Dauerhaft armutsfester Sozialstaat statt Einmalzahlungen. Zur neuen WIFO-Prognose

30. Juni 2022

Die Inflationsrate steigt heuer laut WIFO im Jahresdurchschnitt auf 7,8 Prozent und geht 2023 nur auf 5,3 Prozent zurück. Das Wirtschaftswachstum erreicht heuer – aufgrund eines sehr starken ersten Quartals – real sogar 4,3 Prozent. Die Prognose für 2023 wurde auf +1,6 Prozent zurückgenommen und bleibt damit optimistisch. Das Anti-Teuerungs-Paket der Regierung soll die Folgen der hohen Inflation abfedern, scheitert aber daran, den Sozialstaat armutsfest zu machen. Strukturelle Verbesserungen im Sozialstaat könnten zusammen mit einem progressiveren Steuersystem der drohenden Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken.

Energiepreise bestimmen noch lange das hohe Niveau der Inflation

Die größte Neuerung der WIFO-Prognose besteht allerdings nicht in den teils drastischen Revisionen von Inflationsrate, Bruttoinlandsprodukt, Industrieproduktion oder Konsumnachfrage gegenüber der März-Prognose. Denn zum ersten Mal nimmt das WIFO in seine Prognose Beyond-GDP-Indikatoren auf, nämlich die Veränderung der Treibhausgasemissionen und der Emissionsintensität. Die CO2-Äquivalente verringern sich 2022 und 2023 um 1,8 bzw. 1,1 Prozent. In Relation zur realen Bruttowertschöpfung sinken sie noch deutlicher. Das WIFO nimmt mit der Erfassung der Treibhausgasemission in der Konjunkturprognose eine Vorreiterrolle ein, rasch sollten nun weitere Beyond-GDP-Indikatoren wie die Armutsgefährdung oder der Gender-Pay-Gap Eingang in die regelmäßigen Vorhersagen nehmen.

Weiterhin bestimmen die Folgen der Covid-Pandemie und des Krieges in der Ukraine die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Hohe Energiekosten, Materialknappheit durch Lieferengpässe, instabile Finanzmärkte und die andauernde Gefahr eines Gasembargos führen zu erheblicher Unsicherheit. Dies führt zu einer konjunkturellen Abschwächung, die zunächst Investitionen, Export, Industrie- und Bauproduktion erfassen wird. Das WIFO erwartet allerdings keine Rezession und legt damit eine relativ optimistische Prognose vor.

Gestützt wird die heimische Konjunktur vom starken Rückgang der Sparquote, der vor allem für obere Einkommensgruppen trotz hoher Preissteigerungen eine Ausweitung der Konsumnachfrage erlaubt. Die nach dem Boom der letzten beiden Jahre außerordentlich gute wirtschaftliche Lage der Industriebetriebe stärkt deren Resilienz und ermöglicht kaufkraftsichernde Lohnerhöhungen auch im Abschwung. Zudem unterstützt die Erholung aus der tiefen, coronabedingten Talsohle im Tourismus das Wirtschaftswachstum.

Das WIFO erwartet nun hohe Inflationsraten bis zum Jahreswechsel, auch weil keine Entspannung bei den Gas- und Strompreisen angenommen wird. Deshalb wird die Inflationsprognose für 2022 um 2 Prozentpunkte auf 7,8 Prozent angehoben. Viele Energieversorger passen ihre Preise erst mit Zeitverzögerung an. Auch im Jahresdurchschnitt 2023 bleibt die Teuerung mit 5,3 Prozent hoch. Im Jahresverlauf soll sich die Inflationsrate aber merklich abschwächen.

Großes Anti-Teuerungs-Paket mit vielen Einmaleffekten

Das sehr große und umfangreiche Anti-Teuerungspaket soll die Folgen der massiven Preissteigerungen abfedern. Die Einmalzahlungen sind vielfältig: Anhebung des Klimabonus (500 Euro für alle), eine zusätzliche Familienbeihilfe (180 Euro), der Teuerungsbonus (250 Euro), die Erhöhung der Absetzbeträge (500 Euro) und die Einmalzahlung für Sozialleistungsempfänger:innen (300 Euro). Das Gros der Entlastungen kommt aber sehr spät und deckt die gestiegenen finanziellen Belastungen vieler Menschen trotzdem nicht ab. Das verfügbare Einkommen privater Haushalte wird heuer entsprechend real um 1,1 Prozent sinken, 2023 dann wieder um 0,8 Prozent steigen. Das obere Einkommensdrittel kann dies durch Rückgriff auf die in der Covid-Krise angehäuften Sparguthaben aber problemlos kompensieren, die durchschnittliche Sparquote fällt deutlich unter das Niveau der Jahre vor der Pandemie.

