Bildungsungleichheiten vor/nach Corona: Zurück an den Start

02. März 2022

„Die Corona-Pandemie wird Bildungsungleichheiten in Österreich verstärken“ – so lautet die Schlussfolgerung der meisten Untersuchungen zu Bildungsbeteiligungen aus den letzten zwei Jahren. Dabei wird kaum erwähnt, wie ausgeprägt Bildungsungleichheiten vor der COVID-19-Pandemie bereits waren, was die letzten zwei Jahre in Relation dazu bedeuten und welches Ausmaß an Leistungsunterschieden heute konkret zu erwarten ist. Um diese Lücken zu schließen, zeigt der folgende Beitrag (1) die statistische Entwicklung herkunftsbedingter Bildungsungleichheiten im letzten Jahrzehnt auf und (2) nimmt eine Prognoseschätzung der Pandemiefolgen am Beispiel der RisikoschülerInnen vor.

Bildungsungleichheiten im letzten Jahrzehnt: Wohin ging der Trend bislang?

Seit nunmehr zwei Jahren berichten Studien über die Corona-Auswirkungen auf Schulen ähnliche Befunde: Distance-Learning, beschränktere Möglichkeiten kompensatorischer Fördermaßnahmen sowie eine verstärkte Rolle der Wohn- und Lernbedingungen im Elternhaus haben für alle SchülerInnen eine herausfordernde Phase bedeutet, für SchülerInnen aus sozioökonomisch schwächeren Haushalten hat sie sich aber nochmals schwieriger gestaltet. Damit fügen sich diese Entwicklungen in eine bildungspolitische Herausforderungslage ein, die bereits vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie von einer sozialen Schieflage geprägt war. Für die Bildungsforschung wirft das die Frage auf, wie diese jüngsten Befunde in die längerfristige Entwicklung eingeordnet werden können und müssen.

Eine geeignete Quelle zur Analyse der Entwicklung von „Bildungsvererbung“ im letzten Jahrzehnt liefern die seit 2012 flächendeckend in Österreich durchgeführten Überprüfungen der Bildungsstandards (BIST). Sie beinhalten Kompetenzmessungen beinahe aller ordentlicher SchülerInnen eines Schuljahrgangs in einer jährlich wechselnden Testkompetenz (Mathematik, Englisch oder Deutsch – außerordentliche SchülerInnen sind in BIST-Testungen nicht miterfasst). Die BIST-Überprüfungen wurden in der 4. oder 8. Schulstufe, also jenen Schulstufen vor den für Bildungswege bedeutsamen schulischen Weichenstellungen, durchgeführt und erhalten zudem wertvolle Kontextinformationen über familiäre und schulische Lernumgebungen. Nach nunmehr zehn Jahren an BIST-Überprüfungen erlauben die Testergebnisse inzwischen auch Vergleiche unterschiedlicher Kohorten – und lassen so Aussagen über die Entwicklung von Lernerfolgen im Zeitverlauf zu.

Im Zeitvergleich zeigen die BIST-Ergebnisse, dass der durchschnittliche Unterschied zwischen Kindern von Eltern mit einem akademischen Bildungshintergrund und Kindern von Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss etwa im Schulfach Mathematik am Ende der Volksschule im Jahr 2013 ganze 126 Testpunkte betrug (vgl. Grafik 1), was einer Differenz von rund drei Lernjahren entspricht. Fünf Jahre später (2018), bei der erneuten Erhebung von Mathematikkompetenzen in der Volksschule, hatte sich der Abstand lediglich um sieben Testpunkte reduziert – ein Hinweis auf die Beharrlichkeit der ungleichen Ausgangssituation von SchülerInnen im Volksschulalter mit unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen. In fünf Jahren wurden die Bildungsungleichheiten also nur geringfügig reduziert. Allerdings haben alle Gruppen relativ gesehen eine höhere Testleistung erzielt – was bei derartigen Testformaten auch auf den möglichen Einfluss eines „Teaching to the Test“ verweist.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Unterschiede in schulischen Leistungen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft werden in der Bildungsforschung u. a. auf die ungleiche Verfügbarkeit von Bildungsressourcen und lernförderlichen Bedingungen in den Herkunftsfamilien zurückgeführt. Dabei kann es sowohl um ökonomisches Kapital gehen, wenn materielle Einschränkungen zum Fehlen von Lernmaterialien, verhinderter Teilnahme an Freizeitangeboten oder schlicht zum Fehlen von Nachhilfe- bzw. Fördermöglichkeiten führen. Sie können auch aus fehlendem kulturellen Kapital resultieren, wenn Eltern selbst das Wissen von schulischen Anforderungen und Abläufen fehlt oder sie selbst ihre Kinder bei Lerninhalten nicht unterstützen können. In ihrem Zusammenspiel schaffen diese Elemente ungleiche Ausgangsbedingungen für Kinder, die mit zunehmender Dauer zu Unterschieden in der schulischen Leistung führen.

Allerdings erklären diese Leistungsunterschiede nach sozioökonomischer Herkunft nicht allein, warum Kinder von AkademikerInnen in Österreich höhere Bildungswege einschlagen. Denn gälte rein das Leistungsprinzip, so müssten zumindest Kinder, die beispielsweise gleich gut rechnen können, auch die gleichen Chancen auf eine gymnasiale Bildungslaufbahn haben. Merkmale der Herkunftsfamilie dürften dann keine Rolle (mehr) spielen. In Österreich aber wechseln Kinder mit gleicher Mathematikkompetenz mehr als doppelt so oft (nämlich zu 58 Prozent) auf ein Gymnasium, wenn sie aus AkademikerInnenfamilien kommen im Unterschied zu Kindern, deren Eltern maximal Pflichtschulabschluss aufweisen (dann sind es nur noch 24 Prozent).

