Kapitalmarktunion – die eierlegende Wollmilchsau?

25. März 2021

Mit dem aktuellen Aktionsplan zur Kapitalmarktunion möchte die Europäische Kommission wirtschaftliche Erholung und ein grüneres und inklusiveres Wachstum erreichen, die Digitalisierung vorantreiben sowie die strategische Autonomie der EU hinsichtlich wichtiger Wertschöpfungsketten stärken. Wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein, lohnt meist ein prüfender Blick! Dieser lässt die Kommissionspläne mehr wie eine Hülle erscheinen, unter der mancherlei Agenden gebündelt werden, die mit den hehren Zielen jedoch oft nur einen losen Zusammenhang aufweisen.

Die Idee der Kapitalmarktunion

Mit der Kapitalmarktunion sollen die EU-Kapitalmärkte weiterentwickelt werden. Die Europäische Kommission begründet dies mit der Idee, dass große integrierte Kapitalmärkte Unternehmen – gerade auch kleinen und mittleren (KMU) – einen besseren Zugang zu Finanzierungs- und Kapitalquellen gewährleisten. Zudem solle das Vertrauen der europäischen Sparer*innen gestärkt werden. Nun ließe der Begriff „Kapitalmarktunion“ vermuten, dass sie ähnlich wie die Bankenunion aus relativ klar definierten Säulen besteht, mit einem einheitlichen Aufsichtsmechanismus und einem einheitlichen Regelwerk im Zentrum. Tatsächlich stellt sich aber die Kapitalmarktunion eher als eine Hülle dar, innerhalb derer und in deren Umfeld sehr unterschiedliche Ziele und Maßnahmen verfolgt werden.

Initiiert wurde die Kapitalmarktunion in der Kommissionspräsidentschaft von Jean-Claude Juncker. Im Frühjahr 2015 wurde ein Grünbuch und im darauffolgenden Herbst ein Aktionsplan zur Kapitalmarktunion (CMU) vorgelegt; 2017 gab es einen Zwischenbericht. Vor dem Hintergrund von Brexit, Digitalisierung, der COVID-Krise und nicht zuletzt als Teil des neuen Arbeitsprogramms legte die Kommission im Jahr 2020 einen neuen Aktionsplan zur CMU vor. Dieser durchläuft nun die europäischen Gremien und dient als wichtiger Rahmen für viele Initiativen im Binnenmarktbereich.

Schritte zur Kapitalmarktunion

Das Thema der Kapitalmobilität an sich ist keine neue Erfindung, sondern stellt eine der Grundfreiheiten der Europäischen Union dar. Initiativen zur Erhöhung der Kapitalmobilität gab es seit Beginn der europäischen Integration. Entscheidende bisherige Schritte waren auf der Makroebene zunächst die Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen (1988) und die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion (1999), die zunächst (1999) zur Übernahme des Euro durch zwölf Mitgliedsstaaten bis zuletzt (2015) 19 Mitgliedsstaaten geführt hat. Mit ihr wurden nicht nur Wechselkursrisiken beseitigt, die Mitgliedsstaaten unterwarfen sich auch einer einheitlichen Geldpolitik und einer haushaltspolitischen Überwachung mit Defizit- und Schuldenregeln, die die Erreichung genau jener hehren Ziele erschwert, die sich in den Präambeln der jeweiligen Dokumente zur Kapitalmarktunion finden.

Auf Mikroebene gab es durch das (demokratiepolitisch bedenkliche) Lamfalussy-Verfahren (ab 2001) eine immer stärkere Harmonisierung der Regulierung im Wertpapiersektor. Nach diesem Verfahren sollen Rat und Parlament in dem ihnen übertragenen Bereich im Wege des Mitentscheidungsverfahrens nur noch Grundsatzverordnungen und Rahmenrichtlinien verabschieden. Technische Details werden dagegen von Regelungsausschüssen ausgearbeitet. Das Lamfalussy-Verfahren wurde ab 2005 auch auf den Banken- und Versicherungsbereich ausgedehnt.

Nichtsdestotrotz sind Kapitalmärkte – nicht zuletzt aufgrund hoher Informationskosten vor allem bei KMU – nach wie vor stark national geprägt, wobei bei einer grundsätzlich voranschreitenden Integration Ereignisse wie die Finanz- und Wirtschaftskrise auch desintegrative Impulse auslösen können.

Bank- oder kapitalmarktorientierte Finanzierung?

