatsschuldenquoten als Folge der Wirtschaftskrise und der durch die neuen Fiskalregeln erzwungenen prozyklischen Ausrichtung der Fiskalpolitik.
Aus der Sicht postkeynesianischer ÖkonomInnen liegt die Ursache für Wachstumsschwäche und anhaltend hohe Arbeitslosigkeit im Euroraum in fehlender Kongruenz zwischen der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik und dem Nachfrageregime in der Eurozone. Die Tatsache, dass die Nachfrageentwicklung im Euroraum lohngetrieben ist, wird von der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik nicht zur Kenntnis genommen.
Für ein effektives Vorgehen gegen die Nachfrageschwäche und die Investitionsflaute im Euroraum sind neben einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik erstens expansive Geld- und Fiskalpolitik unabdingbar und zweitens ein koordiniertes Agieren von Fiskalpolitik, Geldpolitik und Lohnpolitik. Elemente, die historisch in der Phase des Austro-Keynesianismus für den wirtschaftlichen Erfolg sorgten, der Österreich immer noch eine internationale Spitzenposition einnehmen lässt.
Dieser Beitrag basiert auf den weiterführenden Sammelband „Wie kam der Keynesianismus nach Österreich?“.