Die bildungssoziologische Forschung erklärt sich dies neben institutionellen Diskriminierungsfaktoren, von denen sozioökonomisch schwächere SchülerInnen überdurchschnittlich betroffen sind, auch mit sogenannten sekundären Herkunftseffekten: Selbst wenn Kinder gleichwertige schulische Leistungen erzielen, fließen in Bildungswegentscheidungen zahlreiche „inhaltliche“ und „strategische“ Aspekte der Eltern ein (welche Schule kann sich die Familie leisten; wie viel Wissen über Schulen und Bildungswege besteht; welche Erfahrungen haben Eltern auf ihrem eigenen Bildungsweg gemacht etc.). Ungleiche Startbedingungen von SchülerInnen bewirken demnach nicht nur Leistungs- und Kompetenzunterschiede (vgl. Grafik 1), sondern beeinflussen auch durch die Wahl von Bildungswegen (vgl. Grafik 2) die Ungleichheit in Bildungsabschlüssen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Anteil der Risiko-SchülerInnen steigt auf Niveau von 2013

So weit der Rückblick zur empirischen Entwicklung und Erklärung von Bildungsungleichheit im vergangenen Jahrzehnt. Wie aber werden sich grundlegende Kompetenzen und damit Lernergebnisse für VolksschülerInnen durch die eingangs angesprochenen Folgen der COVID-19-Pandemie entwickeln? Daten der AK-Schulkosten-Panelbefragung aus dem Februar 2021 zeigen, dass direkt nach den letzten Schulschließungen rund 20 Prozent der Volksschulkinder mit dem Lernstoff im Unterricht ziemlich oder sehr überfordert waren. Ähnlich hoch war der Anteil an VolksschülerInnen, die zuletzt schlechtere Noten in Schularbeiten oder Tests hatten als sonst (19 Prozent). Dabei traten erneut deutliche Unterschiede nach dem Bildungshintergrund der Eltern zutage – ein Trend, der auch ein Jahr nach den letzten Schulschließungen und trotz kompensatorischer Maßnahmen, wie dem Förderstunden-Paket, weiter anhält.

Um diese beiden Befundlagen zu verknüpfen, haben wir deshalb in einer „Szenario“-Berechnung die Ergebnisse der BIST-Überprüfung (2018, Mathematik, 4. Schulstufe) mit den Ergebnissen der AK-Schulkosten-Studie 2021 über Probleme mit dem Lernstoff gewichtet (unter Berücksichtigung differenzierter Verteilungen nach Bildungshintergrund der Eltern in den jeweiligen BIST-Stufen). Unsere Berechnungen zeigen, dass sich auf Basis der von den Befragten geschilderten Herausforderungen die Zahl der Risiko-SchülerInnen (d.h. Bildungsstandards nicht oder nur teilweise erreicht) zwischen vier und sieben Prozentpunkten erhöhen wird. Dabei handelt es sich um ein „konservatives Szenario“, unter der Annahme, dass kompensatorische Maßnahmen (zumindest bedingt) wirken und sich nur jede/r zweite bis zu jeder/m vierten VolksschülerIn mit Lernschwierigkeiten am Ende auch in den Bildungsstandards verschlechtern wird. Bei einer solchen Entwicklung würde der Anteil leistungsschwächerer SchülerInnen insgesamt auf bis zu 25 Prozent ansteigen (darunter überproportional viele Kinder aus weniger privilegierten Elternhäusern)  und läge damit wieder ungefähr auf dem Niveau von 2013 (23 Prozent). Der leicht positive Trend des abgelaufenen Jahrzehnts unter Risiko-SchülerInnen wäre damit also zunichte.

Fazit

Herkunftsbedingte Bildungsungleichheiten waren schon vor der COVID-19-Pandemie in Österreich stark ausgeprägt. Der Abstand zwischen sozioökonomisch privilegierten und benachteiligten Kindern ist enorm, tritt sehr früh im Bildungssystem zutage und beeinflusst damit Bildungswege und -erfolge maßgeblich. Die starke Abhängigkeit von elterlichen Bildungsressourcen ist vor allem von den institutionellen Rahmenbedingungen geprägt: dem mehrheitlich vorherrschende Halbtagssystem, einer ungleichheitsfördernden Schulfinanzierung und der im internationalen Vergleich sehr früh angelegten Selektion in weiterführende Bildungswege. Der Blick auf die Entwicklungen im letzten Jahrzehnt zeigt zudem eine starke Beharrlichkeit dieser Bildungsungleichheiten, und selbst die leichten Verbesserungen wurden durch zwei Jahre “Schule unter Pandemie-Bedingungen” wieder zurückgeworfen. Vor diesem Hintergrund sind die kurzfristigen Covid-Sondermittel zwar ein wichtiger, aber kein ausreichender Hebel. Denn für eine langfristige Strategie benötigt es nachhaltigere Schritte zur Bekämpfung einer strukturellen Ungleichheit im und durch Österreichs Schulsystem.

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