Es stellt sich allerdings vor allem die Frage, inwieweit die Frage der Finanzierung (bank- oder kapitalmarktorientiert) einen entscheidenden Faktor für Wachstum und Beschäftigung darstellt? In der älteren ökonomischen Literatur finden sich von Robinson („when enterprise leads, finance will follow“) bis Lucas (theoretisch nicht gerechtfertigt und politökonomisch „strongly overemphasized“) kaum Anhaltspunkte dafür, dass kapitalmarktorientierte Volkswirtschaften besser performen würden als bankendominierte. In der jüngeren Literatur ist das Thema jedenfalls umstritten, wobei es kaum belastbare signifikante Ergebnisse hinsichtlich der Frage der Relevanz für das Wachstum gibt und gleichzeitig kapitalmarktorientierte Volkswirtschaften meist eine höhere Schwankungsanfälligkeit aufweisen. Wenn sich in der Literatur greifbare Ansatzpunkte finden, so sind diese am ehesten bei den Themen Informationseffizienz sowie – damit im Zusammenhang – einer Harmonisierung des Insolvenzrechts zu finden.

Die Ziele der Kapitalmarktunion sind „situationselastisch“ …

Die Ziele der Kapitalmarktunion wurden häufig der jeweiligen politischen Situation angepasst. So wurde im Grünbuch (2015) der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die Investitionszurückhaltung der europäischen Wirtschaft durch die Kapitalmarktunion gelöst werden könne. Beim damaligen Vergleich der EU mit den USA wurde jedoch der hinsichtlich Geld- und Fiskalpolitik anders verfasste makroökonomische Rahmen der USA und dessen Auswirkungen auf die für Investitionen so wichtigen Erwartungen (bzw. Unsicherheiten) nicht berücksichtigt.

Beim Aktionsplan von 2017 war eines der Ziele die Überwindung der regionalen Disparitäten, die sich nicht zuletzt durch die unterschiedlichen Erholungspfade nach der Krise 2008 zum Teil verschärft hatten. Dabei wurde nicht im Geringsten darauf eingegangen, dass die den Ländern mehr oder minder stark anempfohlenen Konsolidierungs- und Reformpfade zur Divergenz beigetragen hatten. Dass regionale Schocks über ein nicht sehr stringent argumentiertes „Risk Sharing“ über die Kapitalmärkte abgefedert werden, wo Ausgleichsmechanismen wie in den USA fehlen, erscheint dann fast zynisch.

Der jetzige Aktionsplan steht mit den Zielen einer „wirtschaftlichen Erholung“ durch grüneres und inklusiveres Wachstum, der Digitalisierung sowie der strategischen Autonomie der EU hinsichtlich wichtiger Wertschöpfungsketten gewissermaßen in dieser Tradition, die Kapitalmärkte zu einer Art Deus ex Machina machen zu wollen. Hingegen steht das Ziel der Finanzmarktstabilität deutlich weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das ist nach den Erfahrungen aus der Finanzmarktkrise 2008, in der nur durch massive Interventionen durch Zentralbanken und umfangreiche Banken- und Konjunkturpakete verhindert werden konnte, dass es zu einer zweiten Weltwirtschaftskrise kam, erstaunlich.

… und stehen in relativ losem Zusammenhang mit den Maßnahmen

Die insgesamt 16 Maßnahmen, die die Europäische Kommission in ihrem jetzigen Aktionsplan vorschlägt und von denen hier einige exemplarisch diskutiert werden, können in drei beabsichtigte Wirkungskreise/Säulen zusammengefasst werden:

  • Finanzierung für kleine und mittlere Unternehmen (KMU)
  • Vertrieb von Kapitalmarktprodukten
  • Binnenmarkt

Die Säule der KMU-Finanzierung in ihrer Bedeutung für ein grünes, innovatives, inklusives und digitales Wachstum basiert auf Annahmen, die einerseits zumindest gewagt sind und andererseits an den tatsächlichen Problemen vorbeigehen.

Einerseits erscheint es durchaus sinnvoll, die Finanzierungsbasis der KMU in Europa auf eine breitere Basis zu stellen. Je breiter die Palette an Finanzierungsmöglichkeiten, desto besser wird ein Match zu den Investitionsvorhaben zu finden sein, und je höher das Risiko und je weiter die Erträge in der Zukunft liegen, desto mehr wird auch risikotragendes Kapital angemessen sein. Gleichzeitig steigt aber auch der Informationsbedarf für potenzielle Anleger*innen. Genau hier stehen beispielsweise die Maßnahme 1 „Plattform für Anleger*innen für einen nahtlosen Zugang zu finanz- und nachhaltigkeitsbezogenen Unternehmensinformationen“ und Maßnahme 2 „Vereinfachung der Notierungsvorschriften für öffentliche Märkte“ im Widerspruch, wenn mit Letzterer der Zugang zu Information für die andere Marktseite erschwert wird, obwohl Transparenzvorschriften vergleichsweise geringere Kosten verursachen als Roadshows, Werbemaßnahmen und Berater*innenhonorare.

Rezepte für eine neue Kultur der strukturierten Verantwortungslosigkeit?

Laut dem Aktionsplan soll der Verbriefungsmarkt – also der Markt, an dem Kredite gebündelt, neu verpackt und wiederverkauft werden – wiederbelebt werden. Damit würden wir aber dorthin zurückkehren, wo wir vor der Finanz- und Wirtschaftskrise waren. Als Ziel dieser Maßnahme (6) wird ins Treffen geführt, dass damit Banken wieder leichter Kredite vergeben könnten, weil sie so ihre Bilanzen säubern könnten. Dabei werden drei erhebliche Bedenken ignoriert:

  • Erstens das Grunddilemma, dass Risikoprüfung und Risikotragung bei dieser Form der Kreditvergabe auseinanderfallen. Damit wird das Problem der Informationsasymmetrie verschärft, es führt zu ineffizienten und instabilen Märkten und trägt zu einer Kultur der organisierten Verantwortungslosigkeit bei.
  • Zweitens ist das größere Problem der KMU nicht der Zugang zu Finanzierungsmitteln bzw. Krediten, sondern das Finden von Kund*innen (in anderen Worten: die gesamtwirtschaftliche Nachfrage). Dies zeigt sich stabil über viele regelmäßige Erhebungen der EZB hinweg. Lediglich in einer relativ kurzen Zeit nach der Finanz- und Wirtschaftskrise wurde der Zugang zu externen Finanzierungsmitteln als Problem angegeben.
  • Drittens fördert man das Wachstum des Schattenbankensystems, also eines weniger regulierten und intransparenteren Teils des Finanzsystems, was wiederum die Umgehung von Regulierungen (Regulierungsarbitrage) erleichtert.

Verschiebung von Verantwortung und Risiko

Anscheinend sollen Verantwortung und Risiko auf die Verbraucher*innen und Anleger*innen abgeschoben werden: Als Wundermittel soll „Financial Literacy“ Finanzmärkte stabiler, effizienter, grüner und gerechter werden lassen (Maßnahmen 7 und 8). Nun ist gegen ein Mehr an Bildung nie etwas einzuwenden. Wünschenswerter wäre allerdings ökonomische Allgemeinbildung in dem Sinne, dass auch breitere Zusammenhänge gesehen und nachvollzogen werden können. „Financial Literacy“ kann weder einen soliden Konsument*innen- und Anleger*innenschutz noch eine effiziente und effektive Finanzmarktregulierung insgesamt ersetzen oder das Problem der asymmetrischen Information lösen. Das Problem beim Fall von Lehman Brothers, der schwere Schockwellen durch das Finanzsystem ausgelöst hat, war wohl nicht der Mangel an „Financial Literacy“, sondern mangelnde Regulierung und ein Ausnutzen von Gestaltungsmöglichkeiten in der Risikovorsorge und bei der Bilanzlegung. Dass das Bankensystem heute stabiler und resilienter ist, hat vor allem mit einer effektiveren Regulierung zu tun. Diese muss auch in einer vertieften Banken- und Kapitalmarktunion aufrechterhalten werden.

Mit Maßnahme 9 sollen im Rahmen der Säule „Vertrieb“ schließlich Mitgliedsstaaten bei der Erreichung adäquater Pensionen unterstützt werden. Hier wird offensichtlich davon ausgegangen, dass kapitalgedeckte Systeme „adäquater“ seien als umlagefinanzierte. Was angesichts dessen, dass das demografische Risiko nicht auf Kapitalmärkten verschwinden wird, Erfahrungen mit kapitalgedeckten Systemen bestenfalls gemischt sind und marktbezogene Systeme demografische und biografische Risiken individualisieren, mehr als problematisch ist.

Sondergerichtsbarkeit für Investor*innen?

