Wohnen für die Vielen

27. April 2023

Das Recht auf Wohnen für die Vielen gerät in Österreich immer mehr unter Druck. Vom Wohnbauboom profitieren einige Wenige, während die Vielen einem unmittelbaren Mangel an leistbaren, stabilen und zugänglichen Wohnungen gegenüberstehen. Armutsgefährdete Menschen und Personen mit Flucht- oder Migrationshintergrund sind im Besonderen von Ausschlüssen und Benachteiligungen betroffen. Welche wichtigen Weichen jetzt gestellt werden müssen, damit das Menschenrecht auf Wohnen für die Vielen durchgesetzt werden kann, wurde kürzlich auf der Stadttagung „Wohnen für die Vielen“ diskutiert.

Österreichisches Volkswohnungswesen

„Alle haben das Recht auf einen Lebensstandard, der ihnen und ihren Familien Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, […]“ – so hält der 25. Artikel der UN-Menschenrechtserklärung das Recht auf Wohnen für alle schriftlich fest. Auch in der Europäischen Sozialcharta findet sich das Recht auf Wohnen, definiert als Schutz vor Obdachlosigkeit und tragbaren Wohnkosten für alle. Diese Charta wurde zwar grundsätzlich von Österreich unterschrieben, jedoch der betreffende Artikel zum „Recht auf Wohnen“ nicht ratifiziert. In Österreich handelt es sich bei dem Recht auf Wohnen also nicht um ein einklagbares Recht und es ist auch nicht in dieser Form in der Verfassung festgehalten. Jedoch befindet sich in der Verfassung das „Österreichische Volkswohnungswesen“. Gemeint ist damit die Aufgabe des Staats, Wohnraum für die finanziell benachteiligten Bevölkerungsgruppen bereitzustellen. Auf diesem Verfassungsrecht basiert etwa die Wohnungsgemeinnützigkeit, aber auch die Regulierung des privaten Markts durch Mietrechtsgesetze mit dem Ziel der höheren Leistbarkeit für die Vielen. Ein Blick auf die tatsächliche Umsetzung des österreichischen Volkswohnungswesens zeigt jedoch ein ernüchterndes Bild. Es steht nicht gut, um die Bereitstellung von Wohnraum für die finanziell benachteiligte Bevölkerung in der derzeitigen Situation.

Betongold statt Recht auf Wohnen

Fast jede dritte Person in Österreich befürchtet in naher Zukunft in Zahlungsschwierigkeiten durch die Wohnkosten zu geraten. Diese erschreckend hohe Anzahl an Menschen mit massiven Wohnsorgen steht einerseits in Zusammenhang mit der allgemeinen Teuerungswelle. Andererseits befindet sich die Entwicklung der Kauf- und Mietpreise von Wohnungen, gerade in den Städten, schon seit vielen Jahren im konstanten Steigen. In Wien sind die Kaufpreise seit 2008 um 153% und die Mietzinse bei privaten Neuverträgen um 67% Prozent gestiegen. Diese Preisanstiege liegen weit über der allgemeinen Inflation und den Erhöhungen der Löhne. Hinter diesen Dynamiken liegt ein Wohnungsmarkt, der von Investments geprägt ist. Einerseits gibt es in Wien einen Boom an Neubautätigkeit. Zum Großteil werden freifinanzierte Wohnungen zu Luxuspreisen gebaut, während der Anteil an gefördertem Wohnbau stark zurückgeht. Zwischen 2018 und 2021 liegt er bei nur mehr 34%. Zum Vergleich: 1994 kamen in Wien noch rund sieben geförderte Wohnungen auf eine frei finanzierte, heute ist es nicht einmal mehr eine ganze. Außerdem boomt auch der Markt mit Altbau-Zinshäusern. Die Restbestände an unbefristeten und leistbaren Mietverträgen schwinden dahin. Die Folge ist, dass massive Übergewinne der Immobilienbranche enormen Leistbarkeitsproblemen und Unsicherheiten der Mieter:innen gegenüberstehen.

