Neue Ansätze in der EU-Wirtschaftspolitik – wohin geht der Weg?

29. März 2022

„Das Europäische Semester in Bewegung“. So lautet die Überschrift des dritten Kapitels im „Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2022“ der EU-Kommission. Tatsächlich wird das Europäische Semester weiter an politischem Gewicht gewinnen, spielt es doch eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität und ist Dreh- und Angelpunkt der europäischen Wirtschaftspolitik. Auch im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) wurde zum Jahresbericht eine Stellungnahme verfasst.

Vom Widerspruch zur Synergie?

Im Europäischen Semester wird die Wirtschafts-, Fiskal-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der EU-Mitgliedsstaaten koordiniert. Aktuell ist das Semester in Bewegung und gewinnt im Rahmen der Umsetzung des EU-Hilfsprogramms zur Bewältigung der Corona-Krise, konkret der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne, an Bedeutung. Auch im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) wurde dazu eine Stellungnahme verfasst. Naturgemäß wurden dabei von den drei dort vertretenen Gruppen, also der Gruppe der Arbeitnehmer/-innen, der Arbeitgeber/-innen und der Vielfalt, unterschiedliche Ansätze vertreten und Schwerpunkte gesetzt. Es gelang jedoch, gemeinsame Sichtweisen und Kompromisse herauszuarbeiten. Aber der Reihe nach …

Den Auftakt des Semesters bildet das Herbstpaket, in dessen Rahmen der Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum publiziert wird. In diesem stellt die EU-Kommission ihre politischen Leitprinzipien für das kommende Jahr dar. Wie in den Jahren zuvor beziehen sich diese auf die vier Komponenten ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und gesamtwirtschaftliche Stabilität. Die EU-Kommission betont die Gleichrangigkeit dieser Komponenten und sieht es als zentrale Herausforderung, dass sie sich gegenseitig verstärken. Dies ist zwar ein begrüßenswertes Ziel, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Maßnahmen auch widersprüchlich wirken können, zum Beispiel wenn mittels Druck auf Arbeitnehmer/-innen kurzfristig die Produktivität erhöht werden soll. Der EWSA zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass solche Widersprüche umso wahrscheinlicher sind, je schwächer Parlamente und Sozialpartner in die Politikgestaltung einbezogen werden.

Ökologische Nachhaltigkeit

Im Rahmen des europäischen Green Deal wird auf nachhaltiges Wachstum gesetzt, sodass Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung so weit wie möglich voneinander entkoppelt werden sollen. Dabei baut man vor allem auf Investitionen. Um die Klimaziele zu erreichen, wird laut Schätzungen die immense Summe von etwa 520 Milliarden Euro notwendig sein. Die EU-Kommission möchte dabei vor allem auch private Investitionen vorantreiben, indem sie den Mitgliedstaaten zum Beispiel empfiehlt, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. In der Stellungnahme des EWSA wird angemerkt, dass die Erhöhung privater, aber auch öffentlicher Investitionen notwendig sein wird. Neben der vielfach wiederholten Forderung nach der goldenen Regel für öffentliche Zukunftsinvestitionen, die diese aus den Defizitbeschränkungen ausnimmt, müssen zum Beispiel öffentliche Beihilfen an die Schaffung guter Arbeitsplätze und die Einhaltung von Arbeitnehmer/-innenrechten, Umweltnormen und steuerlichen Verpflichtungen geknüpft werden.

Die EU-Kommission betont, dass die soziale Dimension in den Mittelpunkt der Agenda zur ökologischen Nachhaltigkeit gestellt werden muss. Das darf keineswegs nur ein Lippenbekenntnis bleiben, so der EWSA. Auch hierbei ist die Einbindung der Sozialpartner entscheidend, und es braucht genauere Schätzungen über die konkreten Auswirkungen auf die Beschäftigung. Ziel muss sein, starke industrielle Wertschöpfung in Europa zu halten, gute Arbeit zu schaffen und die führende Rolle der europäischen Industrie auf dem Weg zur Nachhaltigkeit sicherzustellen.

Produktivität

Im Jahresbericht wird auch festgehalten, dass die EU ihren Wohlstand mithilfe von Produktivitätssteigerungen und Innovationskraft sichern soll. Die Ansatzpunkte hierzu reichen von Digitalisierung, Forschung und Innovation über Fortbildung und Umschulung bis hin zur Stärkung der Industriebasis und robusten Wertschöpfungsketten. Dabei seien ein verantwortungsvoller Ressourcenzugang und Ressourceneffizienz sowohl für die Umwelt als auch die Wirtschaftsentwicklung förderlich. Überdies soll ein fairer Wettbewerb in einem gut funktionierenden Binnenmarkt sichergestellt werden. Damit gehen Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Justizsysteme und wirksame Strukturen zur Bekämpfung von Korruption, Geldwäsche und Betrug einher, führt die EU-Kommission zu Recht an.

In der EWSA-Stellungnahme wird darüber hinaus darauf hingewiesen, dass zwischen den wirtschaftlichen Freiheiten und den Sozial- und Arbeitsrechten ein Ungleichgewicht besteht, da Letztere nicht Teil der verfassungsrechtlich geschützten wirtschaftlichen Freiheiten sind, und man fordert Vorschläge, um dieses Ungleichgewicht zu beheben.

Fairness

Zur Abfederung der sozialen Folgen der Pandemie soll besonders den stark betroffenen Bevölkerungsgruppen geholfen werden, erkennt die EU-Kommission. Fairness solle daher im Zentrum der wirtschaftlichen Erholung stehen. Gleiches gilt für den ökologischen und digitalen Wandel, der durch aktive Arbeitsmarktpolitik und gestärkte Sozialschutzsysteme zu begleiten sei.

