Die Diskussion über die Ausweitung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeitgrenzen und des Durchrechnungszeitraums macht deutlich, dass es nicht nur um die reine Verlängerung von Arbeitszeit geht. Wesentlich ist nämlich auch, inwieweit die Beschäftigten Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeitszeit haben. Um Gesundheit und gesellschaftliche Verträglichkeit der Erwerbsarbeitszeiten mit Flexibilisierungstendenzen in Einklang zu bringen, braucht es ein neues arbeitszeitpolitisches Leitbild: die gesunde Vollzeit.
Angeregt durch eine von der Regierung gesetzten Deadline Mitte des Jahres für die Einigung der Sozialpartner über die weitere Arbeitszeitflexibilisierung in Österreich sind wir nun wieder mit der zeitpolitischen Frage konfrontiert, wie wir das Wechselspiel von Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit im Lande gestalten bzw. regeln wollen. Konfrontiert mit einer von Seiten der Wirtschaft wahrgenommenen steigenden Notwendigkeit flexiblerer Arbeitszeiten gehe es heute darum, die Grenzen der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeit sowie den Durchrechnungszeitraum für einen Zeitausgleich auszuweiten. Diese Forderung betrifft die Arbeitsbedingungen hunderttausender (im Falle der Gleitzeit) bzw. sogar von Millionen von unselbständig Beschäftigten (im Falle einer allgemeinen Ausweitung) und auch auf alle mit diesen Beschäftigten verbundenen Lebensbereiche (insb. Familie, Pflege, Freiwilliges Engagement). Deshalb gilt es dringend, zwei Fragen zu beantworten, welche die Eckpunkte der weiteren arbeitszeitpolitischen Entwicklung in Österreich betreffen: Auf welchen Annahmen basiert diese Forderung und mit welchen arbeitszeitpolitischen Herausforderungen sind diese verbunden? Die Antwort auf diese beiden Fragen ist von zentraler Bedeutung für die weiteren arbeitszeitpolitischen Weichenstellungen in Österreich.
Zwei Facetten der aktuellen Flexibilisierungsdebatte in Österreich
Während durchaus die eine oder andere Stimme aus dem ArbeitgeberInnenbereich wahrgenommen werden kann, die eine umfassende Ausweitung der Arbeitszeitgrenzen in allen Branchen fordert, fokussiert die aktuelle Debatte aber doch stärker auf die Ausweitung der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeiten bei der Gleitzeit. Es soll zuvorderst darum gehen, dass Gleitzeit-Beschäftigte ohne besondere Ausnahmeregelungen bis zu zwölf Stunden am Tag arbeiten dürfen sollen. Auf ArbeitgeberInnenseite werden in der Regel die verschärfte internationale Wettbewerbssituation sowie die schwierigere Planbarkeit der Auftragsentwicklung und der daraus abgeleitete teils stark schwankende Arbeitskräftebedarf als Argumente für die Notwendigkeit flexiblerer Arbeitsverhältnisse vorgebracht. Zudem würden sich die Beschäftigten ein „Zeitpolster“ und mehr Möglichkeiten von „Zeitsouveränität“ wünschen und viele Beschäftigte seien einfach jung und wollten „etwas schaffen“. Allgemein scheint in der öffentlichen Debatte die Einführung von flexiblen Entscheidungsspielräumen in der Arbeitszeitgestaltung für ArbeitnehmerInnen mit großen gesellschaftlichen Hoffnungen verbunden zu sein. So geht auch die Europäische Kommission in einer offiziellen Mitteilung zur Überarbeitung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie davon aus, dass für die „heutigen stärker diversifizierten Arbeitskräften in der EU […] eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung den Beschäftigten mehr Möglichkeiten geben [kann], ihre Arbeitszeit an ihre persönlichen Bedürfnisse anzupassen“. Auf ArbeitnehmerInnenseite zeichnet sich auch immer wieder ab, dass mit flexiblen Arbeitszeiten zumindest auch Hoffnungen einer verbesserten Vereinbarkeit von privaten und beruflichen Angelegenheiten verbunden werden, auch wenn derzeit aktuell die Sorge um Einkommensverluste durch die Ausweitung der Höchstarbeitszeiten und des Durchrechnungszeitraumes im Vordergrund steht.
