Die Herrschaft über die Zeit ist eine Demokratiefrage

09. Juli 2018

In einer Demokratie sollten alle Menschen über die Verwendung ihrer Zeit möglichst frei bestimmen. Eine Ausweitung der Arbeitszeiten vergrößert die reale Macht derer, die sozioökonomisch ohnehin die Nase vorn haben. Dadurch entsteht ein weiteres Ungleichgewicht, das der Demokratie schadet.

Als soziale Wesen leben wir einen Großteil unseres Lebens in Organisationen, die einen gewissen Rahmen, ein Regelwerk und eine Ordnung vorgeben. Bereits Kinder sind spätestens ab dem Eintritt in eine Betreuungseinrichtung von organisatorischen Regeln umgeben und müssen sich – wollen sie nicht bestraft werden – an diese halten. Nach dem Kindergarten folgt die Schule, danach gegebenenfalls eine Lehre oder ein Studium sowie schließlich der Eintritt in die Arbeitswelt. Große Teile der insgesamt zur Verfügung stehenden Lebenszeit eines Menschen werden also in Organisationen zugebracht. Als demokratisch kann man Organisationen dann bezeichnen, wenn das Zustandekommen des Regelwerks auf einer gleichberechtigten Mitsprache aller Betroffenen beruht und dieses Regelwerk durch diese auch verändert werden kann. Dazu bedarf es der Möglichkeit des Widerspruchs ohne Sanktionierung. Wo dies nicht gegeben ist, kann von Demokratie nicht die Rede sein.

Viele Stunden täglich fremdbestimmt

Wir können also mit diesem einfachen Kriterium festhalten, dass Organisationen wie Schulen oder Unternehmen demokratische Grundvoraussetzungen vorerst nicht erfüllen. Zwar wurden in der Nachkriegszeit sowohl im Bildungssystem als auch in der ArbeitnehmerInnen-Vertretung und über die Sozialpartnerschaft gerade in Österreich wichtige Errungenschaften erzielt, aber die gleichberechtigte Gestaltung der Rahmenbedingungen oder das Recht auf Widerspruch ohne Sanktionierung wurden nie erreicht. Dass die freie Entfaltung des Individuums und dessen Mitspracherechte in diesen Einrichtungen auf enge Grenzen stoßen, wurde aber gesellschaftlich stets breit akzeptiert. Es ist immer noch überraschend unumstritten, dass wir viele Stunden täglich an einem Ort verbringen, den wir nicht frei gewählt haben, und Dinge tun, die uns von anderen aufgetragen werden. Für die Demokratie als Staatsform ergeben sich damit Probleme, denn die BürgerInnen, die politisch und verfassungsmäßig als freie und gleichberechtigte Individuen gelten, werden durch die Organisationen des Alltags zu Unfreien.

Mehr Mitsprache oder mehr Freizeit

Nun gibt es zwei Optionen, um dies zu verändern. Entweder man demokratisiert die Bildungs- und Arbeitswelt auf radikale Weise durch gleichberechtigte Mitsprache oder man versucht, die BürgerInnen zeitlich zu entlasten und durch mehr Freizeit ein Mehr an Freiheit zu schaffen. Das eine würde bedeuten, dass die MitarbeiterInnen eines Unternehmens ein Recht auf Mitbestimmung in allen relevanten Fragen bekämen – vom Gehalt über den Arbeitsort bis hin zu unternehmensstrategischen Entscheidungen. Das andere würde der Kampf für eine Reduktion der Arbeitszeit sein, etwa die Einführung einer 35-Stunden-Woche oder einer sechsten Urlaubswoche. Der Trend geht in vielen europäischen Ländern derzeit jedoch in eine andere Richtung, d. h. sowohl die innerorganisatorische Mitsprache als auch die Freizeit werden infrage gestellt und beschnitten. Das führt zu einer weiteren Ungleichverteilung der Ressource Zeit. Während einige wenige nicht nur über ihre eigene Zeit, sondern auch über jene anderer Menschen verfügen, können diese anderen nicht einmal über ihre eigene Zeit herrschen und werden immer unfreier.

Einseitige Sanktionierungsmöglichkeiten

In den aktuellen Diskussionen über die Ausdehnung der Arbeitszeiten auf zwölf Stunden pro Tag bzw. 60 Stunden pro Woche zeigen sich dementsprechend zwei demokratiepolitisch relevante Probleme: Erstens ist die Herrschaft über die individuelle Zeit dadurch eingeschränkt, dass die Ausdehnung einer täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit von der Konjunktur, der Nachfrage oder dem Willen des Unternehmers/der Unternehmerin abhängt. MitarbeiterIn und ChefIn entscheiden nicht gleichberechtigt, an welchen Tagen oder in welchen Wochen länger gearbeitet werden soll. Der Vorschlag oder die Anordnung können de facto nur von der einen Seite erfolgen, denn die Vorstellung, dass ein/e MitarbeiterIn sagt, er/sie möchte heute zwölf Stunden arbeiten, obwohl kein Bedarf an ihrer/seiner Arbeit besteht, ist absurd. Der zweite Punkt wiegt noch schwerer: Die Möglichkeit der faktischen (nicht rechtlichen) Sanktionierung ist dem/der ArbeitgeberIn vorbehalten. Auch wenn gesetzlich die Ablehnung der Arbeitszeitverlängerung möglich sein sollte, bleiben den Vorgesetzten alle anderen bekannten Varianten der Machtausübung – Rückstufung, Aufgabenumverteilung, Aufstiegsstopp oder Kündigung u. a.

Zwei-Klassen-Demokratie aufgrund der Ungleichverteilung von Zeit

Dies alles birgt die Gefahr einer Zwei-Klassen-Demokratie, in der sich die Schere zwischen Arm und Reich nicht nur sozioökonomisch vergrößert, sondern auch in Hinblick auf die Ressource Zeit. In einer solchen Gesellschaft regieren einige wenige über ihre eigene Zeit und über die Zeit vieler anderer. Diese vielen anderen hingegen müssen hinnehmen, dass ihre Lebenszeit als eine ihrer wichtigsten Ressourcen immer weniger von ihnen selbst beherrscht werden kann. Denn wer etwa an einem Tag zwölf Stunden arbeiten muss, ist inklusive Arbeitspausen und Anfahrtswegen 14, 15 oder mehr Stunden am Tag vom Regelwerk der Arbeit fremdbestimmt. Es bleibt von den 24 Stunden täglich noch etwas Zeit zur Erholung, zur Nachtruhe und zum Essen. Für Gespräche mit der Familie, das Spielen mit den eigenen Kindern, die Pflege Angehöriger, ehrenamtliche Tätigkeiten, Hobbys oder politisches Engagement reicht das nicht. Freizeitaktivitäten ohne Freizeit müssen dann daran scheitern, dass ein Tag nur 24 Stunden hat.

Für Demokratien ist die Ungleichverteilung von Ressourcen eine der großen Gefahren. Die Ressource Zeit spielt hier eine wesentliche Rolle. Wenn weite Teile der Bevölkerung die Herrschaft über ihre Zeit verlieren, haben wir ein echtes Demokratieproblem.