Stabilität, Zugänglichkeit und Leistbarkeit in Gefahr

Befristungen von Mietverträgen haben sich als neue Norm durchgesetzt und bringen die Stabilität von Wohnverhältnissen in Gefahr. In Österreich gab es 2021 bereits über 347.000 befristete Mietverträge im privaten Segment. Das heißt: Österreichweit ist beinahe jede zweite Bestandsmiete im privaten Segment befristet und in Wien sind es bereits fast zwei Drittel der privaten Neuvertragsmieten. Aber auch die Zugänglichkeit von Wohnraum ist bedroht. Wer sich aktuell auf Wohnungssuche befindet, muss, verglichen mit bereits bestehenden Mietverhältnissen, mit eklatant höheren Wohnkosten rechnen. Die Neuvertragsmieten – vor allem im privaten Bereich – liegen in Wien 2021 um rund 50% über dem Durchschnitt im Bestand. Der soziale Wohnbau bietet hier eine günstigere Alternative, jedoch ist der Zugang nicht für alle Menschen gleichermaßen gegeben. Zugangsbarrieren sind hier je nach Bundesland an Staatsbürgerschaft, Aufenthaltsstatus, Aufenthaltsdauer oder sogar Deutschkenntnisse gekoppelt. Schließlich ist auch die Leistbarkeit von Wohnen massiv in Gefahr. Zu den seit Jahren anhaltenden Preissteigerungen kommen aktuell auch noch die Richtwert- und Kategorieanhebungen im Zuge der allgemeinen Teuerung hinzu. Enorme Belastungen für die Haushalte sind die Folge. Aktuelle Zahlen der Statistik Austria zeigen, dass in Österreich rund 1,9 Mio. Menschen innerhalb der kommenden drei Monate Zahlungsschwierigkeiten rund ums Wohnen erwarten. Also fast jede dritte Person zwischen 16- bis 69-Jahren.

Teuerung trifft alle, jedoch manche besonders hart

Belastungen und prekäre Wohnsituationen sind in der Gesellschaft nicht gleich verteilt. Menschen mit geringeren Einkommen oder Flucht- oder Migrationshintergrund haben es bei der Wohnungssuche besonders schwer und sind besonders häufig von belastenden Wohnsituationen betroffen. Österreichweit müssen mehr als 1,3 Millionen Menschen mit einem Monatseinkommen unter 1.370€ auskommen. Somit ist jede siebte Person in Österreich armutsgefährdet. Während unter österreichischen Staatsbürger:innen etwa jede zehnte Person betroffen ist, ist bereits jede dritte Person mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft armutsgefährdet, in der Gruppe der Staatsbürger:innen außerhalb der EU sogar beinahe jede zweite.

Überbelastung mit Wohnkosten

Das hat unmittelbare Konsequenzen in Hinblick auf die Wohnkosten. Wenn mehr als 40% des Monatsbudgets für die Wohnkosten aufgebracht werden muss, besteht eine Wohnkostenüberbelastung. Menschen in Städten sind gegenüber dem österreichischen Schnitt doppelt so häufig wohnkostenüberbelastet. Und auch nach Staatsbürgerschaft zeichnet sich ein deutliches Gefälle ab: Menschen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft sind dreimal so oft wohnkostenüberbelastet wie österreichische Staatsbürger:innen.

Wohnen auf wenig Raum

Die fehlende Leistbarkeit von Wohnraum muss häufig mit Einbußen an Platz kompensiert werden: Wiener:innen ohne Migrationshintergrund haben durchschnittlich 43m2 pro Kopf zur Verfügung, mit Migrationshintergrund aus der EU nur 35m2 und aus Drittstaaten nur 28m2. In Zahlen wird räumliche Enge als Überbelag gemessen. Von überbelegten Wohnungen spricht man, wenn Personen im Haushalt kein eigenes Zimmer von mehr als acht Quadratmeter zur Verfügung steht oder die Wohnfläche pro Person weniger als 16m2 beträgt. Unter österreichischen Staatsbürger:innen sind nur drei Prozent von Überbelag betroffen, in der Gruppe mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft allerdings jede fünfte Person, mit Staatsbürgerschaften außerhalb der EU sogar beinahe jede dritte Person.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Befristete Verträge als Realität