Menschen im unteren Einkommensdrittel leiden besonders unter den Preissteigerungen, weil das Einkommen schon bisher kaum zum Leben reichte. Sie sind meist prekär beschäftigt, arbeiten in schlecht bezahlten Branchen oder beziehen Sozialleistungen. Arbeitslosengeld und Notstandshilfe werden mit dem Teuerungspaket weiterhin nicht valorisiert. Diese Gruppen profitieren im Anti-Teuerungs-Paket lediglich von genannten Einmalzahlungen, die „Abschaffung“ der kalten Progression ab 2023 geht spurlos an ihnen vorüber.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Beschäftigte profitieren von gewerkschaftlichen Lohnverhandlungen

Beschäftigte mit höheren Einkommen profitieren in Zukunft am meisten von der „Abschaffung“ der kalten Progression, wie in der Grafik am Beispiel einer Managerin oder eines Managers gezeigt wird. Viel wichtiger für unselbstständig Beschäftigte sind aber die gewerkschaftlichen Lohnverhandlungen. Sie sichern für die knapp vier Millionen unselbstständig Beschäftigten den Kaufkrafterhalt (Ausgleich der Inflation). Basis dafür ist die durchschnittliche Inflationsrate der letzten 12 Monate.

Zum Auftakt der Frühjahrslohnrunde betrug die Inflation 3,5 Prozent und erreichte gegen Ende der Verhandlungen im Mai dann 4,3 Prozent. Die Abschlüsse um etwa 5 Prozent verdeutlichen, dass es den Gewerkschaften bisher außerordentlich gut gelungen ist, den Kaufkrafterhalt für ihre Beschäftigten zu sichern. Für die Herbstlohnrunde wird der 12-Monats-Durchschnitt der Inflation dann aber bereits bei etwa 6 Prozent liegen, was die Ausgangsbedingungen der Verhandlungen schwieriger macht.

Die Verhandlungsposition für Arbeitnehmer:innen wird aber durch eine zunehmende Verknappung des Arbeitskräfteangebots gestärkt. Die Zahl der Unselbstständigen wächst heuer noch kräftig (+3,0 Prozent). Die Anhebung des Mindestlohns in Deutschland auf 12 Euro (umgerechnet auf 40 Stunden entspricht das mehr als 1.700 Euro, 14-mal) trägt ebenfalls zur besseren Verhandlungsposition bei. Arbeitgeber konkurrieren also in Zukunft vermehrt um Arbeitnehmer:innen, und attraktive Arbeits- und Entlohnungsbedingungen sichern ihnen dabei Wettbewerbsvorteile.

Spaltung der Gesellschaft mit progressiverem Steuersystem entgegenwirken

Trotz positiver Entwicklungen bei Beschäftigung und Arbeitslosigkeit haben sich während der Covid-Pandemie viele bestehende Risse und Spaltungen auf dem Arbeitsmarkt verstärkt. Erste positive Entwicklungen bei Bildungsungleichheiten wurden wieder zunichtegemacht und Einkommens- und Vermögensdisparitäten haben sich seither möglicherweise sogar noch verschärft. Den vielen Verlierer:innen stehen die wenigen Eigentümer:innen, Vermieter:innen und überförderte Unternehmen gegenüber, die von Automatismen und Zufällen profitieren, Übergewinne einfahren und zur Gewinn-Preis-Spirale beitragen.

Der Sozialstaat demonstriert in Krisen immer wieder, dass er sowohl individuell als auch gesamtwirtschaftlich stabilisiert. Nun geht es darum, einen armutsfesten Sozialstaat zu schaffen, bei dem Sozialleistungen wie das Arbeitslosengeld, die Notstandshilfe, die Mindestsicherung oder die Ausgleichszulage für Pensionen dauerhaft erhöht werden. Die Krisengewinner:innen und besonders Vermögende müssen durch ein insgesamt progressiveres Steuersystem dazu beitragen, Armut in Österreich zu verhindern. Neben Erbschafts- und Vermögenssteuern könnte eine Steuerreform auch bei bestehenden proportionalen Steuern wie der Kapitalertragsteuer oder der Körperschaftsteuer ansetzen und progressive Elemente ergänzen. Auch in der Einkommensteuer besteht Potenzial zu stärkerer Progression, etwa indem der Eingangssteuersatz weiter verringert wird und der Spitzensteuersatz früher relevant wird.

Fazit

Nach dem kräftigen Aufschwung nach der Pandemie flaut nun die Konjunktur aufgrund des Krieges in der Ukraine und damit verbundener Preis- und Angebotsschocks spürbar ab. Anstelle von Einmalzahlungen, die das aktuelle Teuerungspaket für 2022 bestimmen, wäre die Anpassung von Sozialleistungen auf ein existenzsicherndes Niveau notwendig gewesen. Die aus den anhaltenden Krisen hervorgehenden Gewinner:innen müssen mithilfe eines progressiveren Steuersystems herangezogen werden, um einen armutsfesten Sozialstaat zu ermöglichen.

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