Rund 14.500 Erwachsene besuchen in Österreich derzeit die Abendschule. Sie nutzen ihre zweite Chance. Das Nachholen von Bildungsabschlüssen ist mühsam und anstrengend, aber nicht immer gab es diese Möglichkeit. In Österreich verdanken wir sie der Initiative von Wanda Lanzer, einer Pionierin des Roten Wiens. Dennoch ist die Person Wanda Lanzer heute nahezu vergessen. Ihre Geschichte ist eine Geschichte der Vertreibung im Nationalsozialismus, aber auch eine klassische Frauengeschichte in der Sozialdemokratie.
Fehlende Bildung ist eine Fessel für die ArbeiterInnen
Schauplatz Rotes Wien, frühe 1920er-Jahre: Die junge Studentin Wanda Lanzer hält eine abendliche Vortragsreihe über das Arbeiterprogramm Ferdinand Lassalles für die Sozialistische Jugend. Sie stammt aus einer gebildeten Familie und zählt zu den ersten Frauen, die an der Universität Wien zum Studium der Staatswissenschaften (d. h. Nationalökonomie und Volkswirtschaft) zugelassen sind. Ihr Publikum aus jungen ArbeiterInnen und HandwerkerInnen saugt das angebotene Wissen auf, stellt eine Frage um die andere. Wanda Lanzer sieht die Bildungslücken ihrer HörerInnen dadurch noch deutlicher, erkennt aber gleichzeitig deren Wissensdurst. Mit ihnen systematisch in Abendkursen das Schulwissen bis zur Matura zu erarbeiten – wäre das nicht eine großartige Idee? Wäre das nicht eine unglaubliche Chance für den einzelnen Arbeiter und die einzelne Arbeiterin? Ein riesiger Vorsprung für die ArbeiterInnenschaft? Die Fessel von zu wenig Bildung will Wanda Lanzer gemeinsam sprengen.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist es noch denkunmöglich, einen Bildungsabschluss nachzuholen. Wanda Lanzer hat diese Idee und setzt für ihre Umsetzung alle Hebel in Bewegung. Es dauert nur drei Monate bis sie Kursprogramm, ehrenamtliche LehrerInnen und ihre ZuhörerInnenschaft versammelt hat. Die Arbeitermittelschule ist im Winter 1922/1923 geboren.
Keine besondere Sache? Zugegeben, die Bezeichnung „Arbeitermittelschule“ klingt rückblickend nicht revolutionär – die Idee ist es aber. Zuvor kann Bildung – in Abhängigkeit vom Elternhaus – nur als Kind erworben werden. Stärker noch als heute sind damals mit Bildungsabschlüssen eine Arbeitsstelle, gutes Leben und Gesundheit verbunden. Bildung ist exklusiv. Wanda Lanzer ändert das. Plötzlich können die ArbeiterInnen ihr Schicksal in eine andere Richtung lenken. In der Arbeitermittelschule lernen sie im Klassenverband über vier Jahre hindurch an fünf Abenden pro Woche den Maturastoff. Damit hat Wanda Lanzer die Abendschule erfunden, als erste im deutschsprachigen Raum und wahrscheinlich sogar weltweit.
Ein Erfolgsprojekt – Vom Fabriksarbeitsplatz bis an die Universität
Die von Wanda Lanzer gegründete Arbeitermittelschule nimmt Anfang Dezember 1922 den Kursbetrieb auf und wird zu einem Erfolgsmodell (bis heute!). Der erste Maturajahrgang wird persönlich vom berühmten sozialdemokratischen Schulreformer Otto Glöckel beglückwünscht. Dutzenden AbsolventInnen öffnet sie die Tür, um anschließend sogar ein Universitätsstudium zu bewältigen. Auch im Vergleich mit heutigen Maßnahmen ist die Arbeitermittelschule ein äußerst nachhaltiges Konzept (siehe untenstehende Abschlussstatistik). Wanda Lanzer gelingt es sogar, dass die AbsolventInnen ihres Lehrgangs als BerufsschullehrerInnen eingesetzt werden. Unter den Lernenden ist auch Franz Borkowetz, Hilfskraft in der Bibliothek der Arbeiterkammer Wien (Magazineur). Sein Bildungsaufstieg wird später für Wanda Lanzer von großer Bedeutung sein.