Neu zuziehende Personen sind zunächst auf den privaten Wohnungsmarkt angewiesen – der teuerste Bereich mit der höchsten Zahl an Befristungen. Auch hier zeigt sich: Betroffen ist ein Drittel der Wiener:innen ohne Migrationshintergrund, aber zwei Drittel der Wiener:innen mit Migrationshintergrund. Im Alltag bedeutet das, alle paar Jahre zu hoffen, dass der Mietvertrag verlängert wird und in den meisten Fällen ist mit einer Preissteigerung zu rechnen. Und auch im Falle einer Nicht-Verlängerung ergeben sich erhebliche Mehrkosten durch Übersiedelung, Kaution und eventuell erhöhte Miete.

Die Spitze des Eisbergs: Wohnungslosigkeit

Die gravierendste Form von Armut und Ausgrenzung ist Wohnungslosigkeit. Zuletzt waren 19.450 Personen in Österreich registriert obdachlos gemeldet, das heißt in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe untergebracht oder mit einer Hauptwohnsitzmeldung “O„ gemeldet. Rund 60% der registrierten Obdachlosen leben in Wien. Statistisch gelingt es jedoch nur einen Teil des gesamten Spektrums an Wohnungslosigkeit abzubilden. Viele versuchen, ihre Situation so lange es geht zu verbergen, gehen dafür gefährliche Abhängigkeitsbeziehungen ein oder nehmen sehr prekäre Bedingungen in Kauf. Klar zeigt sich jedoch: Wohnungslosigkeit und prekäre Wohnsituationen reichen bis mitten in die Gesellschaft und Betroffene sind zunehmend jünger, in allen Bildungsschichten zu finden und zum Teil erwerbstätig.

Folgen des Nichthandelns

Die Folgen von Wohnungslosigkeit und prekären Wohnverhältnissen zahlt die Gesellschaft im Ganzen. Beispielsweise ergibt eine AK-Schätzung, dass Mietrückstände von ca. 2.500€ zu Folgekosten von mindestens rund 30.000€ führen, wenn man die Kosten für Räumung, Gericht und Notunterbringung einrechnet. Doch auch abseits von finanziellen Aspekten profitiert die gesamte Gesellschaft von leistbaren, zugänglichen und stabilen Wohnverhältnissen für die Vielen. Wohnen hat eine zentrale und integrative Funktion für die Positionierung innerhalb der Gesellschaft. Eine gesicherte Wohnsituation ist die Basis für gesellschaftliche Teilhabe, berufliche Tätigkeit, Bildung, Gesundheit und soziale Beziehungen. Die entscheidenden Hebel zur Verbesserung und Sicherstellung von gutem Wohnen liegen zu großen Teilen in der Wohnungspolitik. Denn ein Mangel an leistbarem Wohnraum führt zur Erzeugung von Bedürftigkeit statt zur Bekämpfung von Ursachen. Das Sozialressort kann nicht allein auffangen, was in der Wohnungspolitik versäumt wurde.

Wohnen für die Vielen langfristig sicherstellen

Eine Erfüllung des Rechts auf Wohnen im Sinne der UN-Menschenrechtserklärung erfordert konkrete Schritte in der Wohnungspolitik. Um stabile Wohnverhältnisse zu schaffen, muss die Möglichkeit von befristeten Verträgen bis auf wenige Ausnahmefälle abgeschafft werden. Ein Mietendeckel, der maximal eine Mieterhöhung im Jahr von zwei Prozent zulässt, würde ganz aktuell Haushalte vor der Armutsgefährdung schützen. Langfristig muss eine umfassende Mietrechtsreform und eine aktive Bodenpolitik für mehr sozialen Wohnbau die Leistbarkeit von Wohnen sicherstellen. Auch private Entwickler:innen sollten in die Pflicht genommen werden und zu einem gewissen Anteil an sozialgebundenen Wohnungen bei Neu- und Ausbau angehalten werden. Nicht zuletzt muss auch der Zugang zum sozialen Wohnbau verbessert werden, um die besonders prekär lebenden Gruppen gut zu erreichen. Mit dem nötigen politischen Willen kann Wohnen für die Vielen als Grundrecht Realität werden, egal, wie viel man hat und egal, woher man kommt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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