Wir sehen also deutlich zwei Facetten der aktuellen arbeitszeitpolitischen Debatte: Es geht nicht nur um die Frage längerer täglicher und wöchentlicher Arbeitszeiten, sondern ganz wesentlich darum, inwieweit die Beschäftigten über Einflussmöglichkeiten bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeiten verfügen. Wir können heute aber nicht einfach davon ausgehen, dass einerseits selbstbestimmte Arbeitszeiten einfach über formale Arbeitszeitmodelle wie jenes der Gleitzeit breitenwirksam eingeführt werden können und andererseits dass damit keine besonderen Risiken für die Beschäftigten und deren sozialem Umfeld verbunden wären. Ich werde deshalb im Nachfolgenden die besonderen arbeitszeitpolitischen Herausforderungen darstellen, die mit flexiblen und selbstbestimmten Arbeitszeiten verbunden sind.
Arbeitszeitpolitische Herausforderungen flexibler und selbstbestimmter Arbeitszeiten
Die neuen Möglichkeiten flexibler Arbeitszeiten, die mittlerweile mit verschiedenen flexiblen Arbeitszeitmodellen, insbesondere der Gleitzeit, eingeführt wurden, werden heute von einem wesentlich breiteren Prozess der zeitlichen Entgrenzung der Arbeit begleitet. Entgrenzung hängt stark mit der Verbreitung von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zusammen. E-Mail, Mobiltelefone und andere Möglichkeiten, über das Internet berufliche Tätigkeiten zu verrichten, lösen die Arbeit vom lokalen Arbeitsplatz im Betrieb ab und lassen sie entsprechend in Zeiten und Orte vordringen, die ehemals privaten Aktivitäten vorbehalten waren. Im Falle der Vertrauensarbeitszeit, die in Österreich an und für sich nur für leitende Angestellte vorgesehen ist, aber auch bereits von nicht-leitenden Angestellten mithilfe teils informeller Arbeitszeitaufzeichnungspraktiken gelebt wird (z.B. im Rahmen von so genannten All-In-Verträgen), greifen die Begrenzungsvorgaben des Arbeitszeit- und Arbeitsruhegesetzes praktisch nicht mehr. Zudem haben wir es schon länger mit einem weitgehenden Bedeutungsrückgang ehemals geschützter Auszeiten zu tun (z.B. Wochenende, Feiertage oder Feierabend). Flexiblen Arbeitszeitmodellen hängt dabei der Verdacht an, insbesondere längere Arbeitszeiten unkomplizierter zu ermöglichen.
Diese Entgrenzung der Arbeitszeiten ist vordergründig als kultureller Wandel zu sehen. Wann, wie lange und wie häufig wir arbeiten, ist weniger eine Frage des tatsächlich angemessenen Arbeitsaufwandes, sondern hängt vielmehr davon ab, wie wir es in gewissen organisatorischen und betrieblichen Umgebungen gewohnt sind zu arbeiten (bzw. im Betrieb anwesend zu sein). So ist beispielsweise bekannt, dass Beschäftigte oftmals auch deshalb länger im Betrieb verbleiben, weil sie glauben dass sie nur damit eine ausreichende Arbeitsbereitschaft demonstrieren („Präsentismus“). Aus diesem Grund hat gerade die tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeit einen hohen Stellwert. Eine telefonische Unternehmensbefragung in der Steiermark hat ergeben, dass bereits mit den aktuellen arbeitszeitgesetzlichen Begrenzungen mehr als die Hälfte der Unternehmen berichten, dass es für sie eine Herausforderung darstellt, Zeitausgleichsansprüche auszugleichen und Urlaubstage zu verbrauchen. Aus diesem Grund stellt sich auch die Frage, ob die Beschäftigten überhaupt Gelegenheit bekommen, einen Zeitausgleich herzustellen. Zudem wissen wir heute, dass das Unfallrisiko und die Arbeitsbelastung durch verlängerte Arbeitszeiten steigen und die nachhaltige Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Beschäftigten gefährdet werden. Aber auch betriebswirtschaftlich gesehen sind Ausdehnungen der Arbeitszeit und auch verhinderte Verkürzungen unvorteilhaft, da diese in Form einer „Überstundensucht“ und dysfunktionalen Umgangsweisen von Vorgesetzten langfristig Nachteile bringen können. Wenn die Höchstarbeitszeiten also ausgeweitet werden, ist anzunehmen, dass diese Risiken steigen werden (und damit auch das Risiko für Arbeitsunfähigkeit in höherem Alter und damit Altersarbeitslosigkeit).
