„Die können alle nichts mehr”. Bildungspolitische Perspektiven auf den Arbeitskräftebedarf

09. Mai 2023

Die Debatte um die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften hat in diesem Jahr volle Fahrt aufgenommen. Berichte von Branchenvertreter:innen zeigen regelmäßig auf, wie schwierig es sei, derzeit offene Stellen – vor allem mit jungen Arbeitnehmer:innen –  zu besetzen. Behauptet wird: „Der Arbeitsmarkt ist leergefegt“. Ein weiteres Argument, das wiederholt von Unternehmen vorgebracht wird, ist, dass das Bildungsniveau – besonders der Lehrstellenbewerber:innen – in den letzten Jahren gesunken sei und die Jugendlichen nicht genügend Kompetenzen aus der Schule mitbringen, um in den Lehrberuf einzusteigen.

„Die Hypothese, der immer schlechter qualifizierten Schulabgänger:innen ist aber ebenso wenig zu halten, wie jene des leergefegten Arbeitsmarkts. Denn, in den letzten Jahren hat sich der Qualifizierungsgrad der Jugendlichen in Österreich durch die sogenannte Bildungsexpansion substanziell erhöht und die Zahl der frühen Schul- und Ausbildungsabgänger verringert. Zudem wird das Potential an qualifizierten Arbeitskräften, die bereits in Österreich leben, nicht vollständig ausgeschöpft. Aus den bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen und Statistiken lassen sich Wege ableiten, wie mit der anhaltend hohen Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften umgegangen werden kann.

1. Junge Menschen in die betriebliche Lehre bringen

Im Lehrlingswesen klagen Unternehmen oftmals über nicht genügend geeignete Bewerber:innen für Lehrstellen. Ein erster Blick auf die Zahlen des Lehrstellenmarkts scheint den Mangel zu bestätigen: 2022 standen 9.694 offenen Lehrstellen 6.279 Lehrstellensuchenden gegenüber. Doch offenbart eine langfristigere Perspektive, dass dieser Überschuss an offenen Lehrstellen ein neues Phänomen ist.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Erst seit 2021 übertrifft die Anzahl offener Lehrstellen jene der Lehrstellensuchenden. Die größte Nachfrage entfällt auf die Tourismus-Lehrberufe: Diese machen 25,1 % aller offenen Lehrstellen aus, obwohl nur 6,3 % aller Lehrlinge in Tourismus-Lehrberufen ausgebildet werden. In dieser Branche liegt das fehlende Interesse jedoch oftmals an den schlechten Arbeitsbedingungen.

Weiters werden in dieser Betrachtung die rund 6.000 Jugendlichen ausgeblendet, welche sich im Dezember 2022 in überbetrieblichen Ausbildungen befunden haben, weil sie keine Lehrstelle in einem Betrieb erhalten haben. Und nochmal 6.600 Jugendliche unter 19 Jahren waren zum selben Zeitpunkt in sonstigen AMS-Schulungsmaßnahmen. Werden auch diese als lehrstellensuchend hinzugezählt, so wird aus dem vermeintlichen Überhang an offenen Lehrstellen sehr schnell ein Mangel an ausreichenden betrieblichen Lehrstellen.

Die Daten zeigen also: Um die Nachfrage nach Lehrlingen zu decken, müssen die mehr als 12.000 Jugendlichen in überbetrieblichen bzw. Schulungsmaßnahmen verstärkt angesprochen und in die betriebliche Lehre überführt werden.

2. Grundkompetenzen sichern

Zentral ist, inwiefern das Schulsystem es schafft, die Grundkompetenzen jedes:jeder Schülers:in zu sichern, um sie für einen erfolgreichen Einstieg in den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Ergebnisse der PISA-Studie zeigen, dass rund jeder:jede fünfte Schüler:in im Alter von 15/16 Jahren die Grundkompetenzen in Lesen oder in Mathematik nicht erreicht und damit zur Risikogruppe zählt. Konkret betrug beispielsweise die Risikogruppe im Kompetenzbereich Lesen 20 % im Jahr 2000. Fast zwei Jahrzehnte später (2018) gehörten 23 % der Jugendlichen zur Lese-Risikogruppe. Im EU-Schnitt waren es 24 %. Auch die seit 2012 durchgeführten nationalen Bildungsstandarderhebungen (BIST) zeigen in Summe für die österreichische Sekundarstufe eine konstante Zahl an Risikoschüler:innen (17 %). Anders formuliert: Das Bildungsniveau der Jugendlichen ist in den letzten Jahren nicht gesunken. Richtig ist hingegen, dass es für den weiteren Bildungserfolg und das Erwerbsleben dieser Schüler:innen notwendig ist, einen stärkeren Fokus auf das Erreichen der Grundkompetenzen zu legen.

