Eine neue vorausschauende Wirtschaftspolitik in Zeiten globaler Krisen

01. August 2022

Angeblich antwortete auf Winston Churchills Vorwurf, dass er in wirtschaftspolitischen Fragen ständig seine Meinung ändere, John Maynard Keynes einst: „If facts change, I change my mind. What do you do, Sir?“ Finanz-, Energie-, Lieferketten- und Klimakrise lehren uns jetzt Ähnliches. Die etablierten ökonomischen Ansätze geben keine oder nur unzureichende Antworten, althergebrachte Weisheiten der Mainstream-Ökonomie stehen plötzlich zur Disposition und grundsätzliche Fragen der Wirtschaftspolitik müssen neu gestellt werden. Welche Rolle muss der Staat in der Wirtschaftslenkung einnehmen? Welche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der Daseinsvorsorge sollen über einen Marktmechanismus koordiniert werden – und welche nicht? Wo trägt das Individuum Eigenverantwortung und wo braucht es kollektive Vorsorge? Gerade in Zeiten großer Veränderung werden diese Fragen wieder drängend und rufen nach gesellschaftlichem Diskurs und neuen Antworten.

Zeiten verändern sich, Zeiten verändern dich

Digitalisierung, Dekarbonisierung und (De-)Globalisierung verändern Produkte, Produktionsprozesse und Geschäftsmodelle in allen wesentlichen Industrien. Beginnend bei der Energieerzeugung und den Grundstoffindustrien Chemie, Stahl, Zement, Eisen und Metall über die Bauwirtschaft, den Fahrzeug- und Maschinenbau, den gesamten Verkehrssektor bis hin zur Landwirtschaft bleibt kein Stein auf dem anderen. Neue (digitale) Monopole gewinnen politische Macht und gesellschaftlichen Einfluss, Plattformökonomie und digitale Geschäftsmodelle entgrenzen Arbeit sowohl räumlich als auch zeitlich, und neue Technologien werfen ethische Fragen zum Umgang mit personenbezogenen Daten und der Mensch-Technik-Beziehung auf. All dem liegt die Frage zugrunde: Wie soll die Gesellschaft mit den großen sich abzeichnenden Veränderungen umgehen – per Krise und Chaos oder aktiv politisch gestaltet?

Ein neuer wirtschaftspolitischer Anspruch: Veränderung braucht aktive Gestaltung

Um den sozialen Zusammenhalt in der Veränderung aufrechtzuerhalten und niemanden zurückzulassen, müssen Wirtschafts- und Industriepolitik als Teil einer aktiven und vorausschauenden Strukturwandelpolitik verstanden werden. Mit der vorherrschenden Dogmatik „Der Markt regelt das schon“ und „Strohfeuer-Initiativen“ – Einzelmaßnahmen losgelöst von Strategie und Kontext für die medial Dauerbeschallung – wird es nicht gelingen, den Wandel sozial gerecht (Just Transition) zu gestalten. Dafür braucht es eine aktive und strategische Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik und ein neues Verständnis des Staates im wirtschaftspolitischen System. Da sich der digitale und grüne Strukturwandel nicht gleichmäßig über alle Wirtschaftsbereiche, Qualifikationen, Regionen und Branchen hinweg vollzieht, braucht es eine Mischung aus sektoralen und regionalen Strategien, die arbeitsmarkt-, sozial- und bildungspolitisch begleitet werden.

Der Staat muss klare und verpflichtende Ziele und Rahmenbedingungen setzen und daraus konkrete Transformationspfade entwickeln. Das kann nur in Abstimmung mit allen betroffenen Politikbereichen und unter starker Einbindung der relevanten Stakeholder gelingen. Das Ziel ist eine inklusive industrie- und regionalpolitische Gesamtstrategie für eine faire Transformation, die mit dem Wandel verbundene Chancen für Wertschöpfung und Beschäftigung nutzt und den sozialen Ausgleich wahrt.

Bausteine für eine vorausschauende und zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik

Eine vorausschauende und vorsorgende Wirtschaftspolitik setzt sich aus mehreren Bausteinen zusammen. Diese Bausteine sind die Stärkung der Widerstandsfähigkeit, der Ausbau der Strategiefähigkeit des öffentlichen Sektors und seiner Institutionen, die missionsorientierte Ausrichtung in Forschung & Entwicklung, die Stärkung von Mitbestimmung und Beteiligung sowie strategisch gezielte Investitionen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Widerstandsfähigkeit stärken

Krisen und Strukturwandel bedeuten auch immer Unsicherheit: Unsicherheit über die Entwicklung von Geschäftsmodellen, Beschäftigungschancen und Lebensperspektiven. Soziale Absicherung, die diesen Namen auch verdient, und konkrete Entwicklungsperspektiven sind in Zeiten wachsender Unsicherheit besonders wichtig. Der Sozialstaat und eine beschäftigungsorientierte Arbeitsmarktpolitik können in solchen Phasen ein gewisses Maß an Stabilität und Sicherheit bieten. Damit dies gelingt, braucht es Investitionen in sozial- und wohlfahrtsstaatliche Leistungen und die Absicherung von Einkommen in kritischen Umbruchphasen. Dazu gehören die Erhöhung der Nettoersatzrate des Arbeitslosengelds auf 70 Prozent, Transformations-Kurzarbeit und staatliche Jobgarantien, ein verankertes Recht auf bezahlte Weiterbildung und die Bereitstellung entsprechender budgetärer Mittel.

