„Die Corona-Pandemie wird Bildungsungleichheiten in Österreich verstärken“ – so lautet die Schlussfolgerung der meisten Untersuchungen zu Bildungsbeteiligungen aus den letzten zwei Jahren. Dabei wird kaum erwähnt, wie ausgeprägt Bildungsungleichheiten vor der COVID-19-Pandemie bereits waren, was die letzten zwei Jahre in Relation dazu bedeuten und welches Ausmaß an Leistungsunterschieden heute konkret zu erwarten ist. Um diese Lücken zu schließen, zeigt der folgende Beitrag (1) die statistische Entwicklung herkunftsbedingter Bildungsungleichheiten im letzten Jahrzehnt auf und (2) nimmt eine Prognoseschätzung der Pandemiefolgen am Beispiel der RisikoschülerInnen vor.
Bildungsungleichheiten im letzten Jahrzehnt: Wohin ging der Trend bislang?
Seit nunmehr zwei Jahren berichten Studien über die Corona-Auswirkungen auf Schulen ähnliche Befunde: Distance-Learning, beschränktere Möglichkeiten kompensatorischer Fördermaßnahmen sowie eine verstärkte Rolle der Wohn- und Lernbedingungen im Elternhaus haben für alle SchülerInnen eine herausfordernde Phase bedeutet, für SchülerInnen aus sozioökonomisch schwächeren Haushalten hat sie sich aber nochmals schwieriger gestaltet. Damit fügen sich diese Entwicklungen in eine bildungspolitische Herausforderungslage ein, die bereits vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie von einer sozialen Schieflage geprägt war. Für die Bildungsforschung wirft das die Frage auf, wie diese jüngsten Befunde in die längerfristige Entwicklung eingeordnet werden können und müssen.
Eine geeignete Quelle zur Analyse der Entwicklung von „Bildungsvererbung“ im letzten Jahrzehnt liefern die seit 2012 flächendeckend in Österreich durchgeführten Überprüfungen der Bildungsstandards (BIST). Sie beinhalten Kompetenzmessungen beinahe aller ordentlicher SchülerInnen eines Schuljahrgangs in einer jährlich wechselnden Testkompetenz (Mathematik, Englisch oder Deutsch – außerordentliche SchülerInnen sind in BIST-Testungen nicht miterfasst). Die BIST-Überprüfungen wurden in der 4. oder 8. Schulstufe, also jenen Schulstufen vor den für Bildungswege bedeutsamen schulischen Weichenstellungen, durchgeführt und erhalten zudem wertvolle Kontextinformationen über familiäre und schulische Lernumgebungen. Nach nunmehr zehn Jahren an BIST-Überprüfungen erlauben die Testergebnisse inzwischen auch Vergleiche unterschiedlicher Kohorten – und lassen so Aussagen über die Entwicklung von Lernerfolgen im Zeitverlauf zu.
Im Zeitvergleich zeigen die BIST-Ergebnisse, dass der durchschnittliche Unterschied zwischen Kindern von Eltern mit einem akademischen Bildungshintergrund und Kindern von Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss etwa im Schulfach Mathematik am Ende der Volksschule im Jahr 2013 ganze 126 Testpunkte betrug (vgl. Grafik 1), was einer Differenz von rund drei Lernjahren entspricht. Fünf Jahre später (2018), bei der erneuten Erhebung von Mathematikkompetenzen in der Volksschule, hatte sich der Abstand lediglich um sieben Testpunkte reduziert – ein Hinweis auf die Beharrlichkeit der ungleichen Ausgangssituation von SchülerInnen im Volksschulalter mit unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen. In fünf Jahren wurden die Bildungsungleichheiten also nur geringfügig reduziert. Allerdings haben alle Gruppen relativ gesehen eine höhere Testleistung erzielt – was bei derartigen Testformaten auch auf den möglichen Einfluss eines „Teaching to the Test“ verweist.