Notwendig ist, im Schulsystem die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um jeden:jede Schüler:in mit ausreichenden Grundkompetenzen in Lesen/Mathematik auszustatten. Nur so können diese langfristig in den Arbeitsmarkt integriert werden.

3. Absolvent:innen nach ihrem Qualifikationsniveau beschäftigen

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Bildungsstruktur der Bevölkerung im Haupterwerbsalter (25 – 64 Jahre) stark verändert. Während 1994 der Anteil der Personen mit maximal Pflichtschulabschluss bei 32 % lag, hat sich dieser bis 2015 bereits auf 15 % reduziert. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil jener Personen mit einem Hochschulabschluss von 8 % auf 17 % gestiegen. Die zukünftigen Arbeitskräfte sind somit immer höher gebildet.

Diese Bildungsexpansion ging jedoch nicht Hand in Hand mit der Veränderung der Aufgaben, welche Lehrabsolvent:innen, Personen mit BHS oder AHS Matura in Betrieben übernehmen. Die Chance, Führungspositionen zu übernehmen, hat sich für Absolvent:innen dieser Ausbildungsschienen verschlechtert. Dies gilt insbesondere für Absolvent:innen einer Lehre. Diese wurden seit 1994 nicht nur aus dem Bereich der Führungskräfte verdrängt, sondern müssen auch zunehmend Aufgaben von Hilfsarbeitskräften übernehmen. Während der Anteil der Führungskräfte mit Lehrabschluss 1994 noch bei 6,2 % lag, hat sich dieser auf 3,8 % 2015 verringert. Die Quote an Lehrabsolvent:innen, die Hilfsarbeiten übernahmen, stieg zwischen 1994 und 2015 sogar um 7,7 %.

Die Zahlen zeigen: Viele Personen werden unter ihrem Qualifikationsniveau beschäftigt. Unternehmen sind gut beraten, die bereits ausgebildeten Fachkräfte in ihren Personalstrukturen zu erkennen und diese an den passenden Stellen einzusetzen.

4. Innerbetriebliche Weiterbildungspolitik ausbauen

Nicht zuletzt durch die Digitalisierung und die ökologischen Transformationsprozesse verändert sich der Arbeitsmarkt rasant und damit auch die Anforderungen an und Fertigkeiten von Arbeitnehmer:innen in Berufen. Diese Effekte des Strukturwandels haben die Bedeutsamkeit der betrieblichen Weiterbildung in den letzten Jahren deutlich erhöht.

Gleichzeitig zeigen aktuelle Studien, dass (1) die betriebliche Weiterbildung in Österreich rückläufig ist, und es (2) vielen Unternehmen an einer professionalisierten Weiterbildungspolitik fehlt. Häufig sind eine für Weiterbildung verantwortliche Person oder Einheit nicht vorhanden; es fehlt an Budget für Weiterbildungen oder regelmäßig durchgeführte Bedarfsanalysen über die benötigten Kompetenzen im Betrieb bleiben aus.

Die bestehenden Möglichkeiten der betriebsinternen Aus- und Weiterbildung könnten ein starker Hebel in Richtung Abdeckung des Fachkräftebedarfs sein.

Conclusio

Aus bildungspolitischer Sicht können also verschiedene Hebel betätigt werden, um der derzeitig hohen Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften nachzukommen:

  • Unternehmen können in Jugendliche investieren, die sich für eine Lehre interessieren. Die Daten zeigen, dass es mehr Jugendliche gibt, die eine Lehre machen wollen, als offene Lehrstellen.
  • Die schulischen Grundkompetenten müssen stärker in den Fokus gerückt werden. Diese sind in den letzten zwei Jahrzenten zwar nicht – wie oft behauptet – gesunken, aber es müssen Maßnahmen im Bildungssystem gesetzt werden, um die Zahl der Risikoschüler:innen zu senken. Der AK-Chancen-Index zeigt, wie es möglich ist. So bekommen alle ihre Chance und wir schaffen bessere Lernbedingungen für jedes Kind.
  • Unternehmen sollen ihre Mitarbeiter:innen nach ihrem Qualifikationsniveau beschäftigen. Es gibt derzeit mehr Fachkräfte in den Betrieben, die keine Fachkräfte-Stellen besetzen.
  • Die betriebliche Weiterbildung muss forciert werden, um allen Arbeitnehmer:innen und somit den Betrieben das Rüstzeug zu geben, in der Transformation der Arbeitswelt zu bestehen.

Ergänzend zu den oben dargestellten Lösungsvorschlägen sind die Hebung der Möglichkeiten zur Erwerbsbeteiligung (Stichwort „Stille Reserve“) und Maßnahmen, wie die Ausweitung der Verfügbarkeit von leistbarer frühkindlicher Bildung, zu nennen.