Nachdem das Parlament der Regierung Ende Mai das Misstrauen ausgesprochen hatte, wurden – noch bevor das Parlament überhaupt etwas beschlossen hatte – schnell Stimmen laut, die etwaige budgetrelevante Beschlüsse zu „Wahlzuckerln“ degradierten. Ein Zusammenschluss aus Industriellen, Privatstiftern und Vermögenden initiierte sogar einen öffentlichen Brief, der auch von den beiden Chefs der Wirtschaftsforschungsinstitute WIFO und IHS unterschrieben wurde, um seine Sorgen um die Staatsfinanzen – mit Verweis auf die Parlamentssitzungen vor den Wahlen 2008 und 2017 – kundzutun. Doch während das bis heute nachwirkende, milliardenschwere Bankenpaket keiner Erwähnung wert ist, werden Mehrausgaben vor Wahlen wie die Verbesserungen bei Pflege und Pensionen kritisiert.
Inhaltliche Kriterien für Beurteilung von budgetären Beschlüssen heranziehen
Budgetpolitische Maßnahmen sind kein Selbstzweck. Sie sollten darauf abzielen, die Lebensbedingungen für alle Menschen zu verbessern. Budgetpolitik kann Verteilungsschieflagen korrigieren, die Konjunktur beeinflussen, Beschäftigung fördern oder den Klimaschutz vorantreiben. Die Beurteilung, ob eine Maßnahme sinnvoll ist oder nicht, sollte daher nach inhaltlichen Kriterien unter Berücksichtigung der ökonomischen Stabilität getroffen werden. Das gilt für budgetpolitische Beschlüsse vor Wahlen genauso wie während der Gesetzgebungsperiode. Eine reine Kostensicht greift viel zu kurz.
Budgetrelevante Beschlüsse vor Wahlen werden gerne zum „Wahlzuckerl“ degradiert. Nicht inhaltliche Kriterien werden für deren Beurteilung herangezogen, sondern argumentiert, dass der nächsten Regierung nicht der budgetäre Spielraum genommen werden dürfe. Das freie Spiel der Kräfte, also Beschlüsse unter wechselnden Mehrheiten im Parlament, wird als gefährlich für künftige Regierungen dargestellt. Mit einer pauschalen Verunglimpfung budgetrelevanter Beschlüsse schummelt man sich über eine inhaltliche Auseinandersetzung hinweg. Genau diese ist aber relevant. Warum sollte es besser sein, wenn während der Legislaturperiode im Parlament anhand einer Regierungsvorlage Steuersenkungen mit fragwürdigem Nutzen vergeben werden? Würde diese Maßnahme den Handlungsspielraum künftiger Regierungen in budgetärer Hinsicht nicht auch einschränken? Natürlich würde sie das. Wenn eine budgetwirksame Maßnahme nicht sinnvoll ist, dann gilt das mitten in der Legislaturperiode genauso wie vor den Wahlen. Daher ist es notwendig, die budgetwirksamen Beschlüsse der beiden Nationalratssitzungen nach dem Ende der Regierung Gusenbauer/Molterer 2008 und nach dem Ende der Regierung Kern/Mitterlehner 2017 anhand inhaltlicher Kriterien zu beurteilen und darzustellen, wer in welchem Ausmaß profitierte.
Budgetrelevante Beschlüsse vor den Wahlen 2017
In der Nationalratssitzung vom 12. September 2008 wurde Maßnahmen im Ausmaß von rund 1,6 Milliarden Euro beschlossen. Davon wurden 1,3 Milliarden Euro im Jahr 2009 budgetwirksam. Dies entsprach rund 0,4 Prozent des BIP. Die Verlängerung der sogenannten „Hacklerregelung“ schlug sich erst ab 2011 mit rund 300 Millionen Euro zu Buche. Etwa ein Monat später, am 20. Oktober 2008, trat der Nationalrat nach erfolgten Neuwahlen in „alter“ Besetzung zusammen – und beschloss das Bankenpaket. Damit standen bis zu 100 Milliarden Euro an Beihilfen und Haftungen für das österreichische Finanzsystem in der Krise zur Verfügung. Laut Eurostat belastet das Bankenpaket die Staatsschulden 10 Jahre später noch immer mit rund 20,6 Milliarden Euro. Die Ausgaben für das Bankenpaket erhöhten das Maastricht-Defizit im Jahr 2009 um 2,7 Milliarden Euro und machten damit mehr als das Doppelte der Sitzung vor den Wahlen aus. Von 2009 bis 2018 erhöhte das Bankenpaket das Maastricht-Defizit im Durchschnitt um jährlich rund 1,4 Milliarden Euro oder 0,4 Prozent des BIP.