Prognose- und Strategiefähigkeit des Staates und seiner Institutionen ausbauen

Damit der Staat die Transformation aktiv gestalten und Beteiligung überhaupt ermöglichen kann, muss er personelle Kapazitäten bereitstellen und die notwendigen Entscheidungsgrundlagen schaffen. Strategie und Maßnahmen müssen auf Basis evidenzbasierter Einschätzungen zu Produktionskapazitäten und technologischen Entwicklungen erfolgen. Ebenso erfordern sie eine Analyse strategischer Abhängigkeiten entlang zentraler Wertschöpfungsketten sowie des Potenzials zur Dekarbonisierung neu entstehender Wertschöpfung und Beschäftigung. Auf dieser Basis kann der Aus-, Qualifizierungs- und Weiterbildungsbedarf ermittelt werden und Transformationsberatungsstellen können eingerichtet werden. Ein weiteres wichtiges Instrument können (betriebliche) Transformationspfade bzw. Dekarbonisierungs-Roadmaps sein, die unter Einbindung der Beschäftigten erstellt werden.

Missionsorientierung in Forschung, Entwicklung und Innovation stärken

Um im Strukturwandel neue Möglichkeiten für Beschäftigung und Wertschöpfung zu schaffen, sind Forschung, Entwicklung und Innovation essenziell. Innovation ist dabei nicht nur technologisch gemeint, sondern schließt soziale Innovation, z. B. Verhaltensänderungen, mit ein. Auch hier muss der Staat als Stratege, Rahmensetzer und Förderer eine aktive Rolle einnehmen. Forschung und Entwicklung müssen strategisch auf die Lösung aktueller Herausforderungen ausgerichtet werden, um Innovation gezielt zu unterstützen und für die Bewältigung „großer gesellschaftlicher Missionen“ zu nutzen. Dazu braucht es klare Kriterien für die Effektivität und die Kosteneffizienz spezifischer Technologieanwendungen, etwa anhand deren Beitrages zur Zielerreichung, sowie bei der Vergabe von Fördermitteln, die etwa Standort- und Beschäftigungsgarantien beinhalten sollten. Darüber hinaus sollten (regionale) Transformations-Hubs zur Unterstützung und zum Aufbau von regionalen Innovationssystemen eingerichtet werden. Sie unterstützen das Netzwerk von Unternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen in einer Region und können dazu beitragen, Koordinationsprobleme zu lösen, die Unternehmen bisher davon abgehalten haben, im vorwettbewerblichen Bereich zu kooperieren. Der Staat als Stratege sollte die Entwicklung zukunftsfähiger industrieller Ökosysteme sowie Qualifizierungsverbünde auf regionaler und sektoraler Ebene im Umbau der Wirtschaft zielgerichtet fördern.

Beteiligung und Mitbestimmung ausbauen

Große Transformationen können nur gelingen, wenn es die Bereitschaft und die Selbstverpflichtung zur Gestaltung gibt. Deshalb sind echte Beteiligungsprozesse unter starker Einbindung der Beschäftigten und der Zivilgesellschaft besonders wichtig. Dazu ist es wichtig, Standards für breite Beteiligungsprozesse sowie ein Verständnis von Transformation als Gemeinschaftsaufgabe zu etablieren. Neu entstehende Absatzmärkte, z. B. im Bereich der Kreislaufwirtschaft, der Bioökonomie oder einer Wasserstoff- und Kohlenstoffwirtschaft, müssen auf Dauer angelegt sein und eine starke Komponente der Mitbestimmung aufweisen. Übergeordnetes Ziel muss es sein, Unternehmen langfristig in den neuen Wertschöpfungsketten zu positionieren und damit Beschäftigung und Wertschöpfung nachhaltig zu sichern.

Strategische Investitionen: in die Zukunft investieren

Der öffentliche Sektor hat in der Transformation eine besondere Verantwortung dafür, dass die Daseinsvorsorge krisenfest und nachhaltig ist. Neben den notwendigen Investitionen in den digitalen und grünen Umbau an sich braucht es bereits jetzt umfassende Investitionen in die Klimawandelanpassung, damit soziale Ungleichheit durch unterschiedliche Betroffenheit nicht weiter anwächst. Unternehmen, die staatliche Subventionen erhalten und durch strategische Investitions- und Innovationsförderung unterstützt werden, müssen Auflagen zur Standort- und Beschäftigungssicherung, zur Aus- und Weiterbildung ihrer Beschäftigten und zur betrieblichen Mitbestimmung erfüllen. Gewinne, die mit Unterstützung öffentlicher Investitionen erwirtschaftet werden, müssen gerecht aufgeteilt werden, etwa in Form öffentlicher Unternehmensbeteiligungen, durch Claw-back-Klauseln oder Beiträge zu staatlichen Transformations- und Innovationsfonds.

Die Rückkehr eines aktiven Staates?

Die aktuellen Krisen sind global und systemisch und verlangen nach neuen Lösungswegen. Mit Modellen und Denkmustern, die nicht für die Zeiten der Krise und eines fundamentalen Übergangs entwickelt wurden, stößt man, wie sich an allen Ecken und Enden im politischen Diskurs gerade zeigt, schnell an die Grenzen des Möglichen. Sollen sozialer Zusammenhalt, Fairness und Gerechtigkeit aber auch im Übergang gewährleistet bleiben, braucht es eine neue Form der Wirtschaftspolitik. Der wirtschaftspolitische Werkzeugkasten muss entsprechend der Situation angepasst werden, denn wenn man nur einen Hammer kennt, wird jedes Problem wie ein Nagel aussehen, obwohl es oft keiner ist. Oder anders ausgedrückt: Wenn sich die Situation ändert, wäre es klug, auch seine Lösungen an die veränderte Situation anzupassen! Oder was würden Sie tun?

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