Die Entgrenzung der Arbeitszeiten – und in erster Linie läuft darauf die aktuelle Forderung in der arbeitszeitpolitischen Debatte darauf hinaus – ist also nicht nur eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit im Sinne optimierter Personalkosten, sondern läuft auch auf erhöhte gesellschaftliche Kosten hinaus: in Form höherer Risiken für Arbeitslosigkeit und für das Gesundheitssystem infolge zunehmender Arbeitsbelastung sowie auch in Form negativer Konsequenzen für zentrale gesellschaftliche Teilbereiche, für die aufgrund der Ausweitung der Erwerbsarbeitszeiten weniger Zeit übrig bleibt (Familie/Kinderbetreuung, Pflege, Freiwilliges Engagement). Die Kostenrechnung für die weitere arbeitszeitpolitische Weichenstellung in Österreich muss also transparent nicht nur betriebliche sondern auch gesellschaftliche Kosten berücksichtigen.
Arbeitszeit: kein individuelles sondern ein soziokulturelles Problem
Welche Rolle spielt nun konkreter die Selbstbestimmung der Arbeitszeiten? Um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst darauf eingegangen werden, dass die Gestaltung der Arbeitszeiten vordergründig als soziokulturelles Problem behandelt werden müsste, während es heute zu sehr als individuelles Problem aufgefasst wird. Das liegt meines Erachtens daran, dass heute ehemals wirkungsmächtigere Diskurse wie jener des ArbeitnehmerInnenschutzes, der die Bedeutung von Höchstarbeits- sowie Erholungszeiten und damit Arbeitszeitbegrenzung betont, immer stärker von jenen verdrängt werden, die den (erwerbstätigen) Menschen als kreatives und innovatives unternehmerisches Selbst betrachten und ihm die alleinige Verantwortung über die Lösung alltäglicher Zeitprobleme übertragen wollen. Die Forderung und Förderung eines effizienteren individuellen Zeitmanagements – wie sie im Zuge von betrieblichen „Work-Life-Balance“-Maßnahmen häufig in den Vordergrund rücken – wird aber die Probleme der Entgrenzung der Arbeitszeiten nicht einfangen können. Zu sehr hängt die Arbeitszeitgestaltung von den gesellschaftlichen und betrieblichen Rahmenbedingungen ab, als dass individuelle Bemühungen der Beschäftigten eine Eingrenzung des Problems breitenwirksam ermöglichen könnten.
Welche Rolle spielt nun „Zeitsouveränität“ für die Arbeitszeitgestaltung der Beschäftigten? Eine Studie zur Arbeitszeitgestaltung im öffentlichen und öffentlichkeitsnahen Sektor mit ca. 1.250 befragten Beschäftigten hat ergeben, dass Arbeitszeitverlängerung vor Allem dann auftritt, wenn die Arbeitszeiten als eher fremdbestimmt wahrgenommen werden. Beschäftigte, die angaben, stärkere Einflussmöglichkeiten auf ihre Arbeitszeiten zu haben, wiesen keine überdurchschnittliche Neigung zu verlängerten Arbeitszeiten auf. Fremdbestimmte Arbeitszeiten treten zudem dann seltener auf, wenn die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten gut mit KollegInnen und Vorgesetzten absprechen können. Unter diesen Bedingungen könnte die Förderung selbstbestimmter Arbeitszeiten tatsächlich zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen beitragen.
Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die Einführung von Gleitzeitmodellen alleine nicht ausreicht, um Selbstbestimmungsmöglichkeiten für die Beschäftigten breitenwirksam herzustellen und mögliche Risiken entgrenzter Arbeitszeiten zu minimieren. So weist Österreich hinsichtlich flexibler Arbeitszeitmodelle einen relativ hohen Verbreitungsgrad auf, während die tatsächlichen Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Beschäftigten verhältnismäßig schwächer ausgeprägt sind. Diese statistische Diskrepanz unterstützt wiederum den Befund, dass nicht nur der Einsatz formal-rechtlicher Arbeitszeitmodelle für die Arbeitszeitgestaltung der Beschäftigten sondern ebenso die Problematik der Arbeitszeitkultur von maßgeblicher Bedeutung ist. Wenn wir es aber schaffen, gewisse arbeitsrechtliche und -organisatorische Grundvoraussetzungen zu schaffen, kann die weitere Arbeitszeitflexibilisierung in Österreich einerseits neuen Anforderungen in der Arbeitswelt und andererseits auch selbstbestimmten und gesunden Arbeitsbedingungen gerecht werden.
Grundvoraussetzungen für flexiblere Arbeitszeiten
Nachdem kaum Rufe nach einer Rückkehr zu starren Arbeitszeitmodellen zu vernehmen sind, scheinen flexible Arbeitszeiten prinzipiell außer Streit zu stehen, wenn auch nicht die grundsätzliche Frage, wie weit eine Flexibilisierung gehen darf bzw. unter welchen Bedingungen eine solche möglich sein sollte. Einerseits zeichnet sich doch deutlich ab, dass es immer wieder Schwankungen im Arbeitszeitbedarf gibt – seien diese durch die Auftragslage oder durch Wünsche der Beschäftigten hervorgerufen –, andererseits wissen wir, dass überlange Arbeitszeiten über längere Zeiträume hinweg diverse ernsthafte Risiken für die Beschäftigten und auch für die Gesellschaft als Ganzes bedeuten. Wie könnte entsprechend eine Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen in Österreich infolge einer weiteren Flexibilisierung der Arbeitszeiten vermieden werden?
Aus den oben skizzierten arbeitszeitpolitischen Herausforderungen lassen sich folgende Grundvoraussetzungen für flexiblere Arbeitszeiten in Unternehmen und Organisationen ableiten:
- Die Arbeitszeiten müssen tatsächlich Selbstbestimmungsmöglichkeiten beinhalten, was in regelmäßigen Abständen mittels wissenschaftlicher Arbeitszeitbefragungen kontrolliert werden muss.
- All-in-Verträge und Überstundenpauschalen müssen – soweit sie nicht tatsächliche Führungskräfte betreffen – von den erhöhten Arbeitszeitgrenzen ausgenommen werden, da diese ein besonderes Risiko für überlange Arbeitszeiten über längere Zeiträume aufweisen.
- Es muss eine ausreichend hohe Zahl von Zeitausgleichstagen ermöglicht werden (z.B. mehr als 10), da bei einer zu geringen Zahl der zeitgerechte Ausgleich von Mehr- und Überstunden kaum möglich ist.
- Es muss nachgewiesen werden, dass aktiv Maßnahmen gegen eine dauerhafte Entgrenzung der Arbeitszeiten umgesetzt werden (dies betrifft die Privatsphäre der Beschäftigten außerhalb der Arbeitszeiten und die Umgangsweisen mit und Erreichbarkeit durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien).
- Ab einer gewissen Höhe von Zeitausgleichsansprüchen müssen transparente, eindeutige und angemessene Regeln für die Ausbezahlung von Überstunden bestehen.
- Es muss einen Betriebsrat geben, der über die Einhaltung der Grundvoraussetzungen wacht sowie auch die Möglichkeit für das Arbeitsinspektorat, die Erfüllung der Grundvoraussetzungen zu prüfen.
Unternehmen und Organisationen sollten also die erweiterten Flexibilisierungsmöglichkeiten erst bekommen, wenn und solange diese Voraussetzungen erfüllt sind. Denn wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wären die Risiken erhöhter täglicher und wöchentlicher Höchstarbeitszeiten stark reduziert. Insgesamt geht es darum, sicherzustellen, dass wir in Österreich zwar auf der einen Seite auch „fortschrittliche“ Arbeitszeitregelungen anstreben aber auf der anderen Seite nie die langfristige Gesundheit der Beschäftigten und die möglichen breiten Folgen für die Gesellschaft aus den Augen verlieren.
Gesunde Vollzeit als neues arbeitszeitpolitisches Leitbild
Wenn wir die oben geschilderten arbeitszeitpolitischen Herausforderungen anerkennen, dann liegt es für die Zukunft nahe, der Gesundheit und gesellschaftlichen Verträglichkeit der Erwerbsarbeitszeiten bei etwaigen zukünftigen Flexibilisierungsmaßnahmen verstärkt Aufmerksamkeit zu widmen. Eine Möglichkeit dies zu tun, möchte ich in Form eines neuen arbeitszeitpolitischen Leitbildes aufzeigen: der gesunden Vollzeit. Gesunde Vollzeit bedeutet, dass wir vom traditionellen Bild der Vollzeitarbeit abgehen, und stattdessen 30 bis 35 Wochenstunden als neue Normalität anstreben. Dies würde nicht nur die Chancen für gesundheitsorientierte und auch geschlechtergerechter Arbeitszeiten erhöhen (da das derzeitige Vollzeitarbeitsmodell in Kombination mit geschlechtsspezifischen Berufsmodellen überhöhte Zeitanforderungen aufweist, weshalb Frauen verstärkt in die Teilzeit gedrängt werden und dadurch geringere gesellschaftliche Partizipationschancen und auch Risiken der Altersarmut ertragen müssen), sondern ließe auch leichter flexible Schwankungen im Arbeitszeitbedarf über eingeschränkte Zeiträume zu.
Bei der gesunden Vollzeit soll es zunächst aber nicht darum gehen, die immer wieder zu vernehmende Forderung nach einer generellen Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich zu wiederholen. Denn ganz abgesehen davon, ob eine solche massive politische Maßnahme sinnvoll wäre oder nicht, erscheint es mir aktuell naheliegender, arbeitszeitpolitische Weichenstellungen anzustreben, welche auch kurz- bis mittelfristig mit nicht ganz unrealistischen Maßnahmen eingeleitet werden können. Tatsächlich gibt es nämlich bereits heute eine große Zahl von Beschäftigten, welche ihre Arbeitszeiten gerne reduzieren würden, auch wenn dadurch Gehaltseinbußen entstehen.
Gerade weil wir die erhöhten Risiken überlanger Arbeitszeiten kennen, wäre es denkbar, in jenen Organisationen und Unternehmen, die sich mehrheitlich in staatlichem Eigentum befinden, erste Pilotversuche zur freiwilligen Arbeitszeitverkürzung zu starten. Etwa indem für jene, die dies wünschen, befristet die Arbeitszeit verkürzt wird und in diesem Zeitraum entsprechend neue Arbeitsplätze geschaffen werden. So könnte auch geprüft werden, ob die Beschäftigten mit der verkürzten Arbeitszeit und dem entsprechend gekürzten Gehalt aber auch mit der evtl. Unterstützung durch zusätzliche MitarbeiterInnen zufrieden sind oder wieder zurück zu längeren Arbeitszeiten wollen. Eine einvernehmliche Anpassung der Wochenarbeitszeit zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen mag zwar jetzt auch schon theoretisch möglich sein, doch weisen bisherige Erfahrungen mit den Arbeitszeitreduzierungsmöglichkeiten zugunsten der Kinderbetreuung darauf hin, dass aufgrund der Arbeitszeitkultur zusätzliche arbeitszeitpolitische Anstrengungen nötig sind, um den Beschäftigten auch tatsächlich mehr Einflussmöglichkeiten auf das Ausmaß und die Lage ihrer Arbeitszeiten zu geben.
Weiterführende Literatur
Bröckling, U., Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main (2007).
Gärtner, J. / Boonstra-Hörwein, K., Modelle flexibler Arbeitszeit aus betriebswirtschaftlicher Sicht, in Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht 2011(2a), S. 100-108.
Kratzer, N./Sauer, D., Entgrenzung von Arbeit. Konzept, Thesen, Befunde, in Gottschall/Voß (Hrsg): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, München und Mering (2005), S. 87-107.
Reckwitz, A., Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin (2013).
Rinderspacher, J. P., „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“, die soziale und kulturelle Bedeutung des Wochenendes, Bonn (2000).