Das wirtschaftspolitische Modell der EU basiert auf drei neoliberalen Pfeilern: Der Schaffung eines unbeschränkten Binnenmarktes, auch und besonders im Finanzbereich; einer unabhängigen Zentralbank, für die Preisstabilität Vorrang gegenüber Beschäftigung hat und strikten und unbeweglichen Fiskalregeln. Dieses Modell ist spätestens mit der Finanzkrise seit 2008 umfassend gescheitert: wirtschaftlich, ideologisch und auch politisch. Ein Kurswechsel hin zu einer sozial-ökologischen Transformation steht an, wird aber noch durch eine tiefgreifende Entdemokratisierung blockiert.
Wirtschaftliches Scheitern des EU-Neoliberalismus in der Finanzkrise
Das wirtschaftliche Scheitern der EU-Politik in der längsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren ist offensichtlich: Die Wirtschaftsleistung ist kaum höher als 2007 und damit um nahezu ein Achtel niedriger als bei “normaler” Konjunktur; der Anstieg der Zahl der Arbeitslosen um 8 ½ Millionen rechtfertigt von Massenarbeitslosigkeit zu sprechen; die Staatsschulden sind um 30% des BIP gestiegen. Das ist das Ergebnis falscher Wirtschaftspolitik auf Basis neoliberaler Theorie:
- Sie hat zunächst unter heftigem Druck des Finanzkapitals das theoretische Konstrukt freier, effizienter und wohlstandsschaffender Finanzmärkte in die wirtschaftspolitische Praxis umgesetzt und damit eine wesentliche Ursache für die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 zu verantworten.
- Dann wurde viel zu rasch auf einen harten Kurs des Sparens im Bereich öffentlicher und sozialer Infrastruktur umgeschwenkt, in der auf der „Theorie nicht-keynesianischer Effekte“ beruhenden Hoffnung, dies hätte keine negativen Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung; das Ergebnis war die zweite Rezession 2012/13.
- Schließlich wurden in den Krisenländern „Strukturreformen“ (Code für neoliberale Reformen) durch die Senkung von Löhnen und Sozialleistungen durchgesetzt, um preisliche Wettbewerbsfähigkeit herzustellen; das Ergebnis ist Deflation, die ganz Europa mitzureißen droht.
Hegemoniekrise des Neoliberalismus
Dieses offenkundige wirtschaftliche Scheitern des EU-Modells hat zu einer Hegemoniekrise des Neoliberalismus geführt. Das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz des Europäischen Institutionengefüges (dessen Teil die nationalen Staatsapparate sind) ist schwer erschüttert. Wer kann nach den Erfahrungen der letzten Jahre noch davon ausgehen, dass die Kosten der von Banken und Finanzmärkten ausgelösten Krise verursachergerecht getragen werden? Wer traut der europäischen Politik noch zu, Instrumente gegen die Massenarbeitslosigkeit entwickeln zu können? Welche/r Lohnabhängige/r kann den Versprechungen einer angemessenen Pensionsvorsorge durch die Finanzmärkte noch Vertrauen schenken? Wer im „Süden“ oder „Osten“ aber auch in „Kerneuropa“ hängt noch der Illusion an, die wirtschaftlichen Gewinne der Integration würden fair verteilt?
Es wird immer offensichtlicher in welchem dramatischen Ausmaß in der EU wirtschaftliche Sachzwänge konstruiert werden, um den von der breiten Masse der Bevölkerung erarbeiteten wirtschaftlichen Wohlstand einer ganz kleinen Schicht von Vermögenden zufließen zu lassen. Der enorme Erfolg, den Thomas Pikettys Werk Kapital im 21. Jahrhundert erfährt, beruht genau darauf: Dem verbreiteten Unbehagen über die ungerechte Verteilung von Vermögen, Einkommen und Lebenschancen in den reichen Gesellschaften Europas und der Abkehr des aus dem akademischen Zentrum der Wirtschaftswissenschaften kommenden Autors vom neoklassischen Modell zugunsten einer auf Daten basierenden empirischen Ökonomie, die sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen bereit ist.
Immer mehr etablierte Intellektuelle aller Wissenschaftszweige positionieren sich mit zunehmender Deutlichkeit gegen den Neoliberalismus in allen seinen Spielarten. Jürgen Habermas sieht im Beschluss des Fiskalpaktes und in den geplanten Verträgen für Wettbewerbsfähigkeit eine gefährliche Aushöhlung der Demokratie in Europa durch eine freischwebende, parlamentarisch ungebundene Exekutive. Wolfgang Streeck, einst Stichwortgeber von Gerhard Schröder, fordert eine Rückkehr zu Marx, ohne den sich die „aktuelle Entwicklung der modernen Gegenwartsgesellschaften […] nicht auch nur annähernd verstehen lasse“ und knüpft damit an das Comeback kritischer Gesellschaftstheorie in den USA und Europa an.
Krise der Politik
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, spiegelt sich die Krise des Neoliberalismus auch in jüngsten Wahlgängen. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament strafte die Bevölkerung “im Westen” jene Regierungsparteien ab, die sie für die Umsetzung der neoliberalen Krisenpolitik verantwortlich macht: Konservative Parteien in Spanien, Italien und Griechenland verloren in dramatischem Ausmaß Stimmanteile, sozialdemokratische Parteien fanden sich in Frankreich, den Niederlanden, Irland und Finnland als Kleinfraktionen wieder. Im “Osten” ging in nahezu allen Ländern die Wahlbeteiligung teils drastisch zurück, in Slowenien und Tschechien lag sie nur noch bei 20%, in der Slowakei gar bei nur 13% der Wahlberechtigten. Dort wo rechtsextreme Parteien zulegten, taten sie das oft nicht nur mit fremdenfeindlichen Parolen, sondern auch mit einer Kritik am neoliberalen Sparkurs, so etwa die Front National in Frankreich.