Die budgetwirksamen Beschlüsse vor den Wahlen 2008 und 2017 brachten insgesamt einen Ausbau des Sozialstaats. Der Ausbau der Pflege, die von PartnerInnen unabhängige Notstandshilfe, die Verlängerung der Langzeitversichertenregelung, die Halbierung der Mehrwertsteuer auf Medikamente, die Übernahme der Internatskosten von Lehrlingen, die Abschaffung der Studiengebühren, die Verdoppelung der Mittel für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen, die Anhebung der Renten für Verbrechensopfer brachten für die Betroffenen entscheidende Verbesserungen. Andere Maßnahmen wurden teilweise noch von der Regierung eingebracht und in der letzten Sitzung vor den Wahlen beschlossen – wie der Ausbau der Kinderbetreuung oder die Pensionsanpassung. Pensionsanpassungsgesetze sind nur dann notwendig, wenn der Gesetzgeber nicht alle Pensionen um die Inflationsrate erhöhen möchte. In den vergangenen zehn Jahren – also nicht nur vor Wahlen – hat es mit Ausnahme der Jahre 2015 bis 2017 eine vom Parlament beschlossene Regelung gegeben. Dies ermöglichte, dass PensionistInnen mit niedrigem Einkommen stärker berücksichtigt werden konnten. Insgesamt zeigt sich ein Fokus der Maßnahmen auf Geldleistungen, dabei wäre ein Ausbau der Sachleistungen oftmals sinnvoller gewesen: Anstatt die 13. Familienbeihilfe auszubezahlen, hätte man z. B. die Kindergartenplätze für unter 3-Jährige ausbauen oder die Öffnungszeiten erweitern können, damit diese mit einer Vollzeitberufstätigkeit vereinbar sind. Auch im Pflegebereich fehlen bis heute der dringend notwendige Ausbau der mobilen Pflege und angemessene Löhne für die Pflegekräfte. Einige Vorziehungen, wie etwa die Pensionserhöhung oder die Pflegegelderhöhung, sind durchaus den bevorstehenden Wahlen geschuldet. Die öffentlich diskutierten budgetwirksamen Beschlüsse haben noch eine weitere Gemeinsamkeit: Sie brachten Besserverdienenden und der Unternehmensseite vergleichsweise wenig. Direkt vor Wahlen gelingt es den Vermögenden nicht, ihre Interessen durchzusetzen. Die Parlamentsfraktionen befürchten offensichtlich, dass mehr öffentliche Mittel für Vermögende von breiten Teilen der Bevölkerung bei den Wahlen abgestraft würden. Deswegen ist es auch wenig überraschend, dass die Industrie direkt vor Wahlen darauf drängt, keine budgetrelevanten Beschlüsse zu setzen. Die im Wahlkampf getätigten Großspenden dürften es erleichtern, die eigenen Interessen nach den Wahlen durchzusetzen. So war eine der ersten steuerlichen Maßnahmen der Regierung Kurz eine Senkung der Mehrwertsteuer im Tourismus (120 Millionen Euro). Diese wurde trotz Nächtigungsrekorden umgesetzt und dürfte sich in beträchtlichen Gewinnen der Hoteliers niedergeschlagen haben. Im Gegensatz zu den im September 2008 beschlossenen Maßnahmen vor den Wahlen wurde das im Oktober desselben Jahres unmittelbar nach den Wahlen – in der alten Zusammensetzung des Nationalrats – beschlossene, doppelt so teure Bankenpaket bis heute nicht in Frage gestellt. Während das Bankenpaket die von den Finanzmärkten ausgegangene Krise am Interbankenmarkt abfederte, stützten die September-Maßnahmen die Konjunktur und halfen, die durch den Wirtschaftsabschwung verursachten negativen Folgen wie die steigende