Die vier wichtigsten Gründe für den tendenziellen Fall der Lohnquote in Österreich

17. Dezember 2018

Der Lohnanteil am gesamtwirtschaftlichen Einkommen ist seit seinem Höhepunkt 1978 zunächst leicht, ab Mitte der 1990er-Jahre stark zurückgegangen, bevor er seit Beginn der Finanzkrise wieder stieg. Ausschlaggebend waren neben der konjunkturellen Entwicklung die Arbeitslosigkeit, Internationalisierung und Globalisierung sowie die Finanzkrise. Welche Schlussfolgerungen sind für die Verteilungspolitik zu ziehen?

Tendenzieller Fall der Lohnquote mit überraschender Wendung

Die Lohnquote stellt den Anteil der Löhne am gesamtwirtschaftlich erzielten Einkommen dar. Sie erreichte im Jahr 1978 ihren historischen Höchstwert mit 77,2 % des Nettoinlandsprodukts zu Faktorkosten (also dem BIP abzüglich Abschreibungen und Gütersteuern, plus Gütersubventionen). In den darauffolgenden vier Jahrzehnten ist sie um 9 Prozentpunkte gesunken und betrug 2017 noch 68,4 %. Spiegelbildlich ist der Anteil der Gewinn- und Vermögenseinkommen gestiegen.

Doch innerhalb dieser vier Jahrzehnte ergaben sich mehrere unterschiedliche Phasen mit recht unterschiedlichen Determinanten der Entwicklung der Lohnquote. Von Ende der 1970er-Jahre bis Mitte der 1990er-Jahre sank sie leicht; darauf folgte ein Einbruch bis zu Beginn der Finanzkrise; seit der Finanzkrise steigt sie merklich. Als die vier wichtigsten Bestimmungsgründe der Entwicklung der Lohnquote erwiesen sich: Der Konjunkturzyklus, die Höhe und Veränderung der Arbeitslosigkeit, Internationalisierung und Finanzialisierung sowie die Finanzkrise.

Lohnquote in Österreich © A&W Blog
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Antizyklischer Verlauf der Lohnquote

Das Jahr 1978 mit der bislang höchsten Lohnquote war ein Rezessionsjahr („Leistungsbilanzkrise“): Das reale BIP sank um 0,4 %, gleichzeitig gelang es der Bundesregierung, die Arbeitslosigkeit auf Vollbeschäftigungsniveau (2,1 % der unselbstständigen Erwerbspersonen) zu halten. In diesem Jahr zeigte sich die Bedeutung von zwei generell sehr wichtigen Determinanten der Lohnquote.

Zunächst unterliegt die Lohnquote konjunkturellen Schwankungen: In der Rezession brechen Produktivität und Gewinne ein, während die kollektivvertragsbestimmten Lohneinkommen erst mit Verzögerung reagieren. Deshalb steigt die Lohnquote. Dies ist 1978 und 1981 ebenso sichtbar wie 1992/93 und war in der tiefen Rezession 2008/09 besonders ausgeprägt. In der Hochkonjunktur hingegen wachsen die Gewinne kräftig, während der Anstieg der Löhne zurückbleibt, die Lohnquote sinkt.

Anstieg der Arbeitslosigkeit verringert Lohnanteil

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit verringert direkt den Lohnanteil am Nettoinlandsprodukt, weil Arbeitslose kein Arbeitseinkommen mehr beziehen, sondern Sozialtransfers. Dazu kommen zwei noch wichtigere indirekte Wirkungen: Arbeitslosigkeit verringert in der Regel die Macht der Gewerkschaften in den Kollektivvertragsverhandlungen, was eine volle Ausschöpfung des Produktivitätsspielraums verhindert, und erleichtert die Prekarisierung der Arbeitsmärkte durch unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung, Jobunterbrechungen u. a., die die Lohnentwicklung dämpfen (Gerhartinger et al 2018). Der Anstieg der Arbeitslosigkeit prägte die Entwicklung der Lohnquote in den 1980er- und 1990er-Jahren: Die Arbeitslosenquote stieg vom Vollbeschäftigungsniveau von 2,4 % der unselbstständigen Erwerbspersonen (1981) auf 5,6 % (1987), bzw. von 5 % (1989) auf 7,2 % (1998). In diesem Zeitraum hat ein Anstieg der Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt eine Verringerung der Lohnquote um gut einen Prozentpunkt ausgelöst (Marterbauer, Walterskirchen 2003).

