Vor wenigen Tagen ließ die designierte Kommission die Katze aus dem Sack: Sie will dafür sorgen, dass ihre wirtschaftspolitischen Forderungen durchsetzbar werden. Deregulierung des Mietrechts, Anpassung des Pensionsantrittsalters an die Lebenserwartung und Flexibilisierung der Lohnfindung waren 2014 noch Empfehlungen. Das soll sich nun ändern. Die Instrumente dazu sind Wettbewerbspakte 2.0 und ein eigener Haushalt für die Eurozone, auch wenn es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Auf den kommenden Treffen des Europäischen Rates wird die Grundsatzentscheidung fallen.
Instrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit, Wettbewerbspakte, Partnerschaften für Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit – so zahlreich wie die Namen, sind auch die Versuche des Europäischen Rates einen Konsens über verbindliche Verträge für neoliberale Strukturreformen herzustellen.
Entsprechende Pläne verfolgt Angela Merkel als organische Intellektuelle eines „Reformbündnisses“ aus Unternehmerverbänden, Finanzindustrie, den nationalen Finanz- und Wirtschaftsministerien, der EU-Kommission, neoliberalen Staatschefs und der EZB bereits seit Anfang des Jahres 2013.
Geht es dabei um jene Länder mit Finanzierungsschwierigkeiten auf den Finanzmärkten oder um jene Ökonomien, die übermäßige Handelsbilanzdefizite aufweisen? Nein. Denn für diese sind im Windschatten der Krise längst Instrumente beschlossen worden, welche ihre Wirtschaftspolitik auf die Vorgaben des neoliberalen Reformbündnisses verpflichten.
Neoliberales Reformbündnis zielt auf die verbleibenden Länder
Bei den Wettbewerbspakten geht es nun auch um die verbleibenden Länder – z.B. Frankreich, Deutschland, aber auch Österreich. Für alle Euro-Staaten soll ein Hebel geschaffen werden, der – in den Worten der Kommission „politische Hindernisse für die Reform“ überwindet: In bindenden Verträgen sollen sich die Länder auf „Strukturreformen im Arbeitsmarkt, im Sozial- und Gesundheitssystem und bei Pensionsregeln“ verpflichten. Wer zeitgerecht umsetzt, soll dafür einen „finanziellen“ Anreiz erhalten.
Nicht über den Sozialmissbrauch der Konzerne durch Steuerflucht, welcher nach Schätzungen der Kommission (!) eine Billion Euro jährlich der öffentlichen Hand entzieht, soll gesprochen werden. Nicht über die immer schnellere Verteilung des Reichtums von unten nach oben. Und auch nicht über die finanzmarktgetriebene Entdemokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Vielmehr stärken die Wettbewerbspakte jene Akteure, die seit Jahr und Tag „schmerzhafte aber notwendige“ Reformen im Bereich der sozialen Infrastruktur einfordern. Denn wer kann es sich in Zeiten knapper Kassen schon leisten, Geld in Brüssel liegen zu lassen?
Doch bisher konnte im Europäischen Rat nicht die notwendige Einstimmigkeit für die Wettbewerbspakte erreicht werden. Zu groß war der Widerstand der unter anderem von Gewerkschaften, der AK und grenzüberschreitenden Bündnissen wie „Europa geht anders“ ausging, zu gering die Durchsetzungsmacht der scheidenden Kommission.
Alte Idee, neue Offenheit: Durchsetzbarkeit für Empfehlungen der Kommission
Das soll sich nun ändern. So berichtete das Handelsblatt vor wenigen Tagen, dass die für die entsprechenden Ressorts vorgeschlagenen Kommissare Moscovici und Dombrovskis „die Regierungen unbedingt dazu bringen“ wollen, „die bislang wenig beachteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen der EU künftig einzuhalten.“ Obwohl damit „eine Idee von Angela Merkel aufgriffen wird, die eigentlich schon als erledigt galt“, ist an den Vorschlägen manches neu:
1) Bisher scheute die Kommission davor zurück, explizit festzustellen, dass ihre länderspezifischen Empfehlungen den Vertragsgegenstand der Pakte darstellen sollen.
2) Zur Bereitstellung der finanziellen Anreize bei Erfüllung der Wettbewerbspakte soll mittelfristig ein eigenes Budget für die Eurozone eingerichtet werden.
