Seit Beginn der Krise 2008 wird in Europa eine intensive Diskussion geführt, in der offizielle politische Prioritäten in Frage gestellt werden. Organisationen der Zivilgesellschaft wie Gewerkschaften, Denkfabriken und Basisbewegungen fordern ein alternatives europäisches Projekt ein. Zentrale Themen sind u.a. die Beendigung der Austeritätspolitik, die Wiederherstellung des allgemeinen Wohlstandes, eine Reform der EU-Institutionen, der Abbau von Ungleichheit sowie eine nachhaltige Umweltpolitik. Während er bei den Forderungen große Übereinstimmungen findet, unterscheiden sich die Ansätze und Taktiken: Zwar tritt die große Mehrheit zivilgesellschaftlicher Organisationen weiterhin für eine progressive Reform Europas ein, doch gewinnt der Wunsch nach einer Umkehrung der europäischen Integration bzw. die Rückkehr zu nationalen Prioritäten an Gewicht.
Verschiedene Ansätze führen zu unterschiedliche Taktiken
Gerade in Bezug auf das europäische Projekt sind widersprüchliche Antworten auf die Krise formuliert worden. Ein erster Ansatz folgt dem traditionellen föderalistischen Argument, dem zufolge eine breitere europäische Integration einen Ausweg bietet. Das Ziel ist eine demokratische Föderation von BürgerInnen, die im Gegensatz zum autoritären oder „exekutivem“ Föderalismus steht, den europäische Eliten aktuell verfolgen. Progressive BefürworterInnen der Integration sind sich relativ einig darüber, dass Demokratie auf einem deutlich gestärkten Europäischen Parlament beruhen sollte. Diskutiert wurde auch die Schaffung einer eigenständigen parlamentarischen Kammer für die Eurozone, die mehrere Mitglieder der nationalen Parlamente umfasst, oder die Aufwertung zB der Europäischen Kommission durch eineN direkt gewählteN PräsidentIn.
Dem steht ein anderer Ansatz gegenüber, der für eine Umkehrung der europäischen Integration plädiert und die Wichtigkeit nationaler politischer Autorität und Politikprozesse in mehreren Bereichen betont: Das umfasst Forderungen nach einer größeren Fiskalautonomie nationaler Regierungen entgegen europäischen Budgetregeln und andere ,unbotsmäßige‘ Verhaltensmaßnahmen zum Schutz nationaler Wohlfahrtsstaaten, Fiskalregeln und Produktionstätigkeiten. Die Konsequenz daraus ist der Aufruf zu einem schrittweisen Austritt aus dem Euro oder „Lexit“. In den vergangenen eineinhalb Jahren wurden zudem europaweit mehrere „Plan B“-Konferenzen organisiert, um Alternativen zum Eurosystem zu diskutieren (die letzte fand in Kopenhagen vom 19./20. November statt).
Mit dem britischen „Yes“ zum Brexit ist die Umkehrung der europäischen Integration Realität geworden. Der Ausgang des Referendums, das eine Krise mit höchst ungewissen Folgen hervorgerufen hat, resultierte hauptsächlich aus dem Unvermögen nationaler und europäischer Politik, angemessen auf die Krise zu reagieren. Europa wurde dadurch unpopulärer denn je, wie Eurobarometerumfragen zeigen. Mehrere bedeutende pro-europäische Intellektuelle – unter ihnen Joseph Stiglitz und Paul De Grauwe – gehen deswegen davon aus, dass eine progressive Reform der Eurozone noch nie so unrealistisch war wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Ein dritter Ansatz zur Demokratisierung Europas konzentriert sich auf das Projekt Europa jenseits des Neoliberalismus. Das Argument lautet hier, dass die meisten Probleme als Folge des neoliberalen Paradigmas zu verstehen sind, das Europäische Institutionen verfolgen. Deswegen müsse die Demokratisierung des europäischen Beschlussfassungsprozesses mit folgenden Veränderungen einhergehen: Eine Machtbeschränkung der Finanz- und technokratischen Körper (einschließlich der EZB), eine klare Abgrenzung vom „Drehtüren“-System zwischen Wirtschaft und Europapolitik, eine Überwindung der Austerität, die Verringerung der Ungleichheit, der Ausbau des Schutzes von sozialen Rechten und eine Stärkung der Gewerkschaften. Dieser Ansatz wird von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen vertreten, von der EuroMemo Group zum Transnational Institute, von Sbilanciamoci! in Italien zu Les Economistes Atterrés in Frankreich, von ATTAC bis hin zu zahlreichen Arbeitsorganisationen. Eine neue Entwicklung in diesem Bereich war die Schaffung von Yanis Varoufakis’ Bewegung „DiEM25“ (Demokratie in Europa 2025), die sich auf die Frage der Demokratie in einem integrierten Europa konzentriert.
Die Zivilgesellschaft warnte seit 2010 vor den Konsequenzen der Austerität …
Die Reichweite und Tiefe der verschiedenen Analysen und Vorschläge, die von der europäischen Zivilgesellschaft in den letzten Jahren formuliert worden sind, ist tatsächlich bemerkenswert. So haben sich etwa Prognosen über den Einfluss der Krisen- und Sparpolitik in Europa als erstaunlich präzise erwiesen. Rückblickend kann gesagt werden, dass kritische WissenschafterInnen und unterfinanzierte zivilgesellschaftliche Organisationen die (negativen) Auswirkungen zahlreicher europäischer wirtschaftspolitischer Maßnahmen wesentlich genauer vorausgesagt haben als die offiziellen Prognosen der Europäische Kommission, der EZB, des IWF und anderer Institutionen. Konkret haben verschiedene kritische und Nicht-Mainstream WissenschafterInnen und ÖkonomInnen bereits 2010 darauf hingewiesen, dass die Austerität eine weitere Rezession auslösen und den fragilen Wiederaufbau nach der Krise zerstören würde. Damit widersprachen sie Ideen einer „expansiven Austeritätspolitik“, denen zufolge Kürzungen das Wachstum nicht hemmen, sondern im Gegenteil ankurbeln würde – womit die zivilgesellschaftlichen Organisationen Recht behalten sollten.