Verfall der Lohnquote durch Internationalisierung und Finanzialisierung

Die tiefgreifende Integration der österreichischen Wirtschaft in den internationalen Handel kam in den letzten Jahrzehnten im starken Anstieg des Exports an der Gesamtnachfrage und den Direktinvestitionen in und aus dem Ausland ebenso zum Ausdruck wie in der Teilnahme an vielen institutionellen Integrationsschritten, allen voran der Ostöffnung seit Beginn der 1990er-Jahre, dem EU-Beitritt 1995 und der Teilnahme an der Währungsunion 1999. Sie war wirtschaftlich etwa in Bezug auf Strukturwandel und Produktivitätsanstieg sehr erfolgreich, auch aufgrund der hilfreichen Rahmenbedingungen seitens des Sozialstaates, aktiver Beschäftigungspolitik und kollektivvertraglicher Lohnpolitik. Dennoch hat das Zusammenspiel aus technischem Fortschritt und Internationalisierung zum Rückgang der Lohnquote beigetragen, indem es einen Anstieg der Kapitalintensität der Produktion und eine Verstärkung der Marktkonzentration mit sich brachte (Altzinger, Humer, Moser, Sozialbericht 2015-2016). Die konkrete politische Ausgestaltung der Internationalisierung wie der europäischen Integration folgte meist neoliberalen Vorstellungen, was eine Wirtschaftspolitik zulasten der ArbeitnehmerInnen mit sich brachte (Editorial Wirtschaft und Gesellschaft 2018). Dies gilt im besonderen Ausmaß für die weltweite Liberalisierung der Finanzmärkte: Sie brachte eine enorme Intensivierung der finanzwirtschaftlichen Aktivitäten, eine Aufblähung des Finanzsektors und eine markante Ausweitung der Ansprüche des stark konzentrierten Finanzkapitals an das gesamtwirtschaftlich erzielte Einkommen.

Von Mitte der 1990er-Jahre bis zur Finanzkrise ab 2007 prägten zwei Entwicklungen den Verlauf der Lohnquote: Die Abkehr von einer primär beschäftigungsorientierten nationalstaatlichen Wirtschaftspolitik zugunsten des Beitritts zur wettbewerbsorientierten EU sowie ein enormer Vermögensboom im Zuge der Finanzmarktliberalisierung, der zu einem exorbitanten Anstieg der Einkommen aus Vermögensbesitz beitrug. Die Lohnquote sank innerhalb von nur 13 Jahren von 73 % auf 63 % des Nettoinlandsprodukts).

Anstieg in der Finanzkrise

Auf das Jahrzehnt mit dem stärksten Rückgang folgte ein Jahrzehnt mit einem unerwarteten Anstieg der Lohnquote im Zuge der weltweiten Finanzkrise. Dies war kurzfristig das Ergebnis der schweren Rezession: Das reale BIP sank 2009 um 4,8 %, das war der stärkste Rückgang von Produktion und Nachfrage seit 1945. Nettobetriebsüberschuss und Selbstständigeneinkommen brachen 2009 um 11,7 % gegenüber dem Vorjahr ein; dem standen Lohnabschlüsse gegenüber, die im Herbst 2008 auch aufgrund der hohen Inflationsrate des Vorjahres relativ hoch ausfielen (Tariflohnindex +3,4 %, unselbstständige Beschäftigung -0,7 %). Dazu kam mit Verzögerung der Einbruch der Vermögenseinkommen, der zunächst die Dividenden, im Zuge der unkonventionellen Geldpolitik der EZB dann vor allem die Zinseinkommen betraf. Die Lohnquote erhöhte sich 2009 kräftig um 3 Prozentpunkte auf 67,4 %. In den Folgejahren glichen einander widerstreitende Kräfte auf die Lohnquote aus: Flaue Konjunktur und niedrige Zinsen trafen auf steigende Arbeitslosigkeit. Der Konjunkturaufschwung ab 2015 führte bis 2017 nach ersten (möglicherweise zu vorsichtigen) Rechnungen nur zu einem verhaltenen Rückgang der Lohnquote, der sich 2018 fortgesetzt haben dürfte. Die hohen Lohnabschlüsse für 2019 lassen zusammen mit der Abschwächung der Raten des Wirtschaftswachstums einen Anstieg im Jahr 2019 erwarten.