Demgegenüber konnten Parteien, die sich glaubhaft bemühen, am Konzept einer kohärenten fortschrittlichen Wirtschaftspolitik zu arbeiten, den Zuwachs der extremen Rechten eng begrenzen und selbst kräftig Stimmanteile zuzulegen, so etwa in Spanien und Griechenland.
Kurswechsel für fortschrittliche Wirtschaftspolitik
Die Krise der neoliberalen Wirtschaftspolitik der EU, die Hegemoniekrise der neoliberalen Ideologie und die politischen Misserfolge neoliberal ausgerichteter Parteien öffnet das Feld für alternative Ansätze. Die wesentlichen Elemente fortschrittlicher Wirtschaftspolitik bergen das Potential, die Wirtschaft aus der Rezession zu führen und ein Stück weit zu demokratisieren, Arbeitslosigkeit und Prekarität erfolgreich zu bekämpfen, dem Ziel einer ressourcenschonenden Ökonomie näher zu kommen, die Finanzierbarkeit des Sozialstaates sicherzustellen und den Wohlstand gerecht zu verteilen:
- Die rasche Ausweitung öffentlicher Investitionen in soziale und ökologische Infrastruktur, um den dringend notwendigen Nachfrageimpuls auszulösen, den gesellschaftlichen Reichtum breit zu verteilen und eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung einzuleiten.
- Die Herstellung von Transparenz über die Verteilung von Vermögen und Einkommen, das Schließen von Steueroasen sowie die Besteuerung von Vermögensbeständen und Erbschaften, um finanziellen Spielraum für sozial-ökologische und beschäftigungspolitische Initiativen zu gewinnen und eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.
- Die Regulierung und Schrumpfung des Finanzsektors, um die Voraussetzung für erfolgreiche Steuerung, Transformation und Demokratisierung der Wirtschaft zu gewährleisten.
- Die Zurückdrängung prekärer Arbeitsverhältnisse und eine Umverteilung zugunsten der Leistungseinkommen aus Arbeit.
- Die Weiterentwicklung des „europäischen Sozialmodells“, mit dem Ziel, allen unabhängig von ihrer Herkunft den Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen zu ermöglichen.
- Eine Verkürzung der Arbeitszeit, um Beschäftigung zu schaffen und Räume zu öffnen für die Beteiligung aller nicht nur an der Familien-, Care- und Hausarbeit, sondern auch an der politisch-gesellschaftlichen Teilhabe und der Zeit für Muße.
Die Schützengräben des Neoliberalismus
Der Kurswechsel zu fortschrittlicher Wirtschaftspolitik wird vor allem mit der Verankerungen neoliberaler Weichenstellung in der Europäischen „Verfassung“ zu verhindern versucht: Ein rigides Set fiskalischer Regeln verhindert öffentliche Investitionen als Instrument des Konjunkturimpulses und des sozial-ökologischen Umbaus; Fortschritte in der Besteuerung multinationaler Konzerne, Vermögender und des Finanzsektors werden durch das Einstimmigkeitsprinzip untergraben; Marktfreiheiten dürfen nicht beschränkt werden; die Spielräume der Zentralbank zur Finanzierung öffentlicher Interessen sind verbaut; und mit diesen Beispielen sind noch bei weitem nicht alle neoliberalen Weichenstellungen der europäischen Verfassung benannt.
Seit der Krise erleben wir die zunehmende Umgehung bestehender demokratischer Normen durch das Völkerrecht (Fiskalpakt) und Verordnungen ohne Kompetenzgrundlage (New Economic Governance) . Dieser autoritäre Konstitutionalismus soll fortgesetzt werden, darauf weisen etwa die Forderungen der neuen Kommission nach Verträgen für Wettbewerbsfähigkeit hin. Denn die Europäische Verfassung sieht derzeit keine Kompetenzgrundlage für Verträge über Strukturreformen im Gegenzug zu finanziellen Anreizen vor. Jürgen Habermas beschreibt diesen Prozess damit, dass die Regierenden „die Schotten dicht machen“, um eine „übergriffige exekutive Macht, die sie in den Jahren der Krise auf dem Weg undemokratischer Selbstermächtigung ausgebaut haben“, gegen ihre Infragestellung abzusichern.
Ein Kurswechsel zu einer sozialen und ökologischen Transformation der europäischen Wirtschaft wird nur gelingen können, wenn diese Strukturen der Blockade im Interesse einiger Weniger durch den Druck eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses aufgebrochen werden, das die Bevölkerung als demokratische Protagonistin in den Mittelpunkt stellt. Ein Mosaik, das kritische Wissenschaft, soziale Bewegungen, die Gewerkschaften und fortschrittliche Parteien grenzüberschreitend zu einem kohärenten Projekt zusammenfügt, wäre in der Lage, das Gegengewicht zur neoliberalen Umverteilung nach oben, abgesichert durch den autoritären Konstitutionalismus, darzustellen.
Dieser Blogbeitrag ist die aktualisierte Kurzfassung eines Artikels der im letzten infobrief eu & international erschienen ist und der weiterführende Quellen enthält.