Arbeitslosigkeit zu mindern. Die budgetrelevanten Beschlüsse vor den Wahlen 2008 und 2017 gefährdeten den Budgetpfad nicht. Im Jahr 2017 machten die zusätzlichen Ausgaben lediglich 0,1 Prozent des BIP (390 Millionen Euro) aus. In der Rechnung ist nicht einmal berücksichtigt, dass diesen Ausgaben zusätzliche öffentliche Einnahmen gegenüberstehen – etwa in Form einer höheren Lohnsteuer oder Mehrwertsteuer durch eine Steigerung der Konsumausgaben – und die Nettokosten damit niedriger sind. Im Jahr 2008 waren es rund 0,4 Prozent des BIP. Das Maßnahmenpaket 2008 wirkte in Folge der Finanzkrise konjunkturstützend, da es die Nachfrage stützte. Dies war zwar bei Beschlussfassung noch nicht absehbar, sollte aber bei der Ex-post-Beurteilung berücksichtigt werden. Darüber hinaus wäre es sicher ökonomisch sinnvoller gewesen, manche Maßnahme in eine Gesamtstrategie einzubetten und Gegenfinanzierungsmaßnahmen zu setzen. Doch diese Kritik gilt nicht nur für budgetrelevante Beschlüsse vor den Wahlen. Auch während Legislaturperioden werden immer wieder budgetäre Maßnahmen beschlossen, ohne entsprechende Gegenfinanzierungsmaßnahmen zu setzen. So beschloss die Regierung Kurz in ihrem ersten und einzigen Jahressteuergesetz den Familienbonus mit einem jährlichen Volumen von 1,5 Milliarden Euro ohne Gegenfinanzierung. Darüber hinaus stellte sie im Mai 2019 eine Steuerreform weitgehend ohne Gegenfinanzierung vor, deren letzte Etappe eine Senkung der Körperschaftssteuer im Jahr 2023 (!) – also erst nach regulären Neuwahlen im Jahr 2022 – vorsah. In der diesjährigen Juni-Sitzung der Nationalrats wurde ein Antrag eingebracht, der budgetäre Beschlüsse des Nationalrats nach Anordnung von Neuwahlen künftig verunmöglichen soll (einzige Ausnahme „Gefahr in Verzug“). Damit würde nicht nur die Handlungsfähigkeit des Gesetzgebers massiv eingeschränkt, sondern dies kann auch die ökonomische Stabilität gefährden. Wenn sich die Konjunktur eintrübt und die Arbeitslosigkeit in Folge ansteigt, ist das für das Budget ein Problem. Denn ein Konjunktureinbruch führt zu zusätzlichen Ausgaben für die Arbeitslosen und zu geringeren Steuereinnahmen durch weniger Beschäftigung und Konsum. Es wäre in einer solchen Situation Aufgabe einer verantwortungsvollen Politik, dem Anstieg der Arbeitslosigkeit umgehend entgegenzuwirken, indem öffentliche Investitionen (insbesondere in den Klimaschutz) getätigt werden, Beschäftigungs- und Qualifizierungsinitiativen gesetzt und die sozialen Dienste (z. B. Pflege) ausgebaut werden. Die Prognosen für 2019 wurden heuer bereits nach unten revidiert, die Konjunktur schwächt sich ab. Die Arbeitslosigkeit ist auch 10 Jahre nach der Krise auf sehr hohem Niveau und dürfte bald wieder ansteigen. Deswegen wäre es aus ökonomischer Perspektive sinnvoll, ein Konjunkturpaket noch vor dem Sommer zu beschließen, und zwar unabhängig davon, ob im Herbst Wahlen sind oder nicht.
Budgetrelevante Beschlüsse vor den Wahlen 2008
Budgetbeschlüsse vor Wahlen brachten Ausbau des Sozialstaats
Unternehmen und Besserverdienende profitierten vom freien Spiel der Kräfte kaum
Budgetbeschlüsse vor Wahlen 2008 und 2017 gefährdeten das Budget nicht
Selbstbeschneidung des Parlaments wäre ökonomisch gefährlich