Konstruktiver Föderalismus – ein Wunschtraum?

17. Juli 2019

Umwelt, Bildung oder Pflege: Zentrale Aufgaben werden im österreichischen Föderalismus von Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam wahrgenommen. Ein koordinierender Rahmen (des Bundes) einerseits und die Bürgernähe (Gemeinden) andererseits versprechen gute Ergebnisse. Doch die Gebietskörperschaften verfolgen nicht immer die gleichen Ziele. Viele Reformen kommen daher einfach nicht vom Fleck. Was also tun? Verbesserte Governance-Regelungen böten Lösungen. Dies wird im Folgenden anhand der Beispiele Bildung und Pflege ausgeführt.

Kooperation im Interesse der Bürgerinnen und Bürger braucht bessere Regelungen

Die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden ist seit Jahren verbesserungsbedürftig: Kompromisse sind wenig nachhaltig, seitens einzelner Akteure kommt es zu Blockaden. Innovationen in Aufgabenbereichen, die von mehreren staatlichen Ebenen gemeinsam zu erfüllen sind (wie im Bereich der Bildung oder des Klimaschutzes), sind kaum möglich. Dies alles trägt zu Vorbehalten gegenüber dem aktuellen föderalen System bei.

Politik und Verwaltung agieren in einem Governance-Rahmen von institutionellen Strukturen und Verhandlungsroutinen. Es bestehen tolerierte Einflussnahmen und vielfach inhaltliche und strategische Interdependenzen. Dies erfordert verbesserte institutionelle Regelungen, wie eine explizite Mehr-Ebenen-Steuerung, Konsultations- und Dialogforen, gemeinsames Erarbeiten von Wirkungszielen, mehr Partizipation und Transparenz und weniger Korruption.

Dass die aktuelle Kooperation zwischen Bund, Ländern und Gemeinden mangelhaft ist, zeigt sich beispielhaft an Art. 15a B-VG Verträgen zwischen Bund und Ländern (Grundsatzgesetze des Bundes, Ausführungsgesetze der Länder). Diese erwiesen sich als Hemmschuh, da die Gemeinden bei den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind. Zudem besteht ein überkommenes Verständnis von einem „hoheitlichen Interventionsstaat“. Dies ist ein Hindernis, da es gilt, nicht-hierarchische, gleichberechtigte, kooperative Beziehungen zwischen den staatlichen Ebenen sowie zwischen Staat und Zivilgesellschaft zu organisieren.

Schließlich geht es um einen Wandel der Haltungen und der Perspektiven in der Politik, nicht aber um das Absichern der eigenen Positionen. Vielmehr sollten Erledigungen im Interesse des sozialen Zusammenhalts der Menschen, mehr Lebensqualität, Klimaschutz und Korrektheit im Mittelpunkt stehen.

Zeitgemäße Public Governance tut not

Public Governance ist ein System von Haltungen, Denkweisen und Handlungen aufseiten der staatlichen Akteure sowie von Regeln, Strukturen und Verfahren. Dieses System dient der Konzeption, der Entscheidung sowie der Umsetzung von öffentlichen Aufgaben im demokratischen Staat. Hierbei geht es um die Grundsätze für staatliche Steuerung, um politisch-administrative Verfahren sowie um das Festlegen und Evaluieren von Wirkungen des öffentlichen Handelns.

Abbildung 1 zeigt mehrere Elemente des Governance-Systems. Dabei wirken nicht nur die Akteure, sondern auch die jeweiligen Mechanismen der Governance-Formen und die Instrumente aufeinander ein. Auch innerhalb der Bereiche bestehen vielfache Interdependenzen.

Schema des Governance-Systems © A&W Blog
© A&W Blog

Die Art des Zusammenwirkens verschiedener Akteure bestimmt dabei die Qualität des Ergebnisses. Es ist daher ein Koordinierungs- und Abstimmungsbedarf auf mehreren Ebenen notwendig, welcher bereits in föderalen/dezentralen Organisationformen anderer Staaten mehrfach erfolgt.

Mehr-Ebenen-Steuerung als mögliche Lösung

Der Multi-Level-Governance-Ansatz (=Mehr-Ebenen-Steuerung) [#MultilevelGov] sieht einen Paradigmenwechsel gegenüber der bisherigen statischen Governance-Struktur vor. Dieser Ansatz sucht nach Lösungen, um bei komplexen Materien zu einer gemeinsamen Strategie zu finden. Das bedeutet ein Abgehen vom oft geforderten Entflechten der Zuständigkeiten und Herstellen getrennter Verantwortungsbereiche. Denn es leuchtet heute wohl vielen ein, dass Klimaschutz oder z. B. Integration von Zugewanderten nicht nur Aufgabe des Bundes oder einer einzelnen Bürgergruppe ist. Es braucht dafür alle staatlichen Ebenen, zivilgesellschaftliche Organisationen und jeden einzelnen Menschen.

