Österreich ist (noch) nicht Ungarn und man kann auch nicht von großen demokratiegefährdenden Brüchen sprechen. Aber auch eine schleichende Entdemokratisierung kann letztlich im Autoritarismus enden, wenn ihr nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird. Sie ist auch deshalb gefährlich, weil sie schwerer wahrzunehmen ist, warnen besorgte WissenschafterInnen unterschiedlicher Disziplinen. Dazu gehören die Einschränkung von Kontrolle und Partizipation im Gesetzgebungsprozess, Angriffe auf die Zivilgesellschaft und die Schwächung der Leistungsfähigkeit von Medien.
Die Rolle von Wissenschaft in der Demokratie
Die Intervention von Wissenschaft im öffentlichen und vor allem politischen Diskurs wird angesichts dringlicher gesellschaftlicher Probleme eine zunehmend wichtigere Aufgabe. Das ForscherInnennetzwerk „Diskurs. Das Wissenschaftsnetz“ nimmt sich dieser Herausforderung an und setzt sich dafür ein, wissenschaftliche Erkenntnisse zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen stärker in die öffentliche Debatte einfließen zu lassen. Der Zustand der Demokratie in Österreich ist eine solche Frage, die vier WissenschafterInnen aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln und auf Basis von aktuellen Forschungsergebnissen beleuchten; und zwar aus juristischer, soziologischer, kommunikations- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive.
Die Aktualität und Brisanz des Themas ergibt sich nicht nur aus einer Reihe von besorgniserregenden Entwicklungen hin zu autoritären Regierungen in der unmittelbaren Nachbarschaft Österreichs, wie etwa in Ungarn oder in Polen. Auch konkrete politische Maßnahmen in Österreich rufen wissenschaftlichen Widerspruch hervor.
Der rote Faden, der sich durch die wissenschaftlichen Expertisen unterschiedlicher Fachrichtungen zieht, ist folgender: In Österreich wird der Befund einer Demokratiegefährdung nicht von massiven Brüchen der demokratischen Grundordnung gestützt, sondern vielmehr von einem schleichenden Prozess kleiner, auf den ersten Blick unbedeutend scheinender Schritte. Die konkrete Gefahr geht allerdings von der kumulativen Wirkung dieser Veränderungen aus, deren Kurs deutlich in eine autoritäre Richtung weist. Eine frühzeitige Intervention ist deshalb aus der Sicht verantwortungsvoller Wissenschaft unbedingt notwendig.
Nadelstiche zur Unterminierung wichtiger Voraussetzungen für Demokratie
Aus rechtswissenschaftlicher Sicht konstatiert Franz Merli, Professor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien, eine Schwächung von öffentlicher Diskussion und kommunikativer Gegenmacht zur Regierung durch folgende Entwicklungen während der letzten Regierungsperiode:
- Die öffentliche und parlamentarische Diskussion von Bundesgesetzen fand oft nur mehr eingeschränkt statt, weil Begutachtungen umgangen oder erschwert und wesentliche Inhalte erst ganz am Schluss des Verfahrens eingebracht wurden.
- Es gab Versuche, kritischen Medien behördliche Informationen nur mehr eingeschränkt zur Verfügung zu stellen.
- Die Regierung wollte die Informationsarbeit der Statistik Austria kontrollieren.
- Die Finanzierung des Vereins für Konsumenteninformation (VKI) ist langfristig nicht mehr gesichert.
- Die Rechtsberatung im Asylverfahren wird verstaatlicht und damit intransparenter.
Damit wurden wichtige Rahmenbedingungen für Demokratie – gewollt oder ungewollt – geschwächt und in Frage gestellt.
Angriffe auf die kritische Zivilgesellschaft
Ruth Simsa, Professorin am Institut für Soziologie und Empirische Sozialforschung an der WU Wien, weist auf die Ergebnisse einer aktuellen Studie hin, wonach sich die Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft – ein wichtiges Korrektiv jeder demokratischen Gesellschaft – in Österreich schrittweise entscheidend verschlechtert haben. So haben sich unter der Regierung Kurz/Strache das allgemeine politische Klima in Bezug auf die Zivilgesellschaft, deren Möglichkeit der politischen Partizipation und die Strukturen der öffentlichen Finanzierung zivilgesellschaftlicher Organisationen negativ verändert. Es handelt sich dabei um klar beobachtbare Tendenzen, das kritische Potenzial der Zivilgesellschaft sowie ihre Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen einzuschränken.