Nichtsdestotrotz, das Problem der massiven Ungleichheit, die auch unabhängig von Pandemie und Transformation grassiert, wird im Jahresbericht kaum erfasst. Dabei ist Ungleichheit nicht nur ein Problem für sich, sondern hemmt auch die wirtschaftliche Entwicklung und erhöht soziale Spannungen. Die Idee, den zweifachen Übergang, nämlich grün und digital, um einen sozialen zu ergänzen und zu einem dreifachen auszubauen, lehnte die Unternehmensseite vehement ab. Man einigte sich aber darauf, dass der zweifache Übergang nachhaltige soziale Bedingungen voraussetzt.

Zur Förderung sozialer Inklusion und von Wirtschaftswachstum setzt die EU-Kommission zu Recht auch auf Bildung. Die Mitgliedsstaaten sollen ihre Anstrengungen verstärken, um die Lernergebnisse zu verbessern und lebenslanges Lernen zu fördern. In der EWSA-Stellungnahme wird dabei auch auf ein Recht auf lebensbegleitendes Lernen hingewiesen, das mit öffentlichen Mitteln zu unterstützen sei.

Weiters betont die EU-Kommission den Wert starker Sozialschutzsysteme. Der EWSA zeigte pandemiebedingte Lücken beim Zugang zu Sozialschutz auf, die es zu schließen gilt. Zudem drängt er auf die Überwachung von Verteilungseffekten im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne, um deren Beitrag zur Aufwärtskonvergenz sicherzustellen.

Makroökonomische Stabilität

Die EU-Kommission betont die Bedeutung einer fortgesetzten engen Koordination zwischen Wirtschafts-, Fiskal-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Einerseits wird die Erhöhung öffentlicher Investitionen nahegelegt, andererseits werden die Mitgliedsstaaten zu nachhaltiger Haushaltspolitik gemahnt. Der EWSA betont, dass angesichts der hohen Unsicherheit weiterhin hohe fiskalpolitische Flexibilität gewährleistet sein muss, weshalb die Fortsetzung der Ausweichklausel aus den Defizit- und Schuldenregeln zumindest für 2022 begrüßt wird. Und im Rahmen der Überwachung wirtschaftspolitischer Ungleichgewichte sollen endlich auch soziale und beschäftigungspolitische Ungleichgewichte berücksichtigt werden.

Als weiteres Ziel nennt die EU-Kommission eine faire und effiziente Besteuerung und verweist auf ihre Arbeit an der Umsetzung des OECD/G20-Abkommens zur Reform der globalen Besteuerung, wonach ab 2023 jedes multinationale Unternehmen einen effektiven Steuersatz von mindestens 15 Prozent zahlen soll. Insgesamt begrüßt der EWSA, dass auch die Einnahmenseite im Jahresbericht ausgiebig berücksichtigt wird. Auch die Vollendung der Kapitalmarkt– und Bankenunion möchte die EU-Kommission vorantreiben. Bei weiteren Schritten in diese Richtung muss jedoch auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Risikoteilung und -reduktion geachtet werden, und überdies ist eine stärkere Überwachung systemischer Risiken unter anderem aufgrund von Klimarisiken nötig, so der EWSA.

Das Europäische Semester in Bewegung

Die EU-Kommission kündigt an, im Frühjahr gestraffte Länderberichte zu veröffentlichen, in denen auch gleich Bilanz über die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne gezogen wird. Der Fokus liegt auf dem neuen Scoreboard, mit dem die Umsetzung der Pläne detailliert dargestellt wird. Neben einer Übersicht zu wirtschafts- und sozialpolitischen Entwicklungen soll der Fortschritt bei der Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte bewertet werden. Größtenteils auf Basis der Länderberichte wird die EU-Kommission länderspezifische Empfehlungen formulieren. Vor dem Hintergrund, dass vergangene Empfehlungen stark auf Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltskonsolidierung fokussierten, mahnt der EWSA hierbei einen ausgewogenen Ansatz ein, sodass etwa auch soziale Ziele gebührend berücksichtigt werden.

Den Mittelpunkt des Europäischen Semesters soll ein konstruktiver Dialog mit den Mitgliedsstaaten bilden, ergänzt um den Austausch zu den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen. Die EU-Kommission erkennt an, dass die wirksame Einbeziehung der Sozialpartner in allen Phasen des Semesters unerlässlich ist, um die Wirtschaftspolitik erfolgreich zu koordinieren und umzusetzen. Gleichzeitig betont sie die wichtige Rolle der Sozialpartner während der Pandemie und bei der Erstellung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne. Künftig sollen die Mitgliedsstaaten im Rahmen regelmäßiger Treffen aktiv mit den Sozialpartnern zusammenarbeiten. Der EWSA sieht die Einbindung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft bei den Aufbau- und Resilienzplänen als zwingend an und fordert dafür Mindeststandards.

Darüber hinaus spricht sich die EU-Kommission für eine stärkere demokratische Rechenschaftspflicht der wirtschaftspolitischen Steuerung aus. Dies entspricht der Forderung des EWSA. Konkrete Schritte werden genau zu prüfen sein.

Schlussfolgerung

Über die inhaltliche Ausrichtung und Gestaltung des Europäischen Semester muss diskutiert werden, wobei die nationalen, parteipolitischen, sozialpartnerschaftlichen Forderungen und jene weiterer zivilgesellschaftlicher Gruppen aufeinanderprallen. Für ein ausgewogenes Ergebnis müssen sich die Interessen der Beschäftigtenseite in Zukunft deutlich im EU-Semester und insbesondere in den länderspezifischen Empfehlungen widerspiegeln.

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