Maßnahme 15 erläutert: „Ein kohärenterer Investitionsschutz gegenüber Maßnahmen einzelner Staaten fördert den freien Fluss von Investitionen.“ Nachdem der EuGH im sogenannten Achmea-Urteil bilaterale Investitionsschutzabkommen innerhalb der EU für EU-rechtswidrig erklärt hatte, möchte die Kommission nun offensichtlich einen speziellen Investitionsschutz auf Unionsebene wieder einführen. Dabei bieten die bestehenden Vorschriften des Unionsrechts schon jetzt einen umfassenden Schutz für grenzüberschreitende Investitionen innerhalb des Binnenmarktes. Mit der Einführung eines über die derzeitigen rechtlichen Bestimmungen hinausgehenden Investitionsschutzes werden nationale Regulierungsmaßnahmen zur Förderung einer nachhaltigeren, inklusiveren Wirtschaft, wie es das Ziel des Green New Deals und des Aktionsplans zur CMU vorsieht, massiv erschwert oder verhindert. Eine unter Umständen eingeschränkte Erwerbsmöglichkeit, die etwa dem Umweltschutz entgegensteht, könnte so z. B. über die Investitionsschutzschiedsgerichte eingeklagt werden.

Eigentlich tragende Säulen einer Kapitalmarktunion bleiben vage

In der Säule des Binnenmarktes gibt es zwar sechs geplante Maßnahmen, die unter anderem in Richtung eines gemeinsamen und standardisierten EU-weiten Systems für Quellensteuererleichterungen oder ein Mindestmaß an Harmonisierung des Insolvenzrechts für Nichtbanken führen sollen. Im Vergleich zum Stand der anderen, oben erwähnten Vorschläge sind jene Maßnahmen, die man eigentlich als Kern einer Kapitalmarktunion vermuten würde, jedoch erstaunlich vage. So bekennt sich die Kommission lediglich zur Absicht, an der Entwicklung eines besseren einheitlichen Regelwerks für die Kapitalmärkte zu arbeiten und eine stärkere aufsichtliche Koordinierung oder eine unmittelbare Aufsicht durch die europäischen Aufsichtsbehörden vorzuschlagen.

Einige Maßnahmen, die lediglich unter die Hülle der Kapitalmarktunion fallen und z. B. die Wiederverbriefung wiederbeleben oder den Vertrieb von alternativen Investmentfonds (Private-Equity- und Hedgefonds) erleichtern sollen, sind schon sehr konkret oder bereits verabschiedet. Dagegen bleibt das, was eigentlich die tragende Säule einer Kapitalmarktunion sein sollte, nämlich eine Vereinheitlichung des Regelwerks für und die Aufsicht über die Kapitalmärkte im Vagen und im Bereich von Absichten. Ganz im Gegensatz zur Bankenunion, die mit einer einheitlichen Aufsicht, einem vereinheitlichten Regelwerk und einer Regulierung bei aller berechtigten Kritik das Bankensystem wesentlich resilienter als vor der Finanz- und Wirtschaftskrise gemacht hat, wird bei der Kapitalmarktunion das Pferd von hinten aufgezäumt.

Fazit

Wenn man eine grünere, inklusivere Wirtschaft will, bedarf es beherzterer und anders gelagerter Reformen, als sich das von den Kapitalmärkten zu wünschen. Vor allem werden die in den jeweiligen Schritten situationselastisch angepassten Ziele der Kapitalmarktunion nicht dadurch erreicht, dass man sie über Maßnahmenvorschläge schreibt, zu denen sie einen äußerst losen Zusammenhang haben.

Makroökonomische Ungleichgewichte und Versäumnisse wurden historisch ebenso selten von Kapitalmärkten gelöst wie Herausforderungen einer industriepolitischen Strategie. Kapitalmärkte sind effizient darin, Investitionsbedarfe und Ersparnisse zur Deckung zu bringen, wenn sie informationseffizient sind und dort effektiv reguliert sind, wo sie zu Instabilität und systemischen Risiken neigen. Darauf sollte eine Kapitalmarktunion fokussieren und nicht auf versäumte wirtschaftspolitische Ziele, die Kapitalmärkte nicht erfüllen können. Es hat sich auch gezeigt, dass ein instabiler Finanzsektor gravierende negative Folgen für Arbeitnehmer*innen, Konsument*innen, Unternehmen und den Staat selbst hat. Diese Erkenntnis muss bei der Vertiefung der Kapitalmarktunion deutlich stärker in den Fokus rücken. Das bedeutet, dass regulatorische Arbitrage verhindert und Lücken zur Umgehung von Regulierungen geschlossen werden müssen.

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