Doch was beinhalten die länderspezifischen Empfehlungen eigentlich? Da die Wettbewerbspakte übereinstimmend in allen bisherigen Vorschlägen zwischen „den Mitgliedstaaten der Eurozone und der Kommission geschlossen werden sollen“, lohnt es sich auszugsweise einen Blick in jene Empfehlungen zu werfen, welche die Kommission 2014 verabschiedet hat, bevor diese vom Rat noch abgeschwächt wurden:
Belgien solle etwa die „Reform des Lohnfindungssystems einschließlich der Lohnindexierung [vorantreiben] und erforderlichenfalls für effektive automatische Korrekturen“ sorgen. Bulgarien wird die Absenkung des Mindestlohnes geraten. Frankreich auf das Modell Deutschland verpflichtet: Das Arbeitslosensystem soll so „reformiert“ werden, dass „Anreize zur Wiederaufnahmen einer Beschäftigung“ gestärkt werden. Dafür soll Deutschland erneut vorangehen und Anreize zu einem späteren Rentenantritt setzen. Slowenien und Kroatien werden zu Privatisierungen angehalten und Schweden gar zu einer Deregulierung des Mietrechts, um „ein stärker marktorientiertes Mietniveau zu ermöglichen.“ Für Österreich sieht die Kommission eine Koppelung des Pensionsantrittsalters an die Lebenserwartung und ein Vorziehen der Angleichung des Antrittsalter von Frauen und Männern vor (für eine nähere Darstellung und Belege siehe unten).
Doch geht es bei den Wettbewerbspakten um eine Auseinandersetzung zwischen EU und Nationalstaat? Nein. Vielmehr versuchen nationalstaatliche Akteure des neoliberalen Reformbündnisses, wie die Verbände der Industrie und die Wirtschafts- und Finanzministerien, die europäische Ebene zu nützen, um ihre Interessen durchzusetzen. Forderungen, die innerhalb der nationalstaatlichen Demokratien aufgrund der für diese Interessen ungünstigeren Kräfteverhältnisse bisher nicht durchzusetzbar waren.
Die Überwindung demokratischer Hindernisse
Dass die zentrale Konfliktachse nicht zwischen „der EU“ und z.B. „Österreich“ verläuft, sondern zwischen Exekutive (auf europäischer und nationaler Ebene) und der repräsentativen Demokratie, wird daran deutlich, wie die Wettbewerbspakte eingerichtet werden sollen. Der neue Kommissionspräsident Jean Claude Juncker lässt uns dazu wissen: „Im ersten Jahr meiner Amtszeit möchte ich legislative und nicht-legislative Initiativen zur Vertiefung unserer Wirtschafts- und Währungsunion auf den Weg bringen. Dazu gehören […] Vorschläge zur Förderung weiterer Strukturreformen, wenn nötig durch zusätzliche Finanzanreize und eine zielgerichtete Fiskalkapazität auf Euroraumebene […].“ Der Wortlaut lässt vermuten, dass die Wettbewerbspakte durch eine Verordnung eingerichtet werden sollen. Doch die europäischen Verträge sehen ganz offenkundig keine Kompetenz für Wettbewerbspakte und die daran gekoppelte Auszahlung eines finanziellen Anreizes vor. Auch der neue Kommissionpräsident scheint den Weg des autoritären Konstitutionalismus beschreiten zu wollen, der sowohl nationale, als auch das europäische Parlament durch eine Umgehung des ordentlichen Vertragsänderungsverfahren schwächt.
Doch Unehrlichkeit kann man der Kommission nicht vorwerfen. Schließlich spricht sie schon seit fast zwei Jahren klar an, um was es geht: Die Überwindung von politischen Hindernissen. Ob sich die Staats- und Regierungschefs an der neuerlichen Überbrückung der Parlamente, in denen die Lohnabhängigen ihre Interessen noch vergleichsweise einfach durchsetzen können, beteiligen werden, ist allerdings noch offen. Die Grundsatzentscheidung wird wohl auf dem kommenden (23. Oktober) oder dem drauf folgenden Europäischen Rat (18. Dezember 2014) fallen. An keiner Stelle des Weges, der letztlich zu einer Verordnung für die Wettbewerbspakte führt, lässt sich das neoliberale Reformbündnis so leicht herausfordern: Dazu reicht schon eine Stimme, denn der Europäische Rat entscheidet im Konsens.
Dieser Blogbeitrag ist die gekürzte Fassung eines Beitrages im bald erscheinenden infobrief eu & international 4/2014, der sich hier kostenlos vorbestellen lässt.
Weiterführende Literatur und Links: