Der Ukraine-Krieg wirkt wie ein Brandbeschleuniger für die soziale und ökologische Krise. Es wird immer klarer: Für die gigantischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, braucht es eine handlungsfähige öffentliche Hand. Aufgrund des grenzüberschreitenden Charakters der Probleme gilt das gerade für die EU. Die Debatte um ihre Zukunft gilt es zu nutzen: Nur mit einer eingreifenden und demokratischen Wirtschaftspolitik und -verfassung der Union gelingt der notwendige sozial-ökologische Umbau.
Krieg macht deutlich: Die Herausforderungen unserer Zeit brauchen eine neue Wirtschaftspolitik
Der Angriffskrieg Russlands hat den Anstieg der Energiepreise und damit die Teuerung verschärft. Die öffentliche Hand hat es bisher verabsäumt, den Sozialstaat armutsfest zu machen. Die Übergewinne der Energiekonzerne werden in vielen Ländern nicht abgeschöpft und gerade nicht an jene verteilt, die sich Strom- und Gasrechnungen nicht mehr leisten können. Daher spitzt sich die soziale Frage in ganz Europa zu.
Gleichzeitig hat der Krieg uns drastisch vor Augen geführt, wie die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern gleichzeitig eine Abhängigkeit von autoritären Regimen ist. Das macht das Versagen von Marktlogiken, die oft im Spiel über die europäische Bande durchgesetzt wurden, offenkundig: Aktienwerte waren jahrelang wichtiger als Energiesicherheit, die Einhaltung restriktiver EU-Fiskalregeln ein höheres Gut als der Ausbau von erneuerbaren Energien und die thermische Gebäudesanierung.
Da dieses Versagen kurzfristig nicht wettzumachen ist, erleben jetzt besonders klima- bzw. umweltschädliche Energien bzw. Technologien (Kohle, Flüssigerdgas und Fracking) inmitten einer sich schnell erhitzenden Erde eine neue Konjunktur.
Brennende Fragen: Klima, Verteilung und Demokratie
Der Krieg und die Teuerung wirken daher wie Brandbeschleuniger der umfassenden sozialen und ökologischen Herausforderungen, vor denen die Welt und die EU stehen: Im Mai veröffentlichten die Vereinten Nationen eine dramatische Warnung: Durch das Überschreiten planetarischer Grenzen entstehe „eine gefährliche Tendenz, dass die Welt auf ein globales Kollaps-Szenario zusteuert“.
Aber nicht nur die Klima- und Umweltkrise fordert entschiedenes Handeln: Die Deregulierung der Märkte, Privatisierungswellen, die Orientierung am Shareholder-Value sowie Steuerwettbewerb und -sümpfe in der EU ab den 1980er-Jahren haben die Ungleichheit stark steigen lassen. Mehr als die Hälfte des Vermögens liegt im Euroraum mittlerweile in den Händen der obersten 10 Prozent. In Österreich besitzt das oberste 1 Prozent gleich 40 Prozent aller Vermögen.
Damit geht eine Krise der Demokratie einher: Während im reichsten Drittel fast 80 Prozent meinen, dass das politische System gut funktioniert, sind es im ökonomisch schwächsten Drittel nur rund 40 Prozent. Dementsprechend nehmen Vermögende ihr Wahlrecht viel stärker wahr als Arbeiter:innen. Darüber hinaus nützen Reiche ihre Macht mittels Lobbying, politischer Einflussnahme und über die Konzentration der Medien in einigen wenigen Händen.
Weltklimarat fordert Verbindung von sozialer und ökologischer Frage
Dass die soziale, ökologische und demokratische Frage eng miteinander verbunden sind und nur gemeinsam gelöst werden können, steht dabei wissenschaftlich zunehmend außer Streit: So hat etwa der Weltklimarat in seinem sechsten Sachstandsbericht letztes Jahr festgehalten, dass die Ziele zur Abwendung der Klimakatastrophe nur erreicht werden können, wenn wir unsere Wirtschaftsweise von Wachstum auf Wohlergehen umorientieren. Dazu brauche es Verteilungsgerechtigkeit innerhalb der und zwischen den Staaten und eine effektive und kooperative öffentliche Hand.
Die bewusst neoliberal gestaltete Spielanordnung der Union steht zu diesen Anforderungen aber in Widerspruch. Dass diese Einsicht wächst, lässt sich an ersten Kurskorrekturen erkennen (flexible Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, europäische Säule sozialer Rechte und europäische Finanzierung für eine grüne und digitale Erneuerung im Wege von NextGenerationEU).
Doch selbst wenn sich ein gewisses Umdenken erkennen lässt, findet es in der bisherigen Architektur der EU strukturelle Hürden und Grenzen. Denn die Europäischen Verträge erschweren erheblich die entschlossene Verbindung der sozialen und ökologischen Frage und die zu ihrer Lösung notwendige eingreifende und offensive Wirtschaftspolitik.
Drei Beispiele, wie die EU-Architektur die Durchsetzung sozial-ökologischer Gerechtigkeit erschwert
- Zwar hat sich die Union mit dem Green Deal weitreichende Ziele gesteckt. Unklar bleibt aber, wie die dazu notwendigen Investitionen bewerkstelligt werden sollen. Um die Pariser Klimaziele einzuhalten, braucht es Schätzungen zufolge in der gesamten Union allein für erneuerbare Energien, die thermische und energetische Sanierung von Gebäuden u. a. zusätzliche jährliche Investitionen von rund 855 Milliarden Euro. Der öffentlichen Hand wird aber eine entsprechende nachhaltige Erneuerung und Erweiterung ihres Anlagevermögens durch die restriktiven Fiskalregeln auf der Ebene der EU erschwert. Auch die europäische Aufbringung entsprechender Mittel findet in den Europäischen Verträgen enge Grenzen.
- Die Absicherung und progressive Erneuerung des Sozialstaates in Europa ist Voraussetzung für das Gelingen des ökologischen Umbaus und der Demokratie. Doch die dazu notwendige Verteilungsgerechtigkeit ist nicht zuletzt durch das EU-Einstimmigkeitserfordernis in Steuerfragen blockiert. Jenen Staaten, deren Geschäftsmodell auf der laxen Besteuerung von Konzernen und der Verteidigung ihrer Finanzplätze sowie von Steuersümpfen aufgebaut ist, räumen die EU-Verträge damit Vetomacht ein. Dazu kommen Steuertricks und -betrug, durch welche den Mitgliedstaaten jährlich je nach Schätzung zwischen 300 und 1.000 Milliarden Euro entgehen.
- Die Marktfreiheiten der EU sind nicht zuletzt durch den EuGH Schritt für Schritt zu Super-Grundrechten für Unternehmen ausgebaut worden. Die liberalistische Verfassung des Binnenmarktes fördert Lohn- und Sozialdumping und verschärft den Druck zu Deregulierung und Liberalisierung von Leistungen der Daseinsvorsorge. Nicht zuletzt dadurch sind die Möglichkeiten der öffentlichen Hand eingeschränkt, um durch eingreifende Politik Krisen zu lösen bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen.
Die EU-Verträge: untergrabene Solidarität und gewollte Demokratiedefizite
All das hat entscheidend dazu beigetragen, die Solidarität zwischen den Menschen in Europa zu unterhöhlen, und Konkurrenz statt Kooperation zwischen den Staaten angefacht. Damit wird die Unterstützung für das untergraben, was es heute mehr denn je braucht, um die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern: grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Dabei ist diese Spielanordnung keine Fehlkonstruktion. Vielmehr zeigt eine Analyse der Europäischen Integration, dass sich neoliberale Wirtschaftspolitik und Glaubenssätze in Etappen tiefgehend in die Europäischen Verträge einschreiben konnten.
Das wiegt besonders schwer. Schließlich handelt es sich bei den Europäischen Verträgen um eine Stufe der Rechtsordnung, die nach dem EuGH sogar über allem nationalen Recht steht und daher oft auch als europäische Verfassung bezeichnet wird. Dazu kommt, dass die Europäischen Verträge viel schwerer als die nationalen Verfassungen der EU-Länder abzuändern sind und zumindest die Einstimmigkeit aller Staats- und Regierungschefs und die Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten vorsehen.
Die auf Ebene der Union erfolgte Einzementierung einer gewissen Wirtschaftspolitik in Verfassungsrang hat der Politikwissenschafter Stephen Gill daher treffend als neoliberalen bzw. neuen Konstitutionalismus beschrieben. Die Politik liefere sich so den Logiken des Marktes aus und mache sich gegenüber den Forderungen von Gewerkschaften sowie sozialen und ökologischen Bewegungen weniger empfänglich.
Dass es sich bei dieser Beschränkung der Demokratie um eine internationale Strategie handelt, beschrieb Michael Wohlgemuth, der Geschäftsführer des neoliberalen Walter Eucken Instituts, anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft:
„Nicht trotz, sondern gerade wegen eines letztlich gewollten ,Demokratiedefizitsʻ konnte die Europäische Kommission eine Marktöffnungspolitik und die Europäische Zentralbank eine [entsprechende] Geldpolitik betreiben […]. Die Durchsetzung allgemeiner Spielregeln einer liberalen Wettbewerbsordnung scheint […] am ehesten dort verlässliche Hüter zu finden, wo Pflichten Organen anvertraut sind, die weniger Zielabwägungen zu treffen oder weniger Rücksichten auf Wiederwahlrestriktionen zu nehmen haben als politische Parteien.“
Für ein Europa, das die öffentliche Hand in die Lage versetzt, die Vielfachkrise zu meistern
Um es auf den Punkt zu bringen: Die gegenwärtige „Europäische Verfassung“ lässt der öffentlichen Hand wenig Spielraum für eine offensive und eingreifende Wirtschaftspolitik. Das genaue Gegenteil von dem, was der Weltklimarat von der Politik fordert, um die Klimakatastrophe abzuwehren.
Spätestens die Verschärfung der sozialen und ökologischen Frage durch Corona-Pandemie und Kriegsfolgen macht deutlich: Mehr denn je braucht es jetzt eine öffentliche Hand, die demokratisch legitimiert rasch Entscheidungen treffen kann und die Ressourcen hat, diese wirkmächtig und zügig umzusetzen. Es braucht eine eingreifende und langfristig orientierte Wirtschaftspolitik, die Teuerung zurückdrängt, den Wohlfahrtsstaat armutsfest macht und den sozialen und ökologischen Umbau ineinander verschränkt angeht.
Die durch Klimaerhitzung stark ansteigenden Extremwettereignisse (Hitzewellen und Dürren, Starkregen und Stürme) – wir erinnern uns an die Brände und Fluten im letzten Sommer – zeigen uns schon heute, dass umfassende Wohlstandsverluste drohen, wenn jetzt nicht entschlossen gehandelt wird.
Eckpunkte für ein soziales, ökologisches und demokratisches Europa
Auf europäischer Ebene braucht es dazu eine Überwindung der für die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit dysfunktional gewordenen neoliberalen Verfasstheit der Union. Dazu gehören unter anderem folgende Maßnahmen:
- Der soziale und ökologische Umbau darf nicht länger von den zu restriktiven Fiskalregeln gebremst werden. Auf europäischer Ebene sind auch mittel- bis langfristig mehr Mittel aufzubringen und zur Verfügung zu stellen, die zu einer effektiven wirtschaftspolitischen Steuerung beitragen.
- Zur Finanzierung des Sozialstaates braucht es nicht zuletzt Mindeststeuern auf Konzerngewinne, eine Finanztransaktionssteuer und die europäische Bekämpfung des (organisierten) Steuerbetruges. Dafür muss vom Einstimmigkeitserfordernis im Steuerbereich abgegangen werden.
- Die Wirtschaftspolitik der Union muss demokratisiert werden und Wohlstand und Wohlergehen in den Mittelpunkt rücken. Einseitige wirtschaftspolitische Festlegungen in den Verträgen (u. a. Art. 119, 126, 123 und 125 AEUV) müssen gestrichen werden, damit das Ringen um die beste Lösung im Mittelpunkt steht. Das Europäische Parlament (EP), Sozialpartner und Zivilgesellschaft müssen in der gesamten Wirtschaftspolitik mitentscheiden können.
- Um Finanzspekulationen gegen Mitgliedsstaaten und Instabilität erst gar nicht aufkommen zu lassen, braucht es eine EZB als vollwertigen „lender of last resort“.
- Die Marktfreiheiten müssen von Super-Grundrechten der Unternehmen zu Gleichbehandlungsgeboten rückgebaut werden, so wie das der Europäische Pakt für den sozialen Fortschritt vorsieht. Damit wird ihnen auch ihre deregulierende Kraft auf soziale und öffentliche Systeme genommen. Im gesamten Bereich der Daseinsvorsorge geht es darum, die positive Rolle des öffentlichen Eigentums, der In-House- und der Direktvergabe zu stärken.
- Der sozial-ökologische Umbau der Industrie braucht eine aktive und missionsorientierte Industriepolitik der öffentlichen Hand, welche auf erneuerbare Energien und Produkte der Zukunft setzt und eine „Just Transition“ ermöglicht.
- Im Verkehrsbereich zeigt sich besonders, wie wichtig die Verknüpfung der sozialen und der ökologischen Frage sind: Gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und die Abschaffung von Steuerprivilegien (z. B. im Flugverkehr) wären ein zentraler Schritt für eine nachhaltigere Mobilität. Darüber hinaus braucht es den entschlossenen und grenzüberschreitenden Ausbau des nachhaltigen Verkehrs.
- Neben dem Mitentscheidungsrecht in allen Politikbereichen braucht das Europäische Parlament (EP) endlich ein Initiativrecht. Auf Basis von europäischen Wahlen mit entsprechenden Listen sollte die Kommission vom EP mit einfacher Mehrheit bestellt und abberufen werden können. In der Reform der Verträge muss schließlich sichergestellt werden, dass einzelne Mitgliedsstaaten nicht länger breite europäische Mehrheiten blockieren können.
Die Debatte über die Zukunft Europas
Es ist erfreulich, dass viele dieser Forderungen nach einem umfassenden Umbau Europas auch im Abschlussbericht der Konferenz für die Zukunft Europas enthalten sind. Über ein Jahr lang hatten nach dem Zufallsprinzip ausgewählte EU-Bürger:innen im Rahmen der Konferenz die Möglichkeit, ihre Meinung über eine künftige Politik und Gestalt der Union einzubringen.
Die Empfehlungen der Konferenz zeigen einmal mehr, dass es für ein entschiedenes Angehen der sozialen und ökologischen Herausforderungen breite europäische Mehrheiten gibt. Dass die Konferenz dazu auch eine Reform der Verträge einfordert, steht für das Bewusstsein, dass sich diese Aufgabe nicht mit veralteten und zunehmend dysfunktionalen Verträgen bewerkstelligen lässt.
Umso wichtiger ist es, dass die Forderungen nach einer umfassenden Reform der Union nicht durch die Staats- und Regierungschefs bzw. im politischen Prozess verwässert werden. Leider spricht vieles dafür, dass das geschehen wird. Nach der Konferenz meinten Rat und Kommission etwa, dass sie die Vorschläge nun auf ihre „Machbarkeit“ prüfen werden. Und eine Gruppe von Ländern sprach sich gleich gegen jegliche Änderungen der Verträge aus. Dem stehen einige durchsetzungsstarke Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Italien und Frankreich entgegen, die sich zu Vertragsänderungen bekennen. Obwohl sich im Regierungsübereinkommen ein Bekenntnis zum „Einsatz für einen neuen Vertrag für Europa“ findet, hält sich Österreich in dieser Frage bisher bedeckt.
Eine neue demokratische Wirtschaftspolitik, die den sozialen und ökologischen Umbau fördert und nicht behindert, braucht daher eine möglichst breite öffentliche Debatte. Die sich vor uns auftürmenden Herausforderungen und ungelösten Probleme bieten zumindest eine Chance dazu. Durchsetzen wird sie sich jedenfalls nur dann lassen, wenn dabei auch die veralteten Europäischen Verträge grenzüberschreitend herausgefordert und grundlegend geändert werden.