Diesen markanten Anstieg und die darauffolgende Stabilität der Lohnquote in der Finanzkrise teilt Österreich mit Deutschland, Frankreich, Italien und nordeuropäischen Ländern. In einigen noch stärker von der Finanzkrise betroffenen Ländern und institutionell weniger gefestigten Ländern wie etwa Spanien sank die Lohnquote unter anderem aufgrund des drastischen Anstiegs der Arbeitslosigkeit und der Zerschlagung von Lohnverhandlungsstrukturen und Sozialstaat markant.

Lohnquote ein sinnvolles Maß?

Die Lohnquote misst den Anteil der Einkommen unselbstständig Erwerbstätiger am Nettoinlandsprodukt. Sie bildet damit nicht exakt die saloppe Trennung zwischen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen ab. Denn auch selbstständig Erwerbstätige leisten Arbeit und beziehen sowohl Arbeits- als auch Kapitaleinkommen, doch die beiden Komponenten des Einkommens sind empirisch schwierig zu trennen.

Relevant ist auch, dass viele bislang unselbstständig erfolgte Tätigkeiten im Zuge der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte in selbstständige Erwerbstätigkeit umgewandelt wurden. Das betrifft Scheinselbstständigkeit und darunter auch viele Ein-Personen-Unternehmen. Damit wird die Lohnquote unterschätzt. Allerdings handelt es sich dabei meist um recht geringe Einkommen, was diese Unterschätzung gering ausfallen lässt (Altzinger, Humer, Moser, Sozialbericht 2015-6). Umgekehrt fallen an der Spitze der Lohneinkommen Einkommen an, die ökonomisch eher als Kapitaleinkommen zu werten wären. Das spielt in den USA und anderen angelsächsischen Ländern eine herausragende Rolle, wo der Anteil der Einkommen von CEOs und anderen Top-LohneinkommensbezieherInnen seit den 1980er-Jahren drastisch gestiegen ist. In Österreich bezog das oberste Prozent der LohneinkommensbezieherInnen 2017 6,8 % aller Lohneinkommen.

Oft wird gegen die Lohnquote eingewandt, dass in reichen Gesellschaften unselbstständig Erwerbstätige auch Kapitaleinkommen beziehen und eine reine Betrachtung der erzielten Arbeitseinkommen die ökonomische Situation nicht ausreichend würdigt. Dies ist generell eine Frage für die Analyse der personellen Einkommensverteilung. Doch empirische Untersuchungen auf Basis des Household Finance and Consumption Survey kommen zum Schluss, dass Kapitaleinkommen außerordentlich stark auf das oberste Prozent der Haushalte konzentriert sind: Kapitaleinkommen machen für 95 % der Haushalte im Durchschnitt 3,2 % des Haushaltseinkommens aus, beim obersten Prozent beträgt dieser Anteil hingegen 32,5 % (Humer, Moser, Schnetzer, Ertl, Kilic, Wirtschaft und Gesellschaft 2013).

In der Berechnung der Lohnquote können Verschiebungen zwischen der Zahl der unselbstständig und der selbstständig Erwerbstätigen berücksichtigt werden. In diesem Fall wird eine bereinigte Lohnquote ausgewiesen (Chaloupek, Russinger, Zuckerstätter, WuG 2008). Dies war vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren relevant, als sich die Beschäftigung markant von der Landwirtschaft in die Industrie verlagerte und primär aus diesem Grund die unbereinigte Lohnquote kräftig anstieg. Seit Ende der 1970er-Jahre hat dies geringe Bedeutung, zuletzt kam es durch Scheinselbstständigkeit und andere Phänomene zu einer Verschiebung in die andere Richtung.

Die Nettolohnquote berücksichtigt Verschiebungen in der Abgabenlast zulasten der unselbstständig und zugunsten der selbstständig Erwerbstätigen. Dies hatte zur Folge, dass die Nettolohnquote stärker zurückging als die Bruttolohnquote (Glocker, Horvath, Mayrhuber, Sozialbericht 2011-12).

Der Lohnanteil kann in Relation zum Nettoinlandsprodukt dargestellt werden oder in Relation zum Nettonationaleinkommen. Der Unterschied in der Höhe der Lohnquote liegt im Zehntelbereich (2017: 68,4 % gegenüber 68,6 %), er liegt in der Berücksichtigung von Arbeitseinkommen, die an „das Ausland“ gehen oder aus dem Ausland kommen. Die hier verwendete Lohnquote gemessen am Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten stellt alle Arbeitseinkommen, die in Österreich erzielt werden, in Relation zum gesamtwirtschaftlichen Einkommen dar.

Wünschenswerte Höhe der Lohnquote?

Es existiert kein ökonomisch „richtiges“ Niveau der Lohnquote, es gibt allerdings gute wirtschafts- und verteilungspolitische Gründe, einem Anstieg der Lohnquote das Wort zu reden. Wie bei allen Verteilungsfragen ist die Frage, ob die Höhe der Lohnquote angemessen ist, politisch umstritten. Im Rahmen der Konsensorientierung der österreichischen Sozialpartnerschaft wurde eine stabile Lohnquote als Kernelement der kollektivvertraglichen Lohnpolitik akkordiert. Darauf bezog sich auch die sogenannte „Benya-Formel“, die eine Lohnleitlinie darstellt. Steigen die Nominallöhne im Ausmaß der Inflation plus des (mittelfristigen) gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstums, dann verändert sich das Verhältnis von Arbeitseinkommen zu Kapitaleinkommen über den Konjunkturzyklus betrachtet nicht. Dies impliziert, dass der Anstieg der Löhne auf die Kosten der Unternehmen und damit die Exportnachfrage im gleichen Maß Rücksicht nimmt wie auf die Einkommen der Beschäftigten und damit die Konsumnachfrage.

Die Lohnquote ist in den letzten vier Jahrzehnten markant zurückgegangen, damit hat sich die Einkommensverteilung zulasten der unselbstständig Erwerbstätigen verschoben. Diese Abweichung von der „Benya-Formel“ war überwiegend das Ergebnis steigender Arbeitslosigkeit (die die Verhandlungsmacht bei Kollektivverträgen beeinflusst) und des Anstiegs der Vermögenseinkommen (über die im Rahmen der Kollektivverträge nicht verhandelt wird). In den letzten 20 Jahren wies zudem der Export besonders kräftiges Wachstum auf, während die Konsumnachfrage nur verhalten stieg, was auch in einem strukturellen Überschuss der Leistungsbilanz zum Ausdruck kommt. Deshalb könnte aus makroökonomischen Gründen und um einen Beitrag zur Verbesserung der Einkommensverteilung zu leisten, mittelfristig ein Anstieg der Lohnquote angestrebt werden.

Aus den Überlegungen zu den Ursachen des Rückgangs ergeben sich vier Maßnahmen, um einen Anstieg der Lohnquote zu erreichen:

  • Vollbeschäftigung und starken Sozialstaat als zentrale Ziele der Wirtschaftspolitik verankern: Leichte allgemeine Arbeitskräfteknappheit und soziale Sicherheit verschieben die Machtverhältnisse zugunsten der arbeitenden Bevölkerung und stärken ihre Ansprüche an das Inlandsprodukt.
  • Kollektivvertragliche Lohnpolitik: Ermöglicht eine solidarische Lohnpolitik über Branchen hinweg und dient als makroökonomisches Steuerungsinstrument zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele.
  • Aktive wirtschafts- und sozialpolitische Gestaltung der Globalisierung: Internationaler Handel auf Basis einer starken Absicherung von Arbeits-und Sozialstandards, fairen Austauschs zwischen Industrie- und in Entwicklung befindlichen Ländern sowie gerechter Verteilung der Globalisierungsgewinne kann einen Beitrag zu weltweitem Wohlstand schaffen.
  • Eindämmung der Finanzmärkte und Zurückdrängung der Finanzeinkommensansprüche: Ein höherer Anteil der Arbeitseinkommen am Inlandsprodukt kann primär bei einer Verringerung des Anteils der Finanzeinkommen erreicht werden. Das verlangt nach strikter Regulierung und Besteuerung des Finanzsektors.

Zusätzlich zum wirtschaftspolitischen Ziel, mittelfristig wieder einen Anstieg der Lohnquote zu erreichen, soll verstärkt über kollektive Formen der Kapitalbeteiligung nachgedacht werden. Sie würden für die arbeitende Bevölkerung einen Anteil an Kapitalbestand und den Kapitalerträgen ermöglichen.