Mainstreamorganisationen, Denkfabriken und Regierungsstellen teilen deswegen mittlerweile viele der Kritikpunkte, die von der Zivilgesellschaft in den vergangenen Jahren vorgebracht wurden.
Die bemerkenswerteste Anerkennung kam vonseiten des IWF, der mehrere Standardpolitikempfehlungen auf Basis seiner eigenen Forschung revidiert hat. In einer Zusammenfassung von Maßnahmenvorschlägen, die aus Studien über Fiskalausterität und Liberalisierung von Kapitalflüssen unter dem unerwarteten Titel „Neoliberalism: oversold?” abgeleitet sind, argumentieren IWF-Autoren, dass „die Vorteile mancher Maßnahmen, die in der neoliberalen Agenda eine wichtige Rolle spielen, teilweise übertrieben wurden“.
… bekam jedoch kaum Gehör geschenkt
Insgesamt kann jedoch nicht bestritten werden, dass die meisten Vorschläge der Zivilgesellschaft nur in geringem Maß – oder mit großer Verspätung – von politischen EntscheidungsträgerInnen aufgegriffen wurden, besonders in Europa. Warum? Die Gesellschaft wird sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene immer weniger in politische Entscheidungen einbezogen und weit verbreitete Sorgen nicht an Bord geholt.
Über die Zivilgesellschaft wiederum könnte argumentiert werden, dass ihre intellektuelle Vitalität durch ihre Schwäche – vor allem die Fragmentierung ihrer Organisationen und Kampagnen – eingeschränkt wird. Insbesondere die Finanzkrise 2007/8 und die darauffolgende politische Reaktion haben eine Europäisierung öffentlicher Diskurse und Mobilisierungen behindert, die für soziale Bewegungen und politische Organisationen – vor allem die Bewegung für globale Gerechtigkeit und Antiglobalisierung der späten 1990er und frühen 2000er – traditionell charakteristisch war.
Obwohl Rezessions- und Austeritätsmaßnahmen in den meisten EU-Ländern implementiert wurden, entwickelten sich die meisten Proteste dagegen innerhalb eines nationalen Kontexts und entlang autonomer Linien. Zu einer Koordinierung oder Entwicklung von Visionen über Grenzen hinweg kam es nur in geringem Ausmaß. Außerdem waren diese Proteste, wie Mario Pianta, Paolo Gerbaudo, Donatella della Porta und andere bemerkt haben, durch die „subterranean politics“ der Indignados und der Occupy-Bewegung geprägt. Damit ist eine Politik von BürgerInnen gemeint, die sich durch die bestehenden politischen Institutionen, einschließlich Parteien und Gewerkschaften, nicht repräsentiert fühlen. Das zeigen wiederkehrende Slogans wie „no me representan“ („Sie repräsentieren mich nicht“).
Materieller Zerfall geht mit politischem Zerfall einher
Als Europas Peripherie in eine langanhaltende, tiefe Depression rutschte und die steigende Macht und sinkende Legitimation der technokratischen EU-Institutionen immer offensichtlicher wurde, weitete sich die Kluft zwischen denjenigen, die für eine überstaatliche Lösung der Krise – eine progressive Reform Europas „von innen“ – plädierten und jenen, die eine Umkehrung der europäischen Integration vorschlugen. Aufstieg und Fall von SYRIZA können in diesem Zusammenhang als Wasserscheidenmoment betrachtet werden.
Ideologische Divergenzen, die Tendenz in Kampagnen auf einzelne Anliegen zu fokussieren sowie die Schwierigkeit, eine europäische Perspektive zu entwickeln, stellen dem Aufbau einer gemeinsamen Front für Veränderung offenbar größere Hindernisse in den Weg als jemals zuvor. Dabei war sie noch nie so wichtig wie jetzt. Eine Studie, die ich kürzlich im Rahmen des ISIGrowth-Projekts durchgeführt habe, könnte helfen, einen gemeinsamen Boden zu finden. Darin findet sich ein umfassender Überblick über aktuelle Ideen, Aktionen und Vorschläge der europäischen Zivilgesellschaft. Sie zeigt, dass zivilgesellschaftliche Perspektiven und Vorschläge zur Politik noch immer einen europaweiten Fokus aufweisen und die Ambition teilen, Europapolitik zu verändern – und nicht aus ihr ,auszusteigen‘.
Es kann allerdings nicht davon ausgegangen werden, dass dies auf unbestimmte Zeit so bleibt. Meinungsumfragen zeigen deutlich, dass das Vertrauen der EU-BürgerInnen in Europäische Institutionen im Vergleich zum Vorkrisenniveau drastisch gesunken ist. Wenn die Politik die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht stärker aufgreift, wird sich die Ernüchterung gegenüber Europa – und damit einhergehend der Wunsch, zu nationalen Prioritäten und Horizonten zurückzukehren – wahrscheinlich auch unter zivilgesellschaftlichen Organisationen ausbreiten.
Dieser Beitrag, der im Social Europe Journal erstveröffentlicht wurde, basiert auf einer deutlich ausführlicheren Studie „How can Europe Change“. Für diesen Blog wurde er leicht überarbeitet und von Katharina Maly übersetzt.