Leistungsfähigkeit unabhängiger Medien gefährdet
Fritz Hausjell, Professor am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien, sieht die Kritik- und Kontrollfunktion unabhängiger Medien durch eine Schwächung ihrer Leistungsfähigkeit gefährdet.
Die Medienförderung unter der Regierung Kurz/Strache hat den wenig demokratieförderlichen Strukturwandel in der Medienbranche, der eine Schwächung klassischer Qualitätsmedien durch Digitalisierung und Online-Gratismedien bewirkte, noch verstärkt. So kann journalistische Recherche durch die personelle Ausdünnung der Redaktionen nur mehr bedingt die Öffentlichkeitskonstruktionen der Regierungs-PR entschlüsseln und konterkarieren. Die letzte Bundesregierung hat laut Hausjells Befund im Gegenteil die politische PR mit öffentlichen Mitteln vervielfacht. Da die Opposition über keine vergleichbaren Ressourcen verfügt, nahm der Transport einseitiger Sichtweisen zugunsten der Regierenden zu. Er berichtet auch, dass sogar manche Medien darüber klagten, dass Werbeaufträge der Regierung als Disziplinierungsinstrument gegen kritisch berichtende Medien eingesetzt wurden.
Das verborgene Vermögen als demokratisches Defizit
Martin Schürz, Lektor an der Universität Wien und an der FH des BFI Wien sowie Autor des aktuellen Buches „Überreichtum“, sieht aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht die Politik gefordert, eine Transparenz der Vermögensverhältnisse in Österreich herzustellen, da ansonsten eine demokratische Rechenschaftspflicht nicht gewährleistet ist. Die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik wirkt sich stark auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen und den Konsum aus. Damit darüber in der Öffentlichkeit demokratisch und auf rationaler Basis diskutiert werden kann, sind aussagekräftige Daten notwendig. Er unterstützt daher den Vorschlag des Wirtschaftswissenschafters Gabriel Zucman von der University of California, Berkeley nach einem internationalen Vermögensregister und fordert darüber hinaus auch einen regelmäßigen Armuts- und Reichtumsbericht, wie es ihn in Deutschland schon längere Zeit gibt.
Fazit
Die Befunde der WissenschafterInnen geben keineswegs Anlass zu alarmistischer Aufregung. Aber die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachperspektiven angeführten Prozesse fügen sich zu einem Mosaik mit demokratiepolitisch höchst problematischen Bestandteilen zusammen. Derartige Tendenzen finden sich auch in jenem mehrstufigen Prozess der Entwicklung hin zu autoritären Regierungen wieder, wie er in wissenschaftlichen Untersuchungen identifiziert wurde:
Am Beginn steht zumeist eine über Diskurse angestrebte Delegitimierung der regierungskritischen Zivilgesellschaft. In der Folge werden dann partizipative Zugänge in Gesetzgebung und politischen Debatten eingeschränkt und öffentliche Förderungen vor allem für kritische und politisch unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen gekürzt. Und schließlich folgt auch eine Änderung rechtlicher Rahmenbedingungen, wobei insbesondere Grundrechte eingeschränkt werden.
Auch wenn Österreich noch längst nicht alle Schritte dieses Prozesses durchlaufen bzw. abgeschlossen hat, so war die Politik der letzten Regierung doch von autoritären Versuchungen gekennzeichnet. Und dies ist in der Tat eine besorgniserregende Diagnose. Jede neue Regierung muss sich daher vor allem auch aus wissenschaftlicher Perspektive daran messen lassen, inwiefern ihr auch oder gerade auf demokratiepolitischem Terrain ein Richtungswechsel und damit eine Rücknahme der in den letzten beiden Jahren erfolgten Maßnahmen gelingt.
Das Video der Pressekonferenz von Diskurs. Das Wissenschaftsnetz zum Zustand der Demokratie vom 4.12.2019 findet sich hier.