Es geht vielmehr um gemeinsames, abgestimmtes Agieren. Es bedeutet einerseits ein bestmögliches Bewältigen von inhaltlicher Komplexität (weil Interdependenzen zwischen Zielen, Programmen und Maßnahmen einzelner funktionaler Bereiche, so z. B. zwischen Bildung und Gesundheit, bestehen) und institutioneller Komplexität (weil staatliches Handeln über eine Vielzahl von Organisationen erfolgt, die über Regeln und spezifische Prozesse agieren). Andererseits muss auch das Zusammenwirken der einzelnen Menschen, der Entscheidungsträgerinnen und -träger in Politik und Verwaltung, der Bürgerinnen und Bürger, von Jungen und Alten durch gemeinsam getragene Werte (Haltungen), durch entsprechende (Aus-)Bildung, durch Regeln konstruktiver gestaltet werden.

Beispielsweise gelten für die Gestaltung von öffentlichen Budgets und Abrechnungen zwar umfangreiche Regeln. Für den heutigen intensiven Kooperationsbedarf mit komplizierter arbeitsteiliger Umsetzung sind diese Strukturen aber nicht vorgesehen. So bestehen Intransparenzen bei Leistungsdaten und Wirkungen, eine ausreichende und ebenenübergreifende Sicht auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger fehlt.

Verbesserte Mehr-Ebenen-Steuerung setzt bei einer Analyse der Schwachstellen bzw. Herausforderungen an, erkennt daraus vorrangige Aktionsbereiche und bedient sich eines vielfach erprobten Instrumentariums. Hierzu bietet der praxisorientierte Multi-Level-Governance-Ansatz der OECD eine Strukturierung und – in anderen Staaten – bereits erfolgreiche Lösungsansätze. Wichtige Ergebnisse sind evidenzbasierte politische Entscheidungsfindung und gemeinsame Strategien und Programme, Bereitstellen ausreichender Ressourcen, gut abgestimmte Verantwortungsbereiche für Teillösungen, vertikale und horizontale Koordinierungsinstrumente.

 

Lückenanalyse im OECD-Multi-Level-Governance-Ansatz

Lückenanalyse im OECD-Multi-Level-Governance-Ansatz © A&W Blog
© A&W Blog

Quelle: Charbit u. Romano: Contracts across Levels of Government to improve Performance, 2019; übersetzt aus dem Englischen von Karoline Mitterer.

 

Welche Potenziale sich durch die Berücksichtigung solcher und anderer Governance-Perspektiven ergeben können, soll anhand zweier Beispiele skizziert werden.

Beispiel Pflichtschule – Schaffen gebietskörperschaftsübergreifender Ziele

Für den Pflichtschulbereich – inkl. der Tagesbetreuung – sind Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam zuständig. Es zeigen sich regional unterschiedliche Regelungen in Bezug auf die Organisation und Finanzierung der Bildung und Betreuung. Die Vielzahl der Akteure und die unterschiedlichen Zuständigkeiten führen insbesondere bei der Finanzierung zu einer hohen Komplexität, die eine gesamtheitliche Steuerung erschwert.

Vereinfacht betrachtet, liegen die Schulerhaltung (Bereitstellung und Betrieb der Infrastrukturen), die schulärztliche Versorgung und der Schülertransport bei Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden. Das pädagogische Personal und die interdisziplinären Dienste (z. B. Schulsozialarbeit) werden hauptsächlich von den Bundesländern bereitgestellt. Die Kosten für die Landeslehrerinnen und -lehrer im Pflichtschulbereich werden im Wesentlichen vom Bund getragen. Bei Ganztagsschulen übernehmen Gemeinden auch personelle Verantwortung im Freizeitbereich. Die außerschulische Tagesbetreuung und Ferienbetreuung werden in erster Linie durch die Gemeinden gewährleistet.

Dementsprechend finden sich auch auf allen drei Gebietskörperschaftsebenen Ziele zur Weiterentwicklung von Pflichtschule und Tagesbetreuung. Auf Bundesebene erfolgt bereits seit mehreren Jahren eine wirkungsorientierte Zielsteuerung, auf Länderebene trifft dies erst vereinzelt zu. Gemeinden kennen meist keine Wirkungsziele.

Es fehlt ein übergreifender Abstimmungsprozess zu den Zielen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Damit wären gemeinsame sachpolitische und funktionale Ziele für den Pflichtschulbereich möglich, welche für alle drei Gebietskörperschaftsebenen im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung gemeinsam verpflichtend sind. Ein solcher Prozess ist notwendig, um konkurrierende Wirkungen der Maßnahmen bzw. Finanzierungsbeziehungen der einzelnen Gebietskörperschaftsebenen auszuschließen und eine Evaluierung der Aufgabenzuständigkeiten zu ermöglichen.

Besonders deutlich wird dies beispielsweise beim Thema Ganztagsschulen, da hier mehrere Akteure sowohl zur Leistungserbringung als auch zur Finanzierung beitragen.

Beispiel Pflege – bessere Abstimmung der Leistungsangebote und deren Finanzierung

Die Organisation von Pflege und Altenbetreuung unterscheidet sich zwischen den Ländern, teils auch zwischen Gemeinden. Stationäre Pflegeeinrichtungen können – je nach Land – sowohl von Gemeinden/Gemeindeverbänden, aber auch vom Land getragen werden. In Vorarlberg und Wien bestehen eigene Trägerorganisationen (z. B. Vorarlberger Sozialfonds), um die Vielfalt der Akteure besser berücksichtigen zu können. Auch in der mobilen Pflege oder bei Tageszentren bestehen differenzierte Leistungen. Qualitätsvolles Management im Weg von Care und Case Management erscheint unterschiedlich entwickelt. Bund, Länder und Gemeinden sollten – so bereits Pläne der kürzlich abgewählten Bundesregierung – den Pflegebereich gemeinsam qualitativ und quantitativ weiterentwickeln. Es braucht zuerst gemeinsame, gebietskörperschaftsübergreifende strategische Ziele (z. B. Ausbau der Kapazitäten, Qualitätssicherung), aber auch Koordinierungseinrichtungen, abgestimmte Prozesse und Instrumente zur Leistungserstellung und zur Verteilung der Finanzierungslasten.

Ein positives Beispiel hierfür ist der Sozialfonds Vorarlberg: Bereits seit 1998 besteht der Vorarlberger Sozialfonds, der zur inhaltlichen und finanziellen Steuerung der Sozialhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe, der Pflege, von Sozialpsychiatrie und Suchtbekämpfung sowie zur Integrationshilfe vom Land und von den Gemeinden eingerichtet und fast paritätisch finanziert wird. Der Sozialfonds funktioniert auf Basis von klaren Statuten (festgelegte Strukturen und Rollen, integrierte Planung, Controlling), einer gemeinsamen Strategie, einer sorgsam gepflegten Kultur des Zusammenarbeitens, einer Orientierung an fachübergreifenden Prinzipien. Eine solche institutionelle Regelung, die auch an neue Erfordernisse angepasst wird, ermöglicht die Herstellung eines wirtschaftlichen Interessenausgleichs zwischen dem Land und den Gemeinden. Und er bietet damit eine tragfähige Basis für eine solidarische Aufgabenerfüllung.

Erste Schritte in Richtung Reform

Was also braucht es, um eine Reform tatsächlich zu beschließen und mit guten Ergebnissen umzusetzen? Sie muss jedenfalls von mehreren staatlichen Akteuren getragen und umgesetzt werden, und es braucht die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger. Es braucht ein gemeinsames Problemverständnis sowie gemeinsame Ziele betreffend Finanzierung, Qualitätsstandards und eine verbesserte institutionelle Steuerung. Und last, but not least auch die Bereitschaft zu nachhaltigen Lösungen und einen gemeinsamen Public Value, nämlich die gegenwärtige und künftige Bindung der Menschen an eine Gemeinschaft. Dies ist bisher den Mehrheitsparteien und der jeweiligen Opposition, den Regierungen und den Parlamenten auf den drei staatlichen Ebenen kein vorrangiges Ziel gewesen. Für die jetzige Übergangsregierung wäre es eine Chance, erste Schritte zu einer verbesserten Mehr-Ebenen-Steuerung im föderalen Staat zu setzen. Schließlich verfügt sie über viel Expertise und möchte auch das gestörte Vertrauen in kompetentes politisches Handeln wiederherstellen.

 

Näheres zur Governance-Perspektive in Reformprozessen findet sich in unserer kürzlich erschienenen Publikation „Governance-Perspektiven in Österreichs Bundesstaat“. Ebenfalls weiterführend ist die für die AK Wien erstellte Studie „Leistungs- und wirkungsbezogene Pflichtschulfinanzierung“ und das für den Österreichischen Städtetag 2019 ausgearbeitete Diskussionspapier „Pflegereform – ein lösbares Vorhaben für Bund